Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 09.11.2022 – Au 9 K 22.30849
Titel:

Erfolglose Klage auf Feststellung nationaler Abschiebungsverbote (Irak, Blutrache, humanitäre Situation)

Normenketten:
EMRK Art. 3
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsätze:
1. Eine durch Blutracheabsichten einer anderen Familie bzw. einer Sippe entstehende Gefährdung kann im rechtlichen Ausgangspunkt im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG Relevanz erlangen. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG ist nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden und/oder existenzbedrohenden Zuständen, dh bei existentiellen Gesundheitsgefahren (Anschluss an BayVGH BeckRS 2015, 50384). (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Irak, Beschränkung der Klage auf die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten, Abschiebungsverbote (verneint), befürchtete Blutrache, keine landesweite Gefährdung erkennbar, Abschiebungsverbot, Blutrache, humanitäre Situation, wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustands
Fundstelle:
BeckRS 2022, 42128

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Kläger begehren mit ihrer Klage zuletzt die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat.
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Die am ... 1975 in ... (Irak) geborene Klägerin zu 1, der am ... 2005 in ... (Irak) geborene Kläger zu 2, der am ... 2009 in ... (Irak) geborene Kläger zu 3 und die am ... 2014 in ... (Irak) geborene Klägerin zu 4 sind sämtlich irakische Staatsangehörige mit kurdischer Volkszugehörigkeit und muslimischem Glauben.
3
Ihren Angaben zufolge reisten die Kläger erstmalig am 28. Oktober 2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie unter dem 10. Januar 2022 Asylerstanträge stellten. Eine Beschränkung der Asylanträge gem. § 13 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) erfolgte im Verfahren nicht.
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Die persönliche Anhörung der Klägerin zu 1 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) erfolgte am 28. April 2022. Die Klägerin zu 1 trug hierbei im Wesentlichen vor, dass ein junger Mann ihre älteste Tochter ... habe heiraten wollen. Ein Cousin des Ehemannes der Klägerin zu 1 habe sich hiergegen gewandt, da er die Tochter selbst habe heiraten wollen, was diese aber abgelehnt habe. Der Cousin habe deshalb Schwierigkeiten bereitet und den Verlobten der Tochter ... zusammengeschlagen. Insgesamt habe man die Familie wegen der Ablehnung der Ehe der Tochter mit dem Cousin ihres Vaters über einen Zeitraum von 1,5 Jahren bedroht. Der älteste Sohn habe für die Klägerin zu 1 einen Schleuser organisiert. Zur Finanzierung seien Haus und Auto verkauft worden. Der Ehemann der Klägerin zu 1 sei wegen des Verkaufs im Irak geblieben und später geflohen, jedoch habe ihn Bulgarien in den Irak zurückgeschoben. Im Irak befänden sich jetzt noch zwei weitere verheiratete Töchter, ein Sohn und der Ehemann der Klägerin zu 1. Der Sohn und der Ehemann würden sich in ... aufhalten. Für das weitere Vorbringen der Klägerin zu 1 wird auf die über die Anhörung gefertigte Niederschrift des Bundesamts verwiesen.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 21. Juli 2022 (Gz.: 8595059-438) wurden die Anträge der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. auf Asylanerkennung abgelehnt (Nr. 1. und 2. des Bescheids). Nr. 3. des Bescheids bestimmt weiter, dass den Klägern auch der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt wird. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) liegen nicht vor (Nr. 4.). In Nr. 5. werden die Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde den Klägern die Abschiebung in den Irak angedroht. Weiter wurde bestimmt, dass die Kläger auch in einen anderen Staat abgeschoben werden können, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist. Nr. 6. des Bescheids ordnet das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristet es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung seiner Entscheidung führt das Bundesamt aus, dass bei den Klägern die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlägen. Die Kläger seien keine Flüchtlinge i.S.d. § 3 AsylG. Auch die Voraussetzungen für Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Abschiebungsverbote seien ebenfalls nicht gegeben. Eine Abschiebung sei gem. § 60 Abs. 5 AufenthG unzulässig, wenn sich dies aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergebe. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzung des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllen. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass eine Abschiebung der Kläger eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Kläger sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nicht beachtlich. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundfreiheiten der EMRK komme nicht in Betracht. Es drohe den Klägern auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führe. Die Abschiebungsandrohung sei gem. § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergebe sich aus § 38 Abs. 1 AsylG. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot werde gem. § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Die Befristung auf 30 Monate sei im vorliegenden Fall angemessen. Die Kläger verfügten im Bundesgebiet über keine wesentlichen Bindungen, die im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen gewesen seien.
