Titel:
Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots
Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist davon auszugehen, dass ein Rückkehrer aus dem westlichen Ausland angesichts der derzeitigen Verhältnisse in Afghanistan nicht imstande sein wird, seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene auf legalem Weg zu sichern, zumal in der Folge der Machtübernahme durch die Taliban die Rückkehrhilfen ab dem 17. August 2021 bis auf Weiteres „eingefroren“ wurden. (Rn. 16 – 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Afghanistan, Machtübernahme durch die Taliban, Teilklagerücknahme, Schriftliches Verfahren, Abschiebungsverbot bejaht, Abschiebungsverbot, Existenzminimum, Rückkehrhilfe
Fundstelle:
BeckRS 2022, 42114
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12.4.2017 wird in den Nummern 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger 5/6 und die Beklagte 1/6.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt die Feststellung eines Abschiebungsverbots im Hinblick auf Afghanistan.
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Er ist im … 1997 geboren, afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben im November 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein, stellte dort am 2. August 2016 einen Asylantrag und wurde vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angehört.
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Mit Bescheid vom 12. April 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1.) und auf Asylanerkennung (Ziff. 2.) sowie auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziff. 3.) ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von dreißig Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen Staat angedroht, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist (Ziff. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 6.). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Am … April 2017 erhob der Kläger beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage und beantragt unter Klagerücknahme im Übrigen zuletzt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
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Die Beklagte legte die Akten vor und beantragt
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Der Kläger legte im Laufe des Verfahrens zahlreiche psychiatrische Gutachten vor und es wurde zuletzt am 11. Mai 2022 eine Betreuerin für ihn bestellt.
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Am 3. Dezember 2019 wurde zur Sache mündlich verhandelt und die Parteien verzichteten auf weitere mündliche Verhandlung.
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Mit Beschluss vom 6. November 2019 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der sonstigen Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage konnte mit Einverständnis der Parteien ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
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Soweit die Klage zurückgenommen wurde (Asylberechtigung, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes), ist das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).
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Die zulässige Klage ist hinsichtlich des nationalen Abschiebungsverbotes des § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) begründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 HS. 2 Asylgesetz - AsylG) gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Abschiebungsandrohung im streitgegenständlichen Bescheid nach Afghanistan sowie das festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot erweisen sich insoweit als rechtswidrig und sind damit aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Ein Ausländer darf nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S.685; Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Umfasst wird davon auch das hier allein noch streitgegenständliche Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.v. Art. 3 EMRK droht (vgl. BVerwG, U.v.4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris Rn. 11). Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden ergeben (BVerwG, U.v.31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12).
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Soweit ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 11). Der EuGH stellt in seiner neueren Rechtsprechung zu Art. 4 Grundrechte-Charta darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 89 ff.). Diese Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 26.10.2020 - 13a B 20.31087- juris Rn. 21; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 - juris Rn. 51; BVerwG, B.v. 13.2.2019 - 1 B 2.19 - juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.6.2019 - 13 A 3930/18 - juris Rn. 111f.).
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Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich, aber auch ausreichend, ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - juris Rn. 22). Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 26; BayVGH, U.v. 26.10.2020 - 13a B 20.31087- juris Rn. 22; OVG NW, U.v. 18.6.2019 - 13 A 3930/18 - juris Rn. 43 ff.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 - juris Rn. 43). In zeitlicher Hinsicht kommt es dabei auf die absehbare Zeit nach der Rückkehr an. Es ist nicht erforderlich, dass das Existenzminimum des Klägers in seinem Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist. Maßstab für die Gefahrenprognose ist vielmehr, ob der Kläger nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährten Rückkehrhilfen, in der Lage ist, die oben genannten elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 - 1 C 10.21, Pressemitteilung Nr. 25/2022).
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2. Hiervon ausgehend droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung. Die erkennende Einzelrichterin ist davon überzeugt, dass der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und angesichts der derzeitigen Verhältnisse in Afghanistan nicht imstande sein wird, seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene auf legalem Weg zu sichern.
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2.1. Die wirtschaftliche und damit einhergehende humanitäre Situation in Afghanistan ist aktuell und auf unabsehbare Zeit, vor allem für Rückkehrer, besorgniserregend.
