Titel:
Unwirksame Zustellung der Ladung zur Anhörung an einen irakischen Asylbewerber in einer Gemeinschaftsunterkunft
Normenketten:
AsylG § 25, § 33
ZPO § 180, § 181
Leitsätze:
1. Ein Asylbewerber besitzt für einen vorläufigen Rechtsschutzantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Einstellung des Asylverfahrens wegen Nichtbetreibens nach § 33 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AsylG ein Rechtsschutzbedürfnis, da sich die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeantrags nach § 33 Abs. 5 AsylG im Vergleich zur gerichtlichen Entscheidung über die Verfahrenseinstellung nicht als gleichwertig darstellt, da nicht sichergestellt ist, dass der Antragsteller andernfalls keine Nachteile erleidet (VG Ansbach BeckRS 2020, 7685). (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Die gesetzliche Vermutung des Nichtbetreibens des Verfahrens aufgrund Nichterscheinens zur Anhörung als Grundlage der Rücknahmefiktion setzt voraus, dass der jeweilige Antragsteller zur Anhörung aufgefordert worden ist. (Rn. 25) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Die Ersatzzustellung mittels Einlegung in einen zur Wohnung gehörenden Briefkasten nach § 180 ZPO ist bei einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber bereits begrifflich ausgeschlossen. Denn die Wohnung des Asylbewerbers iSv § 180, § 181 ZPO ist nicht die Gemeinschaftsunterkunft als solche, sondern das Zimmer der Gemeinschaftsunterkunft, das dem jeweiligen Asylbewerber zugewiesen wurde und in dem er schläft (VG Bayreuth BeckRS 2018, 24071). (Rn. 27) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
vorläufiger Rechtsschutz, Irak, Rücknahmefiktion, Nichterscheinen zur Anhörung, Zustellung in einer Gemeinschaftsunterkunft, irakischer Asylbewerber, Gemeinschaftsunterkunft, Anhörung, Ladung, Ersatzzustellung, Postzustellungsurkunde, Nichtbetreibensfiktion
Fundstelle:
BeckRS 2022, 42129
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (Az.: Au 9 K 22.31047) gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. Oktober 2022 (Gz.: ...) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
Die Antragsteller wenden sich im Wege vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Behandlung ihrer Asylanträge in der Bundesrepublik Deutschland als zurückgenommen sowie eine Abschiebungsandrohung in den Irak bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat.
2
Die Antragsteller sind irakische Staatsangehörige mit kurdischer Volkszugehörigkeit und muslimisch-sunnitischem Glauben.
3
Ihren Angaben zufolge reisten sie am 31. Oktober 2021 erstmalig in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie unter dem 13. Dezember 2021 Asylerstanträge stellten. Eine Beschränkung der Asylanträge gemäß § 13 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) erfolgte im Verfahren nicht.
4
Am 13. Dezember 2021 wurden die Antragsteller in die Gemeinschaftsunterkunft ...straße, ... (...) umverteilt.
5
Mit Schreiben vom 18. August 2022 wurde den Antragstellern vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) der Termin zur persönlichen Anhörung im Asylverfahren (21.September.2022) mitgeteilt.
6
Ausweislich der Postzustellungsurkunde wurde am 20. August 2022 ein Zustellungsversuch an die Antragsteller betreffend die Ladung zur persönlichen Anhörung vorgenommen. Weil die Übergabe des Schriftstücks in der Wohnung nicht möglich war, wurde hierbei das Schriftstück (Ladung) im Wege der Ersatzzustellung in den zur Einrichtung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt. Auf die Postzustellungsurkunde vom 20. August 2022 wird ergänzend verwiesen.
7
Zur persönlichen Anhörung am 21. September 2022 sind die Antragsteller nicht erschienen.