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Auf den weiteren Inhalt des Bescheids des Bundesamts vom 21. Juli 2022 wird ergänzend verwiesen.
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Der vorbezeichnete Bescheid wurde den Klägern mit Postzustellungsurkunde am 26. Juli 2022 bekanntgegeben.
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Die Kläger haben gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 5. August 2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und zunächst beantragt, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zu gewähren, den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und hilfsweise festzustellen, dass in der Person der Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Kläger keine Zukunftsperspektive im Irak hätten.
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Das Bundesamt ist für die Beklagte der Klage mit Schriftsatz vom 19. August 2022 entgegengetreten und beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde auf die mit der Klage angegriffene Entscheidung verwiesen.
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Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 22. September 2022 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2022 wurde die Klage bezüglich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und der Feststellung des subsidiären Schutzstatus zurückgenommen und die Klage auf das Vorliegen von nationalen Abschiebungsverboten in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat beschränkt.
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Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 11. Oktober 2022 wurde vom Verfahren Au 9 K 22.30849 der Verfahrensteil betreffend die beantragte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Klärung subsidiären Schutzes abgetrennt und das Verfahren insoweit unter dem Az.: Au 9 K 22.31004 fortgeführt und das Verfahren Au 9 K 22.31004 eingestellt.
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Mit weiterem Gerichtsbeschluss vom 12. Oktober 2022 wurde den Klägern für den verbliebenen Verfahrensteil (Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten) Prozesskostenhilfe unter Rechtsanwaltsbeiordnung bewilligt.
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Am 7. November 2022 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung, in der die Klägerin zu 1 informatorisch angehört wurde, wird auf das hierüber gefertigte Protokoll verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Beklagten vorgelegte Verfahrensakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Kläger verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 7. November 2022 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweisliche der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung vom 7. November 2022 form- und fristgerecht geladen worden.
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Die mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2022 auf die Aufhebung der Nrn. 4 bis 6 des streitgegenständlichen Bescheids des Bundesamts vom 21. Juli 2022 (Gz.: ...) und auf die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG beschränkte Klage ist zulässig, bleibt in der Sache aber ohne Erfolg. Die Kläger besitzen keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG, sodass sich der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamts in den Nrn. 4 bis 6 als rechtmäßig erweist und nicht geeignet ist, die Kläger in ihren Rechten zu verletzen.
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Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt zugunsten der Kläger nicht vor.
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Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2018 - 13a B 18.30632 - juris Rn. 26; BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 25).
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Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
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Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2018 - 13a B 18.30632 - juris Rn. 26). Dies ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger nichtstaatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will (EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681). Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt und „nichtstaatliche“ Gefahren für Leib und Leben im Zielgebiet aufgrund prekärer Lebensbedingungen vorliegen, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK als unmenschliche Behandlung zu qualifizieren sein (BVerwG, U.v. 13.06.2013 - 10 C 13.12 - Rn. 24 f.; VGH BW, U.v. 24.07.2013 - A 11 S 697/13 - juris Rn. 79 ff.).