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Die wirtschaftliche und humanitäre Lage der Bevölkerung in Afghanistan war bereits vor der Machtübernahme der Taliban in besorgniserregendem Maß schlecht. Dennoch war in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in der Zeit vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 davon auszugehen, dass trotz der Covid-19-Pandemie für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende volljährige, alleinstehende und arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige angesichts der damaligen Auskunftslage im Allgemeinen weiterhin nicht von einer Gefahrenlage auszugehen war, die ohne Weiteres zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG oder eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde; ein junger und gesunder Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen sei trotz der Covid-19-Pandemie weiterhin in der Lage, in Afghanistan das Existenzminimum zu erwirtschaften. Dies gelte auch für arbeitsfähige Männer ohne nennenswertes Vermögen und ohne stützendes Netzwerk in Afghanistan. Auch auf einen vorherigen Aufenthalt im Heimatland komme es nicht an, es sei vielmehr ausreichend, dass eine Verständigung in einer der Landessprachen möglich ist. (BayVGH, U.v. 7.6.2021 - 13a B 21.30342 - juris Rn. 47; B.v. 5.1.2021 - 13a ZB 20.30103 - mit Verweis auf U.v. 26.10.2020 - 13a B 20.31087 - juris Rn. 23). Zwar zähle Afghanistan zu einem der ärmsten Länder der Welt und sei auch von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie schwer getroffen. Neben einem für die zweite Jahreshälfte 2021 erwarteten Preisrückgang durch die neue Ernte und staatlichen Programme zur Verteilung von Paketen würden humanitäre Nothilfen in beträchtlichem Ausmaß erwartet. Überdies könne auf umfangreiche Rückkehrhilfen zurückgegriffen werden, mit deren Hilfe ein Rückkehrer sein Leben jedenfalls über ein Jahr lang in Afghanistan finanzieren könne. Dazu kämen noch erhebliche Sachleistungen zur Unterstützung der Reintegration im Heimatland, wie medizinische Unterstützung, Migrationsberatung und Rehintegrationsangebote, die bei der Jobsuche, bei beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen, der Existenzgründung und sozialen Fragen - unter anderem zu Wohnung, Schule und Gesundheitsversorgung - unterstützten. Es sei danach davon auszugehen, dass ein volljähriger alleinstehender und arbeitsfähiger afghanischer Rückkehrer den Zeitraum, in dem sein Existenzminimum allein durch Rückkehrhilfen in Form von Geldleistungen sichergestellt sei, erfolgreich nutzen könne, um sich eine neue Existenzgrundlage und gegebenenfalls auch ein neues soziales Unterstützungsnetzwerken Afghanistan - gerade in Kabul - zu schaffen und insbesondere die Erschwernisse der aktuellen Covid-19-Pandemie zu überwinden.
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Diese Verhältnisse können jedoch im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr zugrunde gelegt werden. Soweit in den gerade genannten Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs die Rückkehrhilfen bei der Beurteilung der Bestreitung des Existenzminimums in Afghanistan miteinbezogen werden, ist zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 HS. 2 AsylG) zu berücksichtigen, dass in der Folge der Machtübernahme durch die Taliban die Rückkehrhilfen ab dem 17. August 2021 bis auf Weiteres „eingefroren“ wurden (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan/).
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Die erkennende Einzelrichterin ist unter Berücksichtigung der vorliegenden aktuellen Erkenntnismittel (vgl. etwa EASO Afghanistan County focus, County of Origin, Information Report, January 2022; EASO Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, November 2021; Bericht des Auswärtigen Amts über die Lage in Afghanistan v. 22.10.2021; BAMF, Briefing Notes; UNHCR, Positions on return to Afghanistan, August 2021; UNHCR Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen, Februar 2022; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 4.5.2022 und Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021; UN-OCHA, Strategic situation reports; Afghanistan analysts network, Report v. 6.9.2021; WFP, Countrywide market price bulletin) sowie der genannten Grundsätze davon überzeugt, dass der Kläger den hohen Anforderungen, denen er im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan im gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt ausgesetzt wäre, nicht gewachsen und damit ein besonderer Ausnahmefall im Sinne der oben genannten Rechtsprechung zu bejahen ist. Es ist nicht anzunehmen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten.
