Inhalt

LG Coburg, Beschluss v. 07.11.2022 – 41 T 25/21
Titel:

Keine (Abschiebungs-)Haftunfähigkeit wegen Selbstmordgefahr

Normenketten:
FamFG § 65 Abs. 4
AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, S. 3
GG Art. 2 Abs. 1
StVollzG § 88
StPO § 455
Leitsätze:
1. Die Prüfung der Zuständigkeit durch das Beschwerdegericht ist möglich, wenn das Erstgericht seine Zuständigkeit willkürlich angenommen hat. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Vorlage der vollständigen Ausländerakte ist nicht erforderlich, wenn sich der festzustellende Sachverhalt aus den vorgelegten Teilen vollständig ergibt und die nicht vorgelegten Teile keine weiteren Erkenntnisse versprechen. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
3. Abschiebungshaft kann auch angeordnet werden, wenn zum Zeitpunkt der amtsgerichtlichen Entscheidung ein konkreter Abschiebetermin noch nicht bekannt ist, die Abschiebung aber bei realistischer Betrachtung innerhalb des 3-Monats-Zeitraums erfolgen kann und der Haftzeitraum sich zudem in diesbezüglich angemessenen Grenzen hält. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
4. Selbstmordgefahr kommt als Krankheit, die eine Haftunfähigkeit begründen könnte, nicht in Betracht, da ihr mit den Mitteln des § 88 StVollzG begegnet werden kann. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
5. Zum Verstoß der Behörde gegen das Beschleunigungsgebot in Abschiebungshaftsachen mangels Förderung der Abschiebung. (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zuständigkeit, Beschwerdeverfahren, Willkür, Abschiebungshaft, Fluchtgefahr, Prognose, Selbstmordgefahr, Haftunfähigkeit, Beschleunigungsgebot
Vorinstanz:
AG Coburg, Beschluss vom 26.08.2021 – 12 XIV 10/21 (B)
Fundstelle:
BeckRS 2022, 42092

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Betroffenen in Gestalt des Feststellungsantrags vom 27.09.2021 wird festgestellt, dass der Vollzug der mit Beschluss des Amtsgerichts Coburg vom 26.08.2021, Az. 12 XIV 10/21 (B) angeordneten Freiheitsentziehung im Zeitraum vom 26.08.2021 bis 23.09.2021 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers werden der Staatskasse auferlegt.
3. Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit am 26.08.2021 beim Amtsgericht Coburg eingegangenem Schriftsatz beantragte die Regierung von Oberfranken - Zentrale Ausländerbehörde -, gegen den Betroffenen und Beschwerdeführer die Haft zur Sicherung der Abschiebung anzuordnen und diese bis 25.11.2021 ab Wirksamkeit des Beschlusses zu begrenzen. Zur Begründung trug sie vor, der Betroffene sei iranischer Staatsangehörigkeit, aserbaidschanischer Volkszugehörigkeit und christlicher Religionszugehörigkeit. Er sei eigenen Angaben zufolge am 23.01.2016 nach Deutschland eingereist.
2
Der Betroffene habe am 11.05.2016 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Anerkennung als Asylberechtigter beantragt. Das BAMF habe den Antrag des Betroffenen auf Asylanerkennung mit Bescheid vom 30.01.2017 abgelehnt. Ferner seien weder Flüchtlingseigenschaft noch subsidiärer Schutzstatus zuerkannt worden. Das BAMF habe im Bescheid vom 30.01.2017 sodann ausdrücklich festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des AufenthG nicht vorliegen würden. Dem Betroffenen sei die Abschiebung in den Iran angedroht worden.
3
Der Betroffene habe gegen diese Entscheidung am 13.02.2017 Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth eingelegt, die mit Urteil vom 07.11.2019 abgewiesen worden sei. Ein Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Berufung sei am 16.09.2020 abgelehnt worden. Die Abschiebungsandrohung sei damit seit dem 16.09.2020 vollziehbar, nach Ablauf der gewährten Ausreisefrist von 30 Tagen sei die Ausreiseverpflichtung des Betroffenen seit dem 17.10.2020 vollstreckbar.
4
Der Betroffene sei seit über 10 Monaten seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen. Er habe am 29.10.2020 telefonisch sowie schriftlich angegeben, nicht ausreisen zu wollen. Infolge fruchtlosen Fristablaufes sei der Betroffene nunmehr abzuschieben, § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
5
Der Betroffene sei in Absprache mit den iranischen Behörden für die Abschiebung mit dem Flug QR 068 um 16:50 Uhr vom Flughafen Frankfurt nach Isfahan (Iran) am 26.08.2021 vorgesehen gewesen. Er habe sich der Maßnahme jedoch durch zielgerichtete Selbstverletzung widersetzt. Beim Packen seines Koffers habe er ein Klappmesser genommen und sich dieses selbst in den Bauch gestochen. Das Messer habe von Polizeibeamten entfernt werden können. Der Betroffene sei zur Untersuchung in das Klinikum Coburg verbracht worden. Dabei seien oberflächliche Verletzungen festgestellt worden, die Klinge habe die Bauchdecke nicht durchdrungen. Die Abschiebemaßnahme habe jedoch storniert werden müssen. Für den Betroffenen werde zeitnah ein neuer Antrag auf Luftabschiebung mit entsprechender Begleitung gestellt; eine Abschiebung sei trotz der Corona-Pandemie möglich.
6
Weiter wird zur Antragsbegründung ausgeführt, der Betroffene sei bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Mit Urteil des Amtsgerichts Coburg, Az.: 122 Cs 10785/16, sei er wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen á 15,00 € verurteilt worden. Mit weiterem Urteil des Amtsgerichts Coburg, Az.: 3 Ls 108 Js 11348/18, sei er wegen Verstoßes gegen § 29 BtMG zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr 9 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt worden. Die Bewährungszeit sei auf 3 Jahre bestimmt worden.
7
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Antrag der Regierung von Oberfranken - Zentrale Ausländerbehörde - vom 26.08.2021 Bezug genommen, Bl. 3 ff. d.A..
8
Mit dem Antrag legte die Regierung von Oberfranken die Ausländerakte - bestehend aus zwei Bänden - in elektronischer Form vor; diese wurde ausgedruckt im „Sonderband Ausländerakte“ zur Akte genommen.
9
Der Betroffene wurde am 26.08.2021 in nichtöffentlicher Sitzung durch das Amtsgericht Coburg unter Hinzuziehung eines Dolmetschers angehört. Hinsichtlich des Inhaltes der Anhörung wird auf die Niederschrift vom 26.08.2021 verwiesen, Bl. 18 ff. d.A.. Mit Beschluss des Amtsgerichts Coburg vom 26.08.2021, Bl. 21 ff. d.A., wurde Haft zur Sicherung der Abschiebung gegen den Betroffenen angeordnet, befristet bis spätestens 25.11.2021.
10
Der Betroffene legte sogleich zu Protokoll der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle Beschwerde gegen den Beschluss vom 26.08.2021, Bl. 26 d.A., ein. Als Begründung gab er an, er wolle nicht abgeschoben werden und würde sich umbringen, wenn er in Abschiebehaft geschickt werde.
11
Anschließend wurde er in die JVA Eichstätt - eine ehemalige Strafhaftanstalt, die nunmehr ausschließlich für den Vollzug von Abschiebehaft genutzt wird - verbracht, wo er zunächst wegen Suizidgefahr (er gab zunächst weiterhin an, sich umbringen zu wollen) bis 06.09.2021 auf Anweisung der Abteilungsleiterin in einem besonderen Haftraum untergebracht wurde, Bl. 33, 77, 84, 95 f. d.A.. Die Abschiebehaft im Freistaat Bayern wird gemäß § 422 Abs. 4 FamFG im Wege der Amtshilfe in entsprechender Anwendung des Strafvollzugsgesetzes vollstreckt. In Bayern existiert - anders als in den übrigen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland - kein gesondertes Abschiebungshaftvollzugsgesetz.
12
Das Amtsgericht half der Beschwerde mit Verfügung vom 26.08.2021, Bl. 27 d.A., nicht ab und legte sie dem Landgericht zur Entscheidung vor.
13
Mit landgerichtlichem Beschluss vom 06.09.2021 wurde die Entscheidung über die Beschwerde dem Einzelrichter übertragen, Bl. 31 d.A., und mit Verfügung vom 07.09.2021 Anhörungstermin auf den 30.09.2021 bestimmt.
14
Mit Schriftsatz vom 10.09.2021 zeigten sich die Prozessbevollmächtigten des Betroffenen, Rechtsanwälte Lerche aus Hannover an, legten Beschwerde gegen den Beschluss vom 26.08.2021 ein und beantragten festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat. Gleichzeitig wurde die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe beantragt, Bl. 39 d.A..
15
Am 23.09.2021 wurde von der Regierung von Oberfranken die sofortige Freilassung des Betroffenen angeordnet, nachdem eine Rücksprache mit dem Landesamt für Asyl- und Rückführung ergab, dass eine Abschiebung bis zum 25.11.2021 nicht wahrscheinlich sei. Gleichzeitig wurde der Haftantrag zurückgenommen, Bl. 47 f. d.A.. Der Betroffene wurde am 23.09.2021 entlassen, Bl. 97 d.A.. Der Anhörungstermin wurde daraufhin aufgehoben.
16
Aufgrund eines Akteneinsichtsgesuches der Prozessbevollmächtigten des Betroffenen übersandte die Regierung von Oberfranken die elektronische Ausländerakte erneut am 13.10.2021 auf elektronischem Wege, Bl. 67 d.A.; die elektronische Akte wurde nochmals am Landgericht Coburg ausgedruckt und als lose Papiersammlung zur Akte genommen.
17
Der Beschwerdeführer macht geltend, dem Amtsgericht hätten allenfalls Auszüge aus der Ausländerakte vorgelegen, was den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht genüge. Zudem sei der Betroffene wegen seines gesundheitlichen Zustandes nicht haft- und reisefähig gewesen, so dass er nicht hätte abgeschoben oder in Haft genommen werden können. Jedenfalls sei der Regierung von Oberfranken bereits am 22.09.2021 bekannt gewesen, dass eine Abschiebung bis zum 25.11.2021 nicht möglich sei, so dass eine Freilassung bereits am 22.09.2021 hätte erfolgen müssen. Es sei auch nicht nachvollziehbar, weshalb die Behörde auch in der Zeit vor dem 22.9.2021 keine regelmäßige Rücksprache mit der JVA Eichstätt hinsichtlich der Erkrankung des Betroffenen und der damit verbundenen Modalitäten der Rückführung gehalten habe. Zudem rügt der Beschwerdeführer die Zuständigkeit des Haftrichters am Amtsgericht Coburg, Bl. 70 f. d.A. Darüber hinaus meint er, die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum durch Anstalts- oder Abteilungsleiter sei rechtswidrig, weil §§ 422 Abs. 4 FamFG, 171, 88 StVollzG nicht hinreichend konkret ausgestaltet sei. Zudem sei der Haftrichter für eine derartige Anordnung zuständig, Bl. 109 f. d.A..
18
Die Regierung von Oberfranken nahm hierzu mit Schriftsatz vom 17.12.2021 Stellung, Bl. 99 ff. d.A. Sollten Teile der Ausländerakte nicht mit vorgelegt worden sein, handele es sich um sicherheitsrelevante Unterlagen mit dem Vermerk VS-NfD, welche nicht an Dritte übermittelt werden dürften; die entscheidungsrelevanten Unterlagen seien jedoch übermittelt worden. Es habe z.Z. der Haftanordnung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bestanden, dass der Betroffenen binnen drei Monaten auch mit der notwendigen ärztlichen und polizeilichen Begleitung per Luftabschiebung rückführbar sei. Dies habe sich erst geändert, als der zuständige Sachbearbeiter der Regierung von Oberfranken am 22.09.2021 beim Landesamt für Asyl und Rückführung die telefonische Auskunft erhielt, dass eine begleitete Rückführung bis 25.11.2021 nicht wahrscheinlich sei, jedoch erst noch abschließend Rücksprache mit der Bundespolizei gehalten werden müsse. Am 23.09.2021 sei dann die definitive Auskunft erteilt worden, dass aufgrund fehlender bundespolizeilicher Begleitungsmöglichkeit eine Rückführung bis 25.11.2021 nicht mehr möglich sei, woraufhin sofort die Entlassung des Betroffenen angeordnet worden sei. Auch sei der Betroffene haft- und reisefähig gewesen, was sich schon daraus ergebe, dass er in der JVA Eichstätt nach obligatorischer Haftfähigkeitsuntersuchung aufgenommen wurde.
19
Weitere Ermittlungen beim Bayerischen Landesamt für Asyl und Rückführungen ergaben, dass die zuständige Regierung von Oberfranken - Ausländerbehörde - bei dem Bayerischen Landesamt für Asyl und Rückführungen seit dem 26.08.2021 bis zur Entlassung des Betroffenen am 23.09.2021 weitere Schubanträge für den Betroffenen nicht gestellt hat (Bl. 114 d.A.), obgleich seit der Selbstverletzung des Betroffenen bei dem Abschiebeversuch am 26.08.2021 offenkundig war, dass nur noch eine begleitete Rückführung des Betroffenen in Betracht kam, die jedoch zu diesem Zeitpunkt in den Iran laut Lagemitteilung der Bundespolizei nicht mehr durchgeführt wurden (so Lagefortschreibung des Bayerischen Landesamtes für Asyl und Rückführungen vom 20.08.2021, Bl. 182 ff./187 d.A.). Seit 27.08.2021 waren begleitete Rückführungen nur noch nach Einzelfallentscheidung und nicht mehr generell möglich. Insoweit hätte bei der Bundespolizei ein Antrag auf begleiteten Schub gestellt werden müssen, über den die Bundespolizei zu entscheiden hätte. Auf die Lagefortschreibungen des Bayerischen Landesamtes für Asyl und Rückführungen vom 27.08.2021, vom 3.9.2021, vom 10.09.2021, vom 17.09.2021 und vom 24.09.2021, die der Regierung von Oberfranken jeweils bekannt waren, wird Bezug genommen (Bl. 195 ff. d.A., 135 ff. d.A.).
20
Laut Stellungnahme der Regierung von Oberfranken vom 28.02.2022 wurde von dort aus erstmals am 22.09.2021 wegen der weiteren Abschiebemöglichkeiten mit dem Bayerischen Landesamt für Asyl und Rückführungen in Kontakt getreten, wobei mitgeteilt worden sei, dass in den nächsten Wochen - auch bis 25.11.2021 - keine Sicherheitsbegleitung in den Iran möglich sei (Bl. 135 d.A.). Bereits am 26.08.2021 sei von dem Bayerischen Landesamt für Asyl und Rückführungen mitgeteilt worden, dass eine solche sicherheitsbegleitete Abschiebung in den nächsten drei Monaten nicht ausgeschlossen sei; ob diese aber möglich sei, werde sich „in nächster Zeit“ klären (Bl. 135 R. d.A.). Der geplante Schub vom 26.08.2021 sei storniert worden. Die Regierung von Oberfranken sei - insbesondere aufgrund ihrer Mitteilung an das Bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen am 26.08.2021, dass der Betroffene nunmehr in Abschiebehaft genommen werden soll - davon ausgegangen, dass das Bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen nun - ohne weiteren Schubantrag - eine Einzelanfrage an die Bundespolizei richte und dann über den weiteren Verlauf Rückmeldung gebe. Tatsächlich erfolgte aber eine solche Einzelanfrage nicht, da kein weiterer Schubantrag der Regierung von Oberfranken gestellt worden war. Im weiteren Verlauf sei die zuständige Sachbearbeiterin bei der Regierung von Oberfranken erkrankt, der Unterzeichner im Urlaub gewesen.
21
Mit Schriftsatz vom 29.03.2022 wandte der Prozessbevollmächtigte des Betroffenen schließlich ein, dass die Vollstreckung der Abschiebehaft in der JVA Eichstätt europarechtswidrig gewesen sei, da es sich bei der JVA Eichstätt nicht um eine spezielle Hafteinrichtung i.S.d. Art. 16 der Rückführungsrichtlinie handele: das Gelände der JVA sei von ca. 6 Meter hohen Mauern und Stahlzäunen mit Stacheldraht umgeben. Auch auf dem Gelände selbst stünden verschlossene Stahlzäune, die unterschiedliche Bereich voneinander abgrenzten. Alle Fenster im Gebäude seien vergittert. Die Gefangenen dürften sich in der Regel nur auf dem eigenen Stockwerk aufhalten und würden ab dem frühen Abend in ihren Haftzellen eingeschlossen. Der Besitz von Smartphones und Laptops sei verboten, Besuche würden überwacht. Die Besuchszeiten von lediglich 3 × 60 Minuten pro Monat ähnelten denen in Strafhaftanstalten. Die Gefangenen dürften zudem keine eigene Kleidung tragen. Der Vollzug erfolge in entsprechender Anwendung des Strafvollzugsgesetzes. Dies widerspreche den jüngsten Vorgaben des EuGH laut Urteil vom 10.03.2022, Az. C-519/20. Bei anderslautender Sichtweise der Kammer beantragte er die Aussetzung des Verfahrens und die Vorlage an den EuGH zur Vorabentscheidung (Bl. 151 ff. d.A.).
22
Laut Stellungnahme der JVA Eichstätt vom 12.05.2022 ist das Gelände der JVA Eichstätt von einer 4-6 Meter hohen Mauer umgeben, die mit S-Drahtrollen auf der Mauerkrone gesichert ist. Zusätzliche Sicherheitszäune, ein Sicherheitsstreifen oder Beobachtungstürme seien nicht vorhanden. Stahlzäune, die Bereiche voneinander abgrenzen, seien nur insoweit vorhanden, als Schleusenbereiche sowie ein Bereich für die besonders gesicherten Hafträume ohne gefährdende Gegenstände abgegrenzt werden. Die Aufenthaltsräume der Abschiebungsgefangenen seien nicht weiter durch Stahlzäune voneinander abgegrenzt, sondern die Inhaftierten könnten sich von ihren Zimmern in den Aufschlusszeiten von 9.00 Uhr bis 19.00 Uhr frei durch das ganze Haus bis hinaus in den Sporthof sowie in die Freizeithalle - mit Ausnahme der Zugangsabteilung - bewegen. Die Fenster seien vergittert, der Besitz von Smartphones und Laptops und das Tragen eigener Kleidung sei aus Gründen der Sicherheit und Ordnung (Abhängigkeiten oder Repressalien) verboten. Allerdings erhalte jeder Gefangene ein anstaltseigenes Telefon, mit welchem sie in der Zugangstrennung bis zu 120 Minuten täglich weltweit kostenfrei und auf Normalstation 30 Minuten täglich telefonieren könnten. Es stehe auch die Möglichkeit der Videotelefonie und Internetrecherchen über den Sozialdienst zur Verfügung. Die Besuche während der Besuchszeiten - 3 × 60 Minuten pro Monat - werden optisch überwacht, jedoch mangels Angehöriger in der Nähe oft nicht genutzt (Bl. 173 f. d.A.).