8
Mit Bescheid des Bundesamts vom 10. Oktober 2022 (Gz.: ...) wurden die Asylanträge der Antragsteller als zurückgenommen behandelt und die Asylverfahren eingestellt (Nr. 1 des Bescheids). Nr. 2 des Bescheids bestimmt weiter, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen. In Nr. 3 des Bescheids werden die Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde den Antragstellern die Abschiebung in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Nr. 4 des Bescheids ordnet das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1
AufenthG an und befristet es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
9
Zur Begründung seiner Entscheidung führt das Bundesamt u.a. aus, dass die Asylanträge als zurückgenommen gelten, da die Antragsteller die Asylverfahren nicht betreiben würden. Daher sei festzustellen, dass die Asylverfahren eingestellt sind (§ 32 Asylgesetz - AsylG). Die Antragsteller seien der Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25 AsylG nicht nachgekommen. Daher werde gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2 AsylG vermutet, dass sie die Verfahren nicht betreiben. Ein Nachweis, dass das Versäumnis auf Umstände zurückzuführen sei, auf die die Antragsteller keinen Einfluss hätten, wurde bis zur Entscheidung nicht eingereicht. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die Abschiebungsandrohung sei gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 38 Abs. 2 AsylG. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot werde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Diese Befristung sei vorliegend angemessen.
10
Auf den weiteren Inhalt des Bescheids des Bundesamts vom 10. Oktober 2022 wird ergänzend verwiesen.
11
Die Antragsteller haben gegen den vorbezeichneten Bescheid mit am 24. Oktober 2022 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg eingegangenem Schreiben Klage erhoben (Az. Au 9 K 22.31047) über die noch nicht entschieden worden ist.
12
Ebenfalls mit Schreiben vom 21. Oktober 2022 (Eingang bei Gericht am 24.10.2022) haben die Antragsteller beantragt,
13
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
14
Das Bundesamt hat dem Gericht die einschlägige Verfahrensakte vorgelegt; ein Antrag wurde nicht gestellt.
15
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Antragsgegnerin vorgelegte Verfahrensakte verwiesen.
16
Der zulässige Antrag ist begründet. Vorliegend bestehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des mit der Klage (Az.: Au 9 K 22.31047) angegriffenen Bescheids des Bundesamts vom 10. Oktober 2022 (Gz.: ...), mit dem die Asylanträge der Antragsteller als zurückgenommen gelten und deren Asylverfahren eingestellt und den Antragstellern die Abschiebung in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht wurde. Damit fällt die vom Gericht vorzunehmende Interessenabwägung zu Lasten der Antragsgegnerin aus.
17
1. Der Antrag ist zulässig.
18
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist statthaft. Die in der Hauptsache fristgerecht erhobene Anfechtungsklage hat gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung, da kein Fall des § 38 Abs. 1 AsylG vorliegt, sondern sich die Ausreisefrist aufgrund der angenommenen Rücknahme der Asylanträge aus § 38 Abs. 2 AsylG ergibt.
19
Der Antrag wurde auch fristgerecht innerhalb der zweiwöchigen Klage- und Antragsfrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG gestellt.
20
Es spricht auch viel dafür, dass die Antragsteller ein Rechtsschutzbedürfnis haben, da die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeantrages nach § 33 Abs. 5 AsylG in Vergleich zu einer gerichtlichen Entscheidung über Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides nicht gleichwertig ist, da nicht sichergestellt ist, dass die Antragsteller andernfalls keine Nachteile erleiden (vgl. hierzu VG Ansbach, B.v. 25.3.2020 - AN 4 S 20.30214 - juris Rn. 20; VG Würzburg, B.v. 15.1.2020 - W 8 S 20.30022 - juris Rn. 13).
21
2. Der Antrag ist begründet, da die vom Gericht nach summarischer Überprüfung von Sach- und Rechtslage vorzunehmende Interessenabwägung vorliegend zu Lasten der Antragsgegnerin ausfällt.
22
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eine eigene, originäre Ermessensentscheidung, bei der es zwischen dem in § 75 AsylG vorgesehenen öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheides und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage abwägt. Wesentliches - aber nicht alleiniges - Kriterium für die Interessenabwägung ist die Erfolgsaussicht des Hauptsacheverfahrens. Diese ist in einer im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage zu ermitteln. Ergibt die summarische Prüfung, dass der angefochtene Bescheid rechtswidrig ist und das Hauptsacheverfahren damit voraussichtlich Erfolg haben wird, überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, denn an der Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes kann kein öffentliches Interesse bestehen. Erweist sich der Bescheid hingegen als voraussichtlich rechtmäßig und das Hauptsacheverfahren damit als voraussichtlich erfolglos, überwiegt das öffentliche Vollziehungsinteresse, dem der Gesetzgeber in Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO generell den Vorrang eingeräumt hat, wenn nicht ausnahmsweise besondere Umstände des Einzelfalls eine abweichende Entscheidung rechtfertigen (BayVGH, B. v. 4.12.2019 - 15 CS 19.2048 - juris Rn. 21).