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Afghanistan war bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban eines der ärmsten Länder der Welt. Mit der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban über nahezu das gesamt Land, zuletzt durch die Einnahme der Stadt Kabul am 15. August 2021, und der Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan haben sich die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan in kürzester Zeit grundlegend geändert (vgl. etwa Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 28.1.2022 und Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021 und Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, 21.10.2021, S. 4), was Folgen für die humanitären Verhältnisse und hier vor allem entscheidend für die Situation von Rückkehrern, insbesondere aus westlichen Staaten, hat.
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Afghanistan ist mit einem weitreichenden wirtschaftlichen Kollaps und einer humanitären Krise von noch nie dagewesenem Ausmaß konfrontiert (UNHCR, Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen, Februar 2022, S. 1). Auch wenn die Regierung der Taliban einige kleine Schritte zur Bewältigung der Krise unternommen und teilweise die Arbeit mit NRG und UN-Organisationen aufgenommen hat (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 4.5.2022, S. 167), ist fast die Hälfte der afghanischen Bevölkerung von akuter Nahrungsunsicherheit betroffen (WFP Afghanistan, Situation Report, 23.5.2022). Betroffen sind dabei alle 34 Provinzen und die Bevölkerung in städtischen Gebieten ist ähnlich betroffen wie in den ländlichen (WFP Afghanistan, Situation Report, 2.12.2021, 24.2.2022 und 29.4.2022 und 23.5.2022).
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2.2. Bereits die durch die Machtübernahme der Taliban ausgelöste politische Instabilität und der Nachfragedruck bei Fremdwährungen führten zu einem deutlichen Anstieg des Wechselkurses und der Afghani fiel auf ein neues Rekordtief. Die ohnehin schon hohen Preise für Lebensmittel, Benzin und Holz hatten sich seit Mitte August bereits verdoppelt (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 4.10.2021 und 18.10.2021) und stiegen, obwohl die Afghanische Zentralbank den starken Fall des Werts des Afghani am 13. Dezember 2021 nach einem Sturz um fast 12% am Vortag aufhalten konnte, erneut stark an (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20.12.2021). Auch wenn Anfang Februar 2022 ein Absinken der Preise für Getreide, Mehl, Speiseöl, Reis und Zucker zu verzeichnen war, sind diese nach wie vor Schwankungen unterworfen und insgesamt signifikant höher als im Juni 2021 (WFP, Afghanistan, vam food security analysis, 07.02.2022 und etwa 12.05.2022). Das Einkommen der „einfachen Arbeiterhaushalte“ ist dagegen coronabedingt wegen eingeschränkter Erwerbsmöglichkeiten um rund 19% und anschließend aufgrund der durch die Machtübernahme ausgelösten Instabilität weiter gesunken und, auch wenn derzeit ein Gegentrend zu verzeichnen ist, auf extrem niedrigen Stand (vgl. UN-OCHA, Strategic situation report: Covid 19, No. 92, 11.3.2021, S. 3 und WFP, vam food security analysis, 30.11.2021, 07.02.2022 und 14.4.2022). Zahlreiche Haushalte, die von Gehältern im öffentlichen Dienst oder im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit oder von Tätigkeiten bei internationalen Akteuren abhängig waren, haben ihre Einkommensquellen verloren (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, 21.10.2021, S. 5 und zu alledem EASO Afghanistan County focus, County of Origin, Information Report, January 2022).
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2.3. Auch wenn dem Auswärtigen Amt keine Fälle bekannt sind, in denen Rückkehrende aus Europa nachweislich aufgrund ihres dortigen Aufenthalts Opfer von Gewalttaten wurden, wurden sie doch nach den vorliegenden Erkenntnissen bereits vor der Machtübernahme der Taliban von der afghanischen Gesellschaft teilweise misstrauisch wahrgenommen und es haftete ihnen insbesondere innerhalb ihrer Familie oftmals der Makel des Scheiterns an. Es war im Falle eines langen Aufenthalts im Ausland wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existierten oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt war, wodurch die Reintegration stark erschwert werden konnte. Die größte Schwierigkeit stellte für einen Großteil der Rückkehrer der Mangel an Arbeitsplätzen dar, da der Zugang zum Arbeitsmarkt maßgeblich von lokalen Netzwerken abhing (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan v. 15.7.2021, S. 24 und Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 4.5.2022, S. 178f).