23
Das Bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen nahm ebenfalls schriftlich Stellung (Bl. 179 ff. d.A.). Dieses teilte mit, dass die Regierung von Oberfranken als Zentrale Ausländerbehörde am 22.01.2021 einen Antrag auf Rückführung des Betroffenen in den Iran gestellt, die als unbegleiteter Flug am 26.08.2021 erfolgen sollte. Nach Stornierung der Abschiebung am 26.08.2021 sei kein weiterer Schubantrag gestellt worden, ohne den das Bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen nicht tätig werden könne, was auch der Zentralen Ausländerbehörde bekannt sei. Zur Vereinfachung sehe sogar das Fachverfahren „BayAS“ für den Fall eines stornierten Schubs mit dem Erfordernis eines neuen Schubantrags einen Kopierbutton vor, der auf Wunsch der Ausländerbehörden eingeführt wurde, mit dem nach Stornierung der Antrag genauso wie er war, erneut gestellt werden kann.
24
Die Beteiligten erhielten hierzu nochmals Gelegenheit zur Stellungnahme (Bl. 212 ff. d.A.: Betroffener, Bl. 219 f. d.A.: Regierung von Oberfranken). Auf die Stellungnahmen wird Bezug genommen.
25
Die Einzelrichterin hat das Beschwerdeverfahren nach § 68 Abs. 4 FamFG i.V.m. § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO der Beschwerdekammer zur (Rück-)Übernahme vorgelegt. Nach Übertragung des Beschwerdeverfahrens auf den Einzelrichter haben sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Sache sowie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergeben. Dies ergab sich insbesondere daraus, dass der Betroffene im weiteren Verlauf des Verfahrens eine Vielzahl von Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der angeordneten Abschiebehaft erhoben hatte, insbesondere auch die Frage, ob der Betroffene in einer speziellen Hafteinrichtung (JVA Eichstätt) i.S.d. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 untergebracht worden war (Bl. 221 d.A.)
26
Nach Anhörung der Beteiligten wurde das Beschwerdeverfahren von der Kammer als Beschwerdegericht mit Beschluss vom 12.10.2022 nach § 68 Abs. 4 FamFG i.V.m. § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO (zurück) übernommen.
27
Mit Beschluss vom 03.03.2022 wurde dem Betroffenen antragsgemäß für das Beschwerdeverfahren Verfahrenskostenhilfe bewilligt (I. 148 d.A.)
II.
28
Die Beschwerde in Gestalt des Feststellungsantrags ist zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
29
1. Die zunächst eingelegte Beschwerde war zulässig (§ 68 Abs. 2 FamFG). Sie ist gegen die Entscheidung über die Anordnung der Abschiebehaft statthaft (§ 58 Abs. 1 FamFG) und wurde von dem beschwerdeberechtigten Betroffenen (§ 59 Abs. 2 FamFG) form- und fristgerecht eingelegt (§§ 63, 64 FamFG).
30
Nachdem der Betroffene aus der Abschiebehaft entlassen wurde, bevor eine Anhörung und Entscheidung im Beschwerdeverfahren ergehen konnte, hatte sich die angefochtene Entscheidung in der Hauptsache erledigt. Der Antrag des Betroffenen festzustellen, dass die Entscheidung des Amtsgerichts ihn in seinen Rechten verletzt hat, war ebenso zulässig, da der Betroffene ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat, § 62 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 FamFG: bei der Anordnung der Abschiebehaft handelt es sich um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff.
31
2. Die Beschwerde war auch begründet. Die mit Beschluss des Amtsgerichts Coburg vom 26.08.2021 angeordnete Abschiebehaft zur Sicherung der Durchführung der Abschiebung bis zum 25.11.2021 war rechtswidrig und hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt.
32
a) Soweit der Betroffene die (funktionelle) Zuständigkeit des erstinstanzlich tätig gewordenen Richters, dem Richter am Oberlandesgericht Dr. Popp rügt, ist er hiermit allerdings gemäß § 65 Abs. 4 FamFG ausgeschlossen.
33
Ausnahmsweise soll eine Prüfung der Zuständigkeit durch das Beschwerdegericht möglich sein, wenn das Erstgericht seine Zuständigkeit willkürlich angenommen hat. Auch hierfür liegen allerdings keinerlei Anhaltspunkte vor, nachdem das Amtsgericht Coburg sowohl sachlich (§ 23 Abs. 2 Nr. 6 GVG) wie auch örtlich (§ 416 FamFG - der Betroffene hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bezirk des Amtsgerichts Coburg) zuständig war und gemäß der geltenden Geschäftsverteilung des Amtsgerichts Coburg zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung Richter am Oberlandesgericht Dr. Popp für Abschiebehaftsachen funktionell zuständig war.
34
b) Die Anordnung der Abschiebehaft war auch nicht deswegen rechtswidrig, weil das Amtsgericht die vollständige Ausländerakte nicht beigezogen hatte, welche die antragstellende Behörde gemäß § 417 Abs. 2 Satz 3 FamFG vorlegen soll. Nach BVerfG, Beschlüsse vom 10.12.2007, Az. 2 BvR 1033/06, und vom 14.05.2020, Az. 2 BvR 2345/16, hat der Haftrichter die Akten der Ausländerbehörde als Bestandteil der richterlichen Amtsermittlung bei einer Entscheidung über eine Haftanordnung in aller Regel beizuziehen.
35
Dies ist vorliegend erfolgt. Die Regierung von Oberfranken als antragstellende Ausländerbehörde hat die Ausländerakte zusammen mit dem Haftantrag am 26.08.2021 in elektronischer Form vorgelegt. Das Amtsgericht Coburg hat die Akte ausgedruckt und als Sonderheft zur Gerichtsakte genommen; die Ausländerakte wurde zum Gegenstand der Anhörung gemacht. Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei dieser Akte, die laut elektronischer Mitteilungen der Ausländerbehörde in 2 Bänden vorgelegt wurde, lediglich um Fragmente handelt, bei der wesentliche, für die Haftentscheidung erhebliche Teile fehlen, liegen nicht vor. Die wesentlichen Inhalte des Sachvortrags der Ausländerbehörde ergeben sich aus der übersandten Ausländerakte, sodass das Vorbringen der Antragstellerin als inhaltlich zutreffend nachvollzogen werden konnte.
36
Soweit der Betroffene meint, dass dem Gericht augenscheinlich allenfalls Auszüge aus der Ausländerakte vorlagen, ist dies nicht nachvollziehbar. Die Ausländerbehörde hat aufgrund des Akteneinsichtsgesuches der Bevollmächtigten des Betroffenen die Ausländerakte am 13.10.2021 erneut in elektronischer Form an das Landgericht Coburg übersandt. Hierbei handelt es sich augenscheinlich um dieselbe Akte, die bereits dem Amtsgericht vorlag. Die Ausländerbehörde hat insoweit mitgeteilt, dass es sich bei den ggf. nicht mit übersandten Aktenteilen um sicherheitsrelevante Unterlagen handle, welche nicht an Dritte übermittelt werden dürften; alle entscheidungsrelevanten Unterlagen seien jedoch vorgelegt worden. Im Übrigen ist eine Vorlage der vollständigen Ausländerakte nicht erforderlich, wenn sich der festzustellende Sachverhalt aus den vorgelegten Teilen vollständig ergibt und die nicht vorgelegten Teile keine weiteren Erkenntnisse versprechen, vgl. BGH, Beschluss vom 20.01.2011, Az. V ZB 226/10, Rn. 11; Beschluss vom 04.03.2010, Az. V ZB 222/09, Rn. 19. Es ist weder von dem Betroffenen behauptet noch sonst ersichtlich, dass das Gericht den übrigen, gegebenenfalls nicht vorgelegten (sicherheitsrelevanten) Teilen der Ausländerakte weitere entscheidungserhebliche Informationen hätte entnehmen können.
37
c) Das Amtsgericht Coburg hat seine Entscheidung auch zutreffend damit begründet, dass die Voraussetzungen für die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung nach § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG gegeben sind. Die Entscheidung des Amtsgerichts Coburg entsprach zum Zeitpunkt ihres Erlasses der Sach- und Rechtslage. Neben dem Erfordernis der Ausreisepflicht, die sich vorliegend aus der rechtskräftigen Ablehnung des Asylantrags des Betroffenen, deren Rechtmäßigkeit jedoch alleine der Kontrolle durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit unterliegt (vgl. BeckOK Ausländerrecht, AufenthG, § 62, Rn. 26) ergibt, setzt die Sicherungshaft nach § 62 Abs. 3 AufenthG voraus, dass der Ausländer sich der Abschiebung durch Flucht entziehen will (Fluchtgefahr) (§ 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AufenthG), er aufgrund einer unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig ist (§ 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AufenthG) oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58 a ergangen ist, diese aber nicht unmittelbar vollzogen werden kann.
38
aa) Beim Betroffenen wird Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 5 AufenthG widerleglich vermutet, da er sich nachweislich der Abschiebung am 26.08.2021 durch Selbstverletzung entzogen hat. Ferner hat er bereits am 29.10.2020 sowie erneut in der Anhörung vor dem Amtsgericht Coburg am 26.08.2021 erklärt, sich der Abschiebung entziehen zu wollen, vgl. § 62 Abs. 3a Nr. 6 AufenthG. Durch den Vortrag des Betroffenen und Beschwerdeführers wird die gesetzliche Vermutung der Fluchtgefahr gerade nicht widerlegt. Der Betroffene teilte in der Anhörung und zur Beschwerdebegründung am 26.08.2021 mit, er wolle nicht abgeschoben werden. Wenn er in Abschiebehaft geschickt wird, würde er sich umbringen. Damit gibt der Betroffene selbst an, er werde die Abschiebung nicht freiwillig dulden und sich ihr nach Kräften entziehen. Die Fluchtgefahr wird durch den Vortrag des Betroffenen verdeutlicht.
39
bb) Der Betroffene ist seit 17.10.2020 vollziehbar ausreisepflichtig, § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG. Umstände, weshalb die Durchführbarkeit der Abschiebung auf längere Zeit gehindert wäre, liegen nicht vor. Es war zu erwarten, dass die Abschiebung bis zum 25.11.2021 durchgeführt werden kann. Hierdurch ist die 3-Monats-Frist des § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG und der Grundsatz, dass Haft nur für den Zeitraum angeordnet werden, den die Behörde bei entsprechendem Bemühen benötigt, um den Betroffenen mit der gebotenen Beschleunigung abzuschieben, gewahrt. Die Haftdauer ist auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken. Auch wenn zum Zeitpunkt der amtsgerichtlichen Entscheidung ein konkreter Abschiebetermin noch nicht bekannt war, erschien die gebotene Prognose, ob die Abschiebung bei realistischer Betrachtung innerhalb dieser Zeit erfolgen kann und der Haftzeitraum sich zudem in diesbezüglich angemessenen Grenzen hält, zutreffend. So hat die Ausländerbehörde in ihrer Stellungnahme vom 17.12.2021 nochmals ausdrücklich vorgetragen, dass zum Zeitpunkt der Haftanordnung aufgrund der Kenntnis und Aussage des Landesamtes für Asyl und Rückführung die hinreichende Wahrscheinlichkeit bestand, dass der Betroffene innerhalb von 3 Monaten trotz seiner Selbstgefährdungstendenz mit der notwendigen ärztlichen und polizeilichen Begleitung per Luftabschiebung rückführbar ist.
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cc) Die Anordnung der Abschiebehaft ist auch verhältnismäßig, insbesondere ist kein milderes Mittel ersichtlich, § 62 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Die Verhängung eines Ausreisegewahrsams ist nicht erfolgversprechend, eine erneute Abschiebung innerhalb von 10 Tagen erschien nicht als gewährleistet. Auch die Anordnung einer Meldeauflage oder die Einbehaltung von Reisedokumenten sind nicht in gleichem Maße erfolgversprechend. Der Betroffene zeigt durch sein Handeln seinen ernsthaften Willen, sich der Abschiebung zu entziehen. Die vorstehenden Maßnahmen erscheinen angesichts dessen, dass sich der Betroffene bereits selbst verletzte und Suizid ankündigte, als relativ milde Mittel nicht ausreichend. Es verblieb damit die Befürchtung, dass Meldeauflagen oder die Einbehaltung von Reisedokumenten beim Betroffenen keine Wirkung erzielen würden. Hierbei war neben dem Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen auch das staatliche Interesse an einer zügigen und erfolgreichen Durchführung der Abschiebung zu berücksichtigen.
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d) Die Haftanordnung war auch nicht aufgrund einer bestehenden Haft- oder Reiseunfähigkeit des Betroffenen rechtswidrig. Zwar hat der Haftrichter auch die Haftfähigkeit des Betroffenen zu überprüfen, wenn hinreichend konkrete Anhaltspunkte für eine mögliche Haftunfähigkeit vorliegen, denn die Inhaftierung oder Aufrechterhaltung der Haft eines erkennbar haftunfähigen Betroffenen ist rechtswidrig, BGH, Beschluss vom 30.10.2013, Az. V ZB 69/13. Derartige Anhaltspunkte für eine Haftunfähigkeit des Betroffenen lagen jedoch weder zum Zeitpunkt der Entscheidung des Erstrichters vor noch haben sich solche im weiteren Verlaufe des Verfahrens ergeben. Der Begriff der Haftunfähigkeit orientiert sich im wesentlichen an den Haftaufschubgründen der Strafvollstreckung, die in § 455 StPO aufgeführt sind. Vorliegend kommt als Haftunfähigkeitsgrund lediglich der Umstand in Betracht, dass der Betroffene ggf. suizidgefährdet war, weil er selbst mehrfach angedroht hat, sich umbringen zu wollen, wenn er in Abschiebehaft kommt bzw. verbleibt und sich bereits am 26.08.2021 im Rahmen des Abschiebeversuches selbst verletzt hatte. Allerdings kommt Selbstmordgefahr als Krankheit, die eine Haftunfähigkeit begründen könnte, nicht in Betracht, da ihr mit den Mitteln des § 88 StVollzG begegnet werden kann. Ein abzuschiebender Ausländer darf es nicht in der Hand haben, sich durch Suizidandrohungen einer Abschiebung bzw. einer Sicherungshaft zur Abschiebung zu entziehen. Auch wenn der Betroffene ausdrücklich angegeben hat, sich umbringen zu wollen, wenn er in Abschiebehaft kommt, ist es zudem offensichtlich, dass eine möglicherweise bestehende Selbstmordgefahr nicht mit dem Vollzug der Abschiebehaft in kausalem Zusammenhang steht, da der Betroffene erkennbar mit der Suizidankündigung die Abschiebung selbst verhindern möchte.
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Ob bei dem Betroffenen Reiseunfähigkeit vorliegt, hat allerdings der Haftrichter nicht zu prüfen, sondern lediglich die beteiligte Behörde und die Verwaltungsgerichte. Der Haftrichter hat nach § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG nur festzustellen, ob die Abschiebung nach den von der beteiligten Behörde ergriffenen Maßnahmen und im Hinblick auf etwaige von dem Betroffenen bei den Verwaltungsgerichten eingeleitete Verfahren voraussichtlich durchgeführt werden kann, BGH, Beschluss vom 01.06.2017, Az. V ZB 163/15. Insoweit hat die antragstellende Behörde bereits ausgeführt, dass aufgrund des gesundheitlichen Zustandes des Betroffenen lediglich eine begleitete Rückführung (unter ärztlicher und polizeilicher Aufsicht und Kontrolle) erfolgen soll. Dass der Betroffene seine Reiseunfähigkeit in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren geltend gemacht hat bzw. ein solches von ihm eingeleitet wurde, hat weder die Ausländerbehörde noch der Betroffene selbst angegeben, so dass sich weitere Ermittlungen hierzu erübrigen.
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e) Soweit der Betroffene geltend macht, dass die Unterbringung im besonders gesicherten Haftraum unzulässig bzw. rechtswidrig gewesen sei, berührt dies allerdings die Haftanordnung und mithin das Verfahren nach den §§ 415 ff. FamFG selbst nicht. Lediglich bei Verletzung der im Lichte von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) auszulegenden Vorschrift des § 62a Abs. 1 AufenthG kommt eine Rechtswidrigkeit der Haftanordnung in Betracht, BGH, Beschluss vom 14.04.2016, Az. V ZB 112/15. In der bis 20.08.2019 und wieder seit 01.07.2022 geltenden Fassung besagt § 62 a Abs. 1 AufenthG: „Die Abschiebungshaft wird grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen. Sind entsprechende Hafteinrichtungen im Bundesgebiet nicht vorhanden oder geht von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus, kann sie in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden; die Abschiebungsgefangenen sind in diesem Fall getrennt von Strafgefangenen unterzubringen.“ Die Regelung geht auf Art. 16 Abs. 1 der RL 2008/115/EG (sog. Rückführungsrichtlinie) zurück, die lautet: „Die Inhaftierung erfolgt grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Sind in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so werden in Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht.“ Durch Gesetz vom 20.08.2019 hat der Bundesgesetzgeber unter Bezugnahme auf die Notstandsklausel des Art. 18 RL 2008/115/EG vorübergehend den Vollzug der Abschiebungshaft i Justizvollzugsanstalten erlaubt, wobei die insoweit zuständigen Länder nicht verpflichtet sind, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen. Sie können vielmehr wie bisher die Abschiebungshaft in speziellen Hafteinrichtungen durchführen, was der ganz überwiegenden Praxis (bundesweit) entspricht. Vom 21.08.2019 bis 30.06.2022 lautete § 62 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG daher: „Abschiebungsgefangene sind getrennt von Strafgefangenen unterzubringen.“ Ob die Voraussetzungen eines Notstandes i.S.d. Art. 18 der Rückführungsrichtlinie vorliegen, ist umstritten. Jedenfalls war aber auch im Zeitraum vom 21.08.2019 bis 30.06.2022 ein Vollzug in Justizvollzugsanstalten so lange nicht zulässig, wie der Vollzug der Abschiebungshaft in speziellen Abschiebungshafteinrichtungen möglich ist, so zutreffend BeckOK AuslR/Kluth, 32. Ed. 1.10.2021, AufenthG § 62 a, Rdnr. 5a. Diese Neuregelung des § 62 a Abs. 1 AufenthG ist nämlich richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass das Trennungsgebot (also die grundsätzliche Unterbringung in speziellen Abschiebungseinrichtungen, soweit solche in dem Mitgliedsstaat vorhanden sind) nicht außer Acht gelassen werden darf, solange Deutschland in der Lage ist, noch Plätze in einer Abschiebungseinrichtung zu nutzen, so dass trotz der vorübergehenden Gesetzesänderung vorrangig die Plätze in speziellen Abschiebungshafteinrichtungen i.S.d. Art. 16 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie auszuschöpfen sind. Die antragstellende Ausländerbehörde hat insoweit auch darzulegen, dass bundesweit (!) keine Plätze in einer diesen Anforderungen genügenden speziellen Abschiebungshafteinrichtung mehr zur Verfügung stehen, vgl. Bergmann/Dienelt/Winkelmann, 13. Auflage 2020, AufenthG § 62 a, Rdnr. 9 und 10.
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Die Freiheitsentziehung ist dabei nicht nur dann rechtswidrig, wenn der Haftrichter absehen kann, dass die Haft europarechtswidrig nicht in einer speziellen Hafteinrichtung vollstreckt werden wird, BGH, Beschluss vom 25.07.2014, Az. V ZB 137/14, sondern auch dann, wenn die beteiligte Behörde im weiteren Vollzug die der Richtlinie widersprechenden Haftbedingungen aufrechterhält, so BGH, Beschluss vom 14.04.2016, Az. V ZB 112/15, Rdnr. 8.
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Zwar handelt es sich bei der JVA Eichstätt nicht (mehr) um eine Strafhaftanstalt. Diese wird ausschließlich für Abschiebehäftlinge genutzt. Allerdings handelt es sich bei ihr nicht um eine spezielle Abschiebungshafteinrichtung nach Art. 16 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie. Der Begriff der speziellen Hafteinrichtung ist in erster Linie durch die räumliche und organisatorische Trennung von den Strafhaftanstalten bestimmt und zeichnet sich durch besondere Anforderungen an ihre Organisation aus. Es müssen die Gestaltung und Anordnung der Örtlichkeiten so weit wie möglich den Eindruck einer Gefängnisumgebung vermeiden. Zwar ist eine fluchtverhindernde Abschottung - auch durch eine hohe Mauer - nach außen zulässig und geboten. Dagegen sind zusätzliche Freiheitsbeschränkungen im Inneren problematisch und nur auf der Grundlage besonderer gesetzlicher Regelungen zulässig; so dürfen Fenster nicht vergittert oder besondere Schließvorrichtungen vorgesehen werden, so BeckOK AuslR/Kluth, 32. Ed. 1.10.2021, AufenthG § 62 a, Rdnr. 6 ff. Aus dem Wortlaut des Art. 16 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie ergibt sich, dass sich spezielle Hafteinrichtungen von gewöhnlichen Haftanstalten unterscheiden, was impliziert, dass die Haftbedingungen in diesen Einrichtungen gewisse Besonderheiten gegenüber normalen Bedingungen der Vollstreckung von Freiheitsstrafen in gewöhnlichen Haftanstalten aufweisen müssen, so EuGH, Urteil vom 10.03.2022, Az. C-519/20, Rdnr. 36. Die Abschiebungshaft dient nur der Gewährleistung der Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens und verfolgt keinerlei auf Bestrafung gerichtete Zielsetzung. Die Einrichtung soll daher den Häftling nur zwingen, sich ständig in einem eingegrenzten, geschlossenen Bereich aufzuhalten, gleichzeitig aber diese Zwangsmaßnahme auf das beschränken, was für die wirksame Vorbereitung seiner Abschiebung unbedingt erforderlich ist. Folglich müssen die in einer solchen Einrichtung geltenden Haftbedingungen so gestaltet sein, dass mit ihnen so weit wie möglich verhindert wird, dass die Unterbringung des Drittstaatsangehörigen einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt, wie sie für eine Strafhaft kennzeichnend ist, EuGH, a.a.O., Rdnr. 45. Der Umstand, dass die nationalen Regelungen über die Strafvollstreckung - und sei es auch nur entsprechend - auf die Unterbringung von Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft anwendbar sind, stellen ein gewichtiges Indiz dafür dar, dass eine solche Unterbringung nicht in einer speziellen Hafteinrichtung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der RL 2008/115/EG stattfindet.
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Gemessen an diesen Maßstäben handelt es sich bei der JVA Eichstätt nicht um eine spezielle Hafteinrichtung i.S.d. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie. Die hohen Außenmauern stehen dem zwar nicht entgegen. Allerdings können sich die Inhaftierten innerhalb des Geländes lediglich während der Aufschlusszeiten von 9.00 Uhr bis 19.00 Uhr frei bewegen, müssen sich also nicht nur während der Nachtruhe (so beispielsweise im Abschiebungshaftvollzugsgesetz Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen mit Nachtruhe von 22 Uhr bis 7 Uhr), sondern bereits deutlich länger, nämlich ab 19 Uhr und morgens bis 9.00 Uhr in ihren Zimmern aufhalten. Die Fenster sind zudem vergittert, der Besitz von Smartphones und Laptops und das Tragen eigener Kleidung ist verboten. Auch Besuchszeiten sind auf 3 × 60 Minuten pro Monat beschränkt und werden optisch überwacht. In den Abschiebungshaftvollzugsgesetzen Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg ist beispielsweise generell ein täglich möglicher Besuch (zu den Besuchszeiten ohne Überwachung) geregelt, ebenso ist das Tragen eigener Kleidung nicht generell verboten, im Abschiebungshaftvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen sogar ausdrücklich erlaubt, und technische Geräte sind nur dann verboten, wenn damit Bild- und Videoaufzeichnungen gefertigt werden können. Die Einschränkungen beruhen in der JVA Eichstätt zudem im Wesentlichen auf Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes, was ebenfalls ein gewichtiges (!) Indiz dafür ist, dass keine spezielle Hafteinrichtung vorliegt.
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Dass bundesweit kein Platz für den Betroffenen in einer speziellen Abschiebehafteinrichtung vorhanden gewesen wäre, die die vom EuGH aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, ist von der Ausländerbehörde weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Der EuGH hatte bereits entschieden, dass in mehreren deutschen Bundesländern spezielle Hafteinrichtungen vorhanden sind, EuGH, Urteil vom 17.07.2014, Az. C 473/13; so auch BGH, Beschluss vom 25.07.2014, Az. V ZB 137/14, Rdnr. 7.
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f) Schließlich hat der Vollzug der Haft den Betroffenen hier in seinen Rechten verletzt, weil die antragstellende Ausländerbehörde gegen den in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgrundsatz und damit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in erheblicher Weise verstoßen hat. Da die Abschiebungshaft in das Grundrecht der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 GG eingreift, ist sie auf das unbedingt erforderliche Maß zu beschränken. Es besteht deshalb die Verpflichtung der Behörden und Gerichte, die Abschiebung, deren Sicherung die Haft allein dient, mit der größtmöglichen Beschleunigung zu betreiben, um so den Zeitraum der Freiheitsentziehung möglichst kurz zu halten. Die Haft ist auf den Zeitraum zu begrenzen, der unbedingt erforderlich ist, um die Abschiebung vorzubereiten und durchzuführen. Ein Verstoß liegt vor, wenn die Behörde längere Zeit nichts unternimmt, um die Abschiebung zu fördern. So liegt der Fall hier: obgleich Sachstand am 26.08.2021 nach Lagefortschreibung vom 20.08.2021 noch der war, dass begleitete Rückführungen in den Iran durch die Bundespolizei nicht durchgeführt wurden und die weitere Handhabung noch geprüft wurde, hat die Ausländerbehörde dennoch am 26.08.2021 die Anordnung der Abschiebungshaft beantragt, obwohl klar war, dass eine solche nach damaligem Stand nicht möglich sein würde. Eine demnächstige Abschiebung war zwar auch nicht ausgeschlossen, aber jedenfalls nach dem damaligen Sachstand auch nicht überwiegend wahrscheinlich. Bereits deshalb ist die Haftanordnung rechtswidrig gewesen. Die Zentrale Ausländerbehörde hat es darüber hinaus verabsäumt, unverzüglich nach Stornierung der Abschiebung vom 26.08.2021 einen weiteren Schubantrag bei dem Bayerischen Landesamt für Asyl und Rückführungen zu stellen, der erforderlich ist, um eine erneute - diesmal begleitete - Rückführung des Beschwerdeführers in die Wege zu leiten. Obgleich ihr bekannt war, dass aufgrund der Selbstverletzung nur noch eine begleitete Rückführung möglich war und mit den Lagefortschreibungen seit dem 27.08.2021 eine Einzelfallentscheidung der Bundespolizei für begleitete Abschiebungen in den Iran beantragt werden muss, welche nur eingeholt wird, wenn beim Bayerischen Landesamt für Asyl und Rückführungen ein entsprechender Schubantrag gestellt wird, hat sie bis zur Entlassung des Beschwerdeführers am 23.09.2021 nichts dafür unternommen, seine Abschiebung zu fördern. Sie ist im Hinblick auf die Förderung der Abschiebung wochenlang untätig geblieben, wobei Urlaub oder Krankheit der Sachbearbeiter oder Vertreter nicht entschuldigen. Dass im Rahmen eines Telefonats am 26.08.2021 zwischen der Ausländerbehörde und dem Bayerischen Landesamt für Asyl und Rückführungen besprochen wurde, dass man derzeit nicht wisse, wie es mit begleiteten Rückführungen in den Iran weitergehe und man die Entwicklung abwarten müsse, ändert an der Pflicht zur Schubantragstellung ebenso wenig etwas wie die Mitteilung an das Bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen, dass der Betroffene in Sicherungshaft genommen werde. Allein die Ausländerbehörde ist für die Abschiebung und deren beschleunigte Herbeiführung verantwortlich. Dort ist auch bekannt, dass ein Antrag gestellt werden muss, der im übrigen als Folgeantrag mit wenig Aufwand (Kopierbutton nach storniertem Schubantrag) erneut gestellt werden kann. Zudem ist der Zentralen Ausländerbehörde nach dem Telefonat vom 26.08.2021 mit Übersendung der Lagefortschreibung vom 27.08.2021 durchaus mitgeteilt worden, wie zukünftig begleitete Rückführungen in den Iran gehandhabt werden, nämlich nach Einzelfallprüfung und -entscheidung. Es ist daher schlicht nicht nachvollziehbar, weshalb bis zur Entlassung des Beschwerdeführers nicht einmal ein weiterer Antrag auf Abschiebung in die Wege geleitet wurde. Auch ist nicht plausibel, weshalb die Ausländerbehörde nach dem Telefonat am 26.08.2021 davon ausgegangen ist, dass das Bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen nunmehr - ohne Schubantrag - eine Einzelfallanfrage bei der Bundespolizei stellen sollte, nachdem dort das weitere Vorgehen noch geprüft wurde und der Ausländerbehörde auch nur diese Information telefonisch erteilt worden war. Ungeachtet dessen hätte - auch ohne Kenntnis der weiteren praktischen Handhabung - bereits am 26.08.2021, spätestens aber am 27.08.2021 ein neuer Schubantrag gestellt werden können, um eine Prüfung zu veranlassen. Darüber hinaus ist auch nicht verständlich, weshalb über drei Wochen hinweg keinerlei Erkundigungen oder Nachfragen der Ausländerbehörde beim Bayerischen Landesamt für Asyl und Rückführungen erfolgt sind.
49
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG.
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3. Die Festsetzung des Geschäftswerts folgt aus den §§ 61 Abs. 1, 36 Abs. 3 GNotKG.