Titel:
Bewertung einer Leistung in der mündlichen Prüfung im Ersten Juristischen Staatsexamen mit ungenügend wegen versuchten Unterschleifs
Normenketten:
GG Art. 12 Abs. 1 S. 1, S. 2
BayVwVfG Art. 35 S. 1
JAPO § 11 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, Abs. 7 S. 1, S. 2, § 34 Abs. 2, § 35 S. 1
Leitsätze:
1. Weder die Bescheinigung nach § 35 Satz 1 JAPO noch die Bescheinigung nach Berichtigung der Prüfungsgesamtnote gemäß § 11 Abs. 7 Satz 2 JAPO sind Verwaltungsakte i.S.v. Art. 35 Satz 1 BayVwVfG. (Rn. 21)
2. Die Auslegung des Begriffs „Unterschleif“ in § 11 Abs. 1 Satz 1 JAPO muss den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG genügen. (Rn. 41)
3. Bei der Auslegung des Begriffs „Unterschleif“ muss die prinzipielle Zielsetzung des Normgebers, eine selbständige und reguläre Prüfungsleistung sicherzustellen, berücksichtigt werden. (Rn. 41)
4. Die bloße Kontaktaufnahme mit einem Prüfer vor Durchführung der mündlichen Prüfung stellt noch keinen versuchten Unterschleif i.S.d. § 11 Abs. 1 Satz 1 JAPO dar. (Rn. 44)
5. Ob eine Kontaktaufnahme in diesem Fall nach § 11 JAPO sanktioniert werden kann, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. (Rn. 47)
Schlagworte:
Erste Juristische, Staatsprüfung, Verwaltungsaktqualität der Prüfungsbescheinigung (verneint), Prüfungszeugnis, Bewertung der mündlichen Prüfungsleistung mit 0 Punkten, Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Unterschleif“, Berichtigung der Prüfungsgesamtnote, Erste Juristische Staatsprüfung, mündliche Prüfung, Bewertung Leistung, Unterschleif, Versuch, Chancengleichheit, Prüfer, Kontaktaufnahme, Einholung von Informationen, Unbefangenheit
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 23.03.2021 – M 4 K 17.4916
Fundstelle:
BeckRS 2022, 42004
Tenor
I. Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 23. März 2021 wird der Bescheid des Beklagten vom 12. September 2017 aufgehoben.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen die nachträgliche Bewertung seiner Leistung in der mündlichen Prüfung der Ersten Juristischen Staatsprüfung 2017/1 im Prüfungsgebiet Zivilrecht mit der Note „ungenügend“ wegen versuchten Unterschleifs.
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Nachdem der Kläger im Termin 2017/1 den schriftlichen Teil der Ersten Juristischen Staatsprüfung bestanden hatte, lud ihn das Landesjustizprüfungsamt unter namentlicher Nennung der Mitglieder der zuständigen Prüfungskommission zur mündlichen Prüfung am 10. Juli 2017.
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Mit E-Mail vom 4. Juli 2017 wandte sich der Kläger an den in der Ladung für das Fach Zivilrecht genannten Prüfer. Auszugsweise lautete die E-Mail wie folgt:
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„… In meiner für den 10.07.2017 angekündigten Prüfungskommission wird ein nicht näher beschriebener Herr Dr. M. S. die zivilrechtliche Teilprüfung abnehmen. Sie - Herr Dr. S. haben in M. und Umgebung allerdings zwei Namensvettern.“
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Trotz meiner unternehmerischen Tätigkeit vermochte ich im prüfungsvorbereitenden Klausurenkurs konstant acht oder mehr Punkte zu erreichen. Sehnenscheidenentzündung hin oder her - meine schriftlichen Ergebnisse mit durchschnittlich nur 6,66 Punkten kommen angesichts dessen einem akademischen Versagen gleich. Ich habe Angst, dass dieses Missgeschick ein unüberwindliches Hindernis für meinen Traum einer berufsbegleitenden Promotion im Steuerrecht begründen könnte.
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Ich bin froh, dass ich meinen Mitunternehmern 18 Monate zur Examensvorbereitung abringen konnte. ‚Einen Egotrip für einen Verbesserungsversuch‘ [Zitat] gestehen sie mir jedoch nicht zu, damit verbleibt mir nur der 10.07.2017 um Ihnen oder einem Ihrer beiden Namensvettern mein fundiertes juristisches Verständnis zu offenbaren.