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Auch für die Zeit seit der Machtübernahme durch die Taliban gibt es nur begrenzte Informationen, was als „verwestlicht“ angesehene Personen zu erwarten haben (vgl. EASO, country guidance, Afghanistan, common analysis and guidance note, November 2021, S. 85). Die Taliban haben zwar in öffentlichen Verlautbarungen im Ausland lebende Afghanen aufgefordert, nach Afghanistan zurückzukehren, es wird jedoch von einem negativen Bild unter Taliban-Sympathisanten und einigen Taliban-Segmenten von Leuten, die Afghanistan verlassen haben, berichtet. Diese würden als Personen angesehen, die keine islamischen Werte vertreten oder auf der Flucht vor Dingen sind, die sie getan haben. Ein „guter Muslim“ würde nicht gehen und viele, die in den Westen gingen, seinen nicht „gut genug als Muslime“. (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 4.5.2022, S. 190f). Jedenfalls aber ist davon auszugehen, dass Rückkehrende aufgrund der mit dem in (vormaligen) gewaltsamen Konflikt verbundenen Binnenflucht der Angehörigen nur in Einzelfällen über die notwendigen familiären und sozialen Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, 21.10.2021, Seite 14 und Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 4.5.2022, S. 179).
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2.4. Insgesamt hat Afghanistan mit einer steigenden Inflation, einer geschwächten Währung, steigender Arbeitslosigkeit, einer Liquiditätskrise und Verknappung essentieller Güter zu kämpfen (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, 21.10.2021, S. 6; BAMF, Briefing Notes v. 27.12.21). Zwar wurde im Rahmen der Konferenz in Oslo von den Vereinten Nationen das Transitional Engagement Framework aus der Taufe gehoben und die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen verteilt Getreidesamen an über eine Million Bauern, um den Konsequenzen der Dürre in 2021 entgegenzuwirken (BAMF, Briefing Notes, 31.1.2022, S. 3). Das UN-Welternährungsprogramm berichtet am 10. Mai 2022, dass nur ca. 7% der Bevölkerung täglich ausreichend Nahrung hätten und die Zahl der von Ernährungsunsicherheit Bedrohten aufgrund von humanitärer Hilfe und Ernten bis November leicht von 19,7 Millionen auf 18,9 Millionen zurückgehen soll. Save the Children berichtet am selben Tag, dass im Land ca. 9,6 Millionen Kinder hungern und mit Glück täglich ein Brot essen würden (BAMF, Briefings Notes, 20.5.2022, S. 2).
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2.5. Binnenvertriebene und Rückkehrer sind von der humanitären Krise mit am stärksten betroffen. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR hat aufgrund der volatilen Lage die Staaten aufgefordert, die Rückführung afghanischer Flüchtlinge so lange zu stoppen, bis sich die Sicherheitslage und die Menschenrechtsbedingungen dahin verbessert haben, dass eine sichere und menschenwürdige Rückkehr möglich ist (UNHCR, Position on returns to Afghanistan, August 2021).
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Derzeit kann schon aus tatsächlichen Gründen keine Abschiebung aus Deutschland erfolgen, die Rückführungen aus Deutschland und anderen EU-Staaten sind gegenwärtig ausgesetzt (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, 21.10.2021, S. 14). Auch die dringend erforderlichen internationalen und nationalen Hilfsleistungen zur Rückkehr und Reintegration werden auf unabsehbare Zeit ausbleiben. So musste die Internationale Organisation für Migration (IOM) aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021 und Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 4.5.2022, S. 190). Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan und der weitreichenden humanitären Notlage im Land fordert UNHCR die Staaten auch weiterhin dazu auf, zwangsweise Rückführungen auszusetzen (UNHCR, Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen, Februar 2022, S. 8). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge teilt auf seiner Website mit Stand der Entscheidung des Gerichts in diesem Verfahren mit, dass aufgrund der anhaltend schwierigen Sicherheitslage in Afghanistan eine geförderte freiwillige Rückkehr durch IOM Programme REAG/GARP sowie StarthilfePlus in Afghanistan derzeit nicht unterstützt wird (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan).
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3. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht im Hinblick auf die individuellen Umstände des Klägers. Selbst wenn es ihm im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan gelingen sollte, dort Familienangehörige ausfindig zu machen, zu erreichen und diese ihn aufnähmen, ist angesichts der desolaten Wirtschaftslage in Afghanistan zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 2. HS AsylG) nicht davon auszugehen, dass sie auch bereit und vor allem imstande sind, den Kläger zu unterstützen. Vielmehr würde von ihm als erwachsenem Mann erwartet, dass er maßgeblich zur Versorgung der Familie beiträgt und nicht, dass er auf deren Kosten lebt (vgl. VG München, U.v. 20.9.2021 - M 16 K 17.41335 - UA Rn. 46). Es ist derzeit im Ergebnis davon auszugehen, dass der Kläger in Afghanistan niemanden hat, der ihn hinreichend (finanziell) unterstützen kann oder durch Kontakte und Beziehungen den Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt erleichtern könnte.
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Auch wenn der Kläger aber ein familiäres oder auch nur soziales Netzwerk auffinden sollte, spricht derzeit wenig dafür, dass er eine bezahlte Arbeit finden wird. Der Kläger befindet sich seit über sechs Jahren in Deutschland, so dass davon auszugehen ist, dass ihm die entsprechenden Regeln, Sozial- und Verhaltenskodizes im Umgang vor Ort nicht oder jedenfalls nicht mehr in einer Weise vertraut sind, als dass er dem ihm - nun als Rückkehrer aus dem Westen - entgegengebrachten Misstrauen und den Vorurteilen durch die Bevölkerung, gegebenenfalls auch vonseiten der weiteren Familie und insbesondere potentieller Arbeitgeber etwas entgegenzusetzen hätte (vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, 11.6.2021, S. 390ff und EASO Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, November 2021, S. 85). Nach den Erkenntnissen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sind einer Umfrage zufolge 65% der Befragten arbeitslos und nur 23% der Befragten durchgehend beschäftigt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, 24.1.2022, S. 2). Das United Nations Development Program erwartet, dass sich die Arbeitslosigkeit in den nächsten zwei Jahren fast verdoppeln werde, während die Löhne Jahr für Jahr um 8 bis 10% sinken werden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 4.5.2022, A. 176). Es sei zwar den aktuellen Erkenntnissen zufolge die Arbeit von Tagelöhnern gleichgeblieben, allerdings sei es schwerer Arbeit zu finden, auch wenn im Februar 2022 die Nachfrage nach Arbeit leicht von 2,2 Tagen im Januar auf 2.3 Tage pro Woche für gelernte Arbeitskräfte und von 1,9 auf 2,2 Tage für ungelernte Arbeitskräfte gestiegen ist (Weltbank, Afghanistan economic monitor, 14.3.2022, S. 1 und auch WFP, Afghanistan, Countrywide weekly market price bulletin,14.4.2022). Vor diesem Hintergrund ist aus Sicht der erkennenden Einzelrichterin bereits unabhängig von der vorgetragenen Erkrankung nicht davon auszugehen, dass der Kläger eine bezahlte Arbeit und sei es auch nur als Tagelöhner finden wird.
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Er kann, wie bereits ausgeführt, auch nicht auf Rückkehrhilfen zurückgreifen, die neben finanziellen Hilfen für einen begrenzten Zeitraum selbst eine Unterkunft bereitstellen oder bei der Suche behilflich sind, da diese aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan seit dem 17. August 2021 ausgesetzt sind (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan/).
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Unter Zugrundelegung dieser Umstände sprechen nach Auffassung der erkennenden Einzelrichterin stichhaltige Gründe dafür, dass der Kläger seinen existenziellen Lebensunterhalt schon unabhängig von der vorgetragenen Erkrankung mit beachtlicher Sicherheit nicht an seinem ursprünglichen Heimatort und erst recht nicht an einem anderen Ort in Afghanistan wird sicherstellen können, so dass die Anforderungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu bejahen sind.
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4. Ob daneben die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140,319 Rn. 16 f.).
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5. Da der Klage hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG stattzugeben war, sind auch die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot in Nummer 5 und 6 des Bescheids aufzuheben (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG).
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6. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO und soweit die Klage zurückgenommen wurde, § 155 Abs. 2 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung und in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 - 10 B 60.08 - juris). Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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7. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung.
8. Soweit das Verfahren eingestellt wurde, ist die Entscheidung unanfechtbar (§ 80 AsylG).