23
Gemessen an diesen Grundsätzen überwiegt vorliegend das private Aussetzungsinteresse der Antragsteller gegenüber dem Interesse der Antragsgegnerin an einer sofortigen Vollziehung des Bescheids. Vorliegend bestehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des mit der Klage angegriffenen Bescheids des Bundesamts vom 10. Oktober 2022. Vorliegend spricht vieles dafür, dass die Antragsgegnerin das Asylverfahren der Antragsteller zu Unrecht eingestellt und damit die Antragsteller in ihren Rechten verletzt hat.
24
Nach § 33 Abs. 1 AsylG gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Nach § 33 Abs. 2 Nr. 1 AsylG wird vermutet, dass der Ausländer das Verfahren nicht betreibt, wenn er einer Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25 AsylG nicht nachgekommen ist und er nicht unverzüglich nachweist, dass das jeweilige Versäumnis auf Umstände zurückzuführen ist, auf die er keinen Einfluss hatte.
25
Die gesetzliche Vermutung des Nichtbetreibens des Verfahrens aufgrund Nichterscheinens zur Anhörung als Grundlage der Rücknahmefiktion setzt voraus, dass der jeweilige Antragsteller zur Anhörung aufgefordert worden ist. Hieran bestehen vorliegend erhebliche Zweifel, da den Antragstellern die Ladung zur persönlichen Anhörung voraussichtlich nicht wirksam zugestellt wurde.
26
Da sich das Bundesamt entschieden hat, den Bescheid förmlich zuzustellen, sind gemäß § 41 Abs. 5 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) für die „Bekanntgabe“ des Bescheids die Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) maßgebend. Für die gewählte Zustellung durch die Post mit Postzustellungsurkunde gelten nach § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZVG die §§ 177 bis 182 Zivilprozessordnung (ZPO) entsprechend.
27
Hier wurde die Ladung am 20. August 2022 ausweislich der Postzustellungsurkunde in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt. Dies genügt den gesetzlichen Vorgaben bei der Zustellung an Asylbewerber, die sich in einer Gemeinschaftsunterkunft befinden, nicht den gesetzlichen Vorgaben. Die hier gewählte Ersatzzustellung mittels Einlegung in einen zur Wohnung gehörenden Briefkasten (§ 180 ZPO) ist bei einer Gemeinschaftsunterkunft bereits begrifflich ausgeschlossen. Die Wohnung des Asylbewerbers in einer Gemeinschaftsunterkunft im Sinne der §§ 180, 181 ZPO ist nämlich nicht die Gemeinschaftsunterkunft als solche, sondern das Zimmer in der Gemeinschaftsunterkunft, das dem jeweiligen Asylbewerber zugewiesen wurde und in dem er schläft (VG Bayreuth, U.v. 5.6.2018 - B 7 K 17.32410 - BeckRS 2018, 24071 Rn. 25; VG München, B.v. 10.7.2017 - 10 S 17.40312 - BeckRS 2017, 121314 Rn. 16; BayVGH, B.v. 22.4.2002 - 15 ZB 01.30409 - juris).
28
Der Postzustellungsurkunde ist ebenfalls nicht zu entnehmen, warum eine vorrangige Ersatzzustellung in der Gemeinschaftseinrichtung auf der Grundlage des § 178 ZPO, welcher über die Vorschrift des § 10 Abs. 5 AsylG Anwendung findet, nicht vorgenommen werden konnte. Auch eine Ersatzzustellung mittels Niederlegung gemäß § 10 Abs. 5 AsylG i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 3 ZPO wurde offensichtlich nicht in Erwägung gezogen.
29
Da sich eine ordnungsgemäße Zustellung der Ladung an die Antragsteller zur persönlichen Anhörung mithin nicht nachweisen lässt, erfolgte die Verfahrenseinstellung voraussichtlich nicht rechtmäßig. Die in der Sache gebotene Interessenabwägung geht deshalb zu Lasten der Antragsgegnerin.
30
Auf den Antrag der Antragsteller war daher die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren Au 9 K 22.31047 antragsgemäß anzuordnen.
31
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.