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Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist - wie im Rahmen von §§ 3 ff. und § 4 AsylG - der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, aber auch ausreichend, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen dabei ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreichen; diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 11). Bei „nichtstaatlichen“ Gefahren für Leib und Leben ist ein sehr hohes Gefahrenniveau erforderlich ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 21.11.2018 - 13a B 18.30632 - juris Rn. 27 m.w.N.). Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 26). Ausgangspunkt für die Gefahrenprognose ist eine möglichst realitätsnahe, wenngleich notwendig hypothetische Rückkehrsituation. Erforderlich ist eine Gesamtschau und auf den konkreten Einzelfall bezogene Prüfung unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte und persönlicher und familiärer Umstände. Relevant kann dabei sein, ob die Person in der fraglichen Region eine familiäre Anbindung hat. Bei der Prüfung, ob der Abschiebung eines erfolglosen Asylbewerbers Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegenstehen, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bei der Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle einer Abschiebung in den Heimatstaat drohen, bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris Rn. 16).
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Zwar kann eine durch Blutracheabsichten einer anderen Familie bzw. einer Sippe entstehende Gefährdung im rechtlichen Ausgangspunkt im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG Relevanz erlangen. Auch dürfte in tatsächlicher Hinsicht davon auszugehen sein, dass die Praxis der Blutrache in den ländlichen Gegenden des Nordiraks auch heute noch verbreitet ist und insoweit eine kollektive Bestrafung für ein Fehlverhalten einer anderen Familie erstrebt wird. Selbst wenn man jedoch das klägerische Vorbringen als glaubhaft erachtet, fehlen tragfähige Grundlagen für die Annahme, dass bei einer Rückkehr der Kläger im Familienverbund in den Irak eine nach § 60 Abs. 5 AufenthG erforderliche landesweite konkrete Gefährdung besteht. Für die aus dem Nordirak (...) stammenden Kläger würde sich der übrige Nordirak (Region Kurdistan), aber auch der Zentralirak als eine grundsätzlich zumutbare inländische Fluchtalternativ (vgl. § 3e AsylG) darstellen. Für die Zumutbarkeit spricht, dass die Kläger im Irak noch über Familienangehörige - zwei verheiratete Töchter in der Region ... - verfügen und auch denklogisch naheliegt, dass der sich derzeit in der Türkei mit einem weiteren Kind aufhaltende Ehemann der Klägerin zu 1 mit den Klägern in den Irak zurückkehrt. Auch außerhalb der Region ... dürfte für die Kläger die Erwirtschaftung des Existenzminimums - unter Umständen auch mit familiärer Unterstützung - möglich sein, nachdem sich insbesondere auch der Ehemann der Klägerin schon bislang im Irak beruflich betätigt hat. Zumal nach den Aussagen der Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung der Ehemann selbständig im An- und Verkauf von Kraftfahrzeugen (PKW) als auch mit dem Betrieb eines Bus-Pendlerdienstes tätig war. Hinzu kommt, dass auch der im Jahr 2005 geborene Kläger zu 2 sich mittlerweile in einem nahezu erwerbsfähigen Alter befindet. In Bezug auf die Veräußerung des bisher bewohnten Anwesens zur Finanzierung der Ausreise sind die Kläger auf die Inanspruchnahme staatlich gewährter Rückkehrhilfen zu verweisen. Vor diesem Hintergrund kann von den Klägern bei einer Rückkehr in den Irak erwartet werden, dass sie einer eventuellen fortbestehenden Bedrohungssituation in der Heimatregion ausweichen und sich an einem anderen Ort im Nord- bzw. Zentralirak niederlassen.
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Demnach bestehen für das Gericht keine ernstlichen Zweifel daran, dass bei den Klägern kein außergewöhnlicher Fall vorliegt, bei dem die humanitären Gründe gegen eine Abschiebung zwingend sind. Bei einer Gesamtschau der Lebensverhältnisse der Kläger vor ihrer Ausreise und der Annahme einer realitätsnahen Rückkehrsituation ist auch unter Berücksichtigung der zweifellos schwierigen wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Bedingungen, die für den Großteil der Bevölkerung des Irak bestehen, die Befürchtung nicht gerechtfertigt, die Kläger könnten im Falle der Rückkehr in den Irak keine zumindest auf niedrigem Niveau gesicherte Lebensgrundlage haben bzw. erreichen.