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Vor diesem Hintergrund brenne ich zu erfahren, ob Sie mein Prüfer sein werden und in welchen vom Prüfungsstoff erfassten Rechtsgebieten Sie brillieren.
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Über einen kurzen Rückruf wäre ich Ihnen sehr verbunden; …“
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Der angeschriebene Prüfer leitete die klägerische E-Mail am 4. Juli 2017 an den Vorsitzenden der Prüfungskommission mit dem Hinweis weiter, er werde nicht darauf antworten. Der Vorsitzende der Prüfungskommission übersandte die E-Mail am 6. Juli 2017 an das Landesjustizprüfungsamt.
10
In der am 10. Juli 2017 stattgefundenen mündlichen Prüfung wurde die Leistung des Klägers im Prüfungsgebiet Zivilrecht mit 9 Punkten bewertet. Am Schluss der mündlichen Prüfung wurde dem Kläger unter anderem die Gesamtnote der Ersten Juristischen Staatsprüfung bekannt gegeben. Zudem erhielt er im Folgenden die Prüfungsbescheinigung vom 10. Juli 2017, in der als Prüfungsgesamtnote der Ersten Juristischen Staatsprüfung die Note „befriedigend“ (7,32 Punkte) ausgewiesen war.
11
Nach Anhörung des Klägers teilte die Vorsitzende des Prüfungsausschusses für die Erste Juristische Staatsprüfung dem Kläger mit Bescheid vom 12. September 2017 unter Ziffer I. mit, der Prüfungsausschuss für die Erste Juristische Staatsprüfung habe beschlossen, „die Leistung in der mündlichen Prüfung im Prüfungsgebiet Zivilrecht der Ersten Juristischen Staatsprüfung 2017/1“ des Klägers nach § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 der geltenden Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) mit der Note „ungenügend“ (0 Punkte) zu bewerten. Unter Ziffer II. ordnete die Vorsitzende des Prüfungsausschusses die sofortige Vollziehung des Beschlusses an. Mit Schreiben vom 14. September 2017 wurde dem Kläger bezugnehmend auf den Bescheid vom 12. September 2017 mitgeteilt, „die Prüfungsgesamtnote der Ersten Juristischen Staatsprüfung wurde entsprechend § 11 Abs. 7 Satz 2 JAPO berichtigt“. Der Kläger wurde aufgefordert, die nunmehr unrichtig gewordene Prüfungsbescheinigung an das Landesjustizprüfungsamt zurückzusenden. Es werde ihm sodann eine neue Prüfungsbescheinigung und - nach Einreichung der Unterlagen zur universitären Schwerpunktbereichsprüfung - das Zeugnis über die Erste Juristische Staatsprüfung übermittelt.
12
Die vom Kläger gegen den Bescheid vom 12. September 2017 erhobene Anfechtungsklage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 23. März 2021 ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Klage fehle das Rechtsschutzbedürfnis für eine isolierte Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids. Die dem Kläger zwischenzeitlich zugesandte Prüfungsbescheinigung vom 8. August 2018 sowie das Zeugnis über die Erste Juristische Staatsprüfung mit der Prüfungsgesamtnote von 8,94 Punkten seien mangels Anfechtung bestandskräftig geworden. Im Fall des Obsiegens des Klägers und der Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids müsse die Prüfungsbescheinigung ebenfalls abgeändert werden. Dies sei nach Eintritt der Bestandskraft der Prüfungsbescheinigung jedoch nicht mehr möglich, sodass für eine isolierte Aufhebung des Bescheids vom 12. September 2017 kein Rechtsschutzinteresse bestehe. Eine Wiedereinsetzung des Klägers in die Klagefrist gegen die Prüfungsbescheinigung scheitere an § 60 Abs. 3 VwGO.
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Mit der vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Berufung verfolgt der Kläger sein Rechtsschutzziel weiter. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht von der Unzulässigkeit der Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 12. September 2017 ausgegangen. Die Prüfungsbescheinigung setze lediglich wiederholend den Regelungsgehalt des angefochtenen Bescheids um. Zudem sei die Klage begründet, weil der streitgegenständliche Bescheid rechtswidrig ergangen sei. Die prüfungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage für diesen sei mangels Bestimmtheit verfassungswidrig. Der Beklagte setze Unterschleif gleichbedeutend mit Unredlichkeit. Jedes unlautere Verhalten, das die Chancengleichheit zu beeinträchtigen beabsichtige, sei verboten. Diese Auffassung führe zu einem konturlosen