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Insgesamt liegen daher die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte und Grundfreiheiten der EMRK kann angesichts des Vortrags der Klägerin zu 1 und der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln nicht festgestellt werden.
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Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind ebenfalls nicht ersichtlich.
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Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Unerheblich ist dabei, von wem die Gefahr ausgeht und auf welchen Umständen sie beruht. Für die Annahme einer „konkreten“ Gefahr im Sinne dieser Vorschrift genügt aber nicht die bloße Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die geschützten Rechtsgüter zu werden. Vielmehr ist insoweit der Maßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ anzuwenden und zwar unabhängig davon, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. „Konkret“ ist die Gefahr, wenn die Verschlechterung „alsbald“ nach der Rückkehr des Betroffenen in den Heimatstaat einträte, weil er dort auf unzureichende Möglichkeiten der Behandlung seiner Leiden träfe und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (vgl. BVerwG, U.v. 25.11.1997 - 9 C 58/96 - juris Rn. 13; U.v. 22.3.2012 - 1 C 3/11 - juris Rn. 34; OVG NW, U.v. 18.1.2005 - 8 A 1242/03.A - juris Rn. 53; BayVGH, B.v. 23.5.2017 - 9 ZB 13.30236 - juris Rn. 28). Zudem muss eine auf den Einzelfall bezogene, individuell bestimmte und erhebliche, also auch alsbald nach der Rückkehr eintretende Gefährdungssituation vorliegen und es muss sich um Gefahren handeln, die dem Ausländer landesweit drohen, denen er sich also nicht durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann.
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Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen allgemein ausgesetzt ist bzw. sind, werden indes allein bei Entscheidungen über eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Allgemeine Gefahren in diesem Sinn unterfallen § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG selbst dann nicht, wenn sie den Einzelnen konkret und individualisierbar zu treffen drohen. Angesichts der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG kann ein Ausländer daher in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nur dann beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr in sein Heimatland aufgrund der dortigen Existenzbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre oder sonst eine individuelle existenzielle Gefahr für ihn besteht. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG), ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 zu gewähren. Die Abschiebung muss somit ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgeliefert würde und sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren würden.
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Somit gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage aber keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also - wie hier - die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
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Auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen liegen nicht vor. Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen liegt dabei nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst also nur einzelfallbezogene, individuell bestimmte Gefährdungssituationen. Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist also nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden und/oder existenzbedrohenden Zuständen, d.h. bei existentiellen Gesundheitsgefahren (vgl. BayVGH, B.v. 12.8.2015 - 11 ZB 15.30054 - juris Rn. 10; OVG NW, B.v. 30.12.2004 - 13 A 1250/04.A - juris Rn. 56).
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Im Verfahren haben die Kläger nichts vorgetragen, was die Annahme eines Abschiebungsverbots auf der Grundlage des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG rechtfertigen könnte. Gesundheitliche Einschränkungen wurden für die Kläger nicht geltend gemacht. In der mündlichen Verhandlung vom 7. November 2022 hat die Klägerin zu 1 vielmehr erklärt, dass bei keinem der Kläger gesundheitliche Einschränkungen vorlägen.
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Die Ausreiseaufforderung und die gleichzeitig erfolgte Abschiebungsandrohung gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG, § 38 Abs. 1 AsylG begegnen keinen rechtlichen Bedenken. Gleiches gilt für die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf der Grundlage des § 11 Abs. 1, 2 AufenthG. Das Bundesamt hat insoweit das ihm zukommende Ermessen erkannt und dieses im Rahmen der eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung nach § 114 VwGO ordnungsgemäß ausgeübt.
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Nach allem war die Klage daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren unterlegen haben die Kläger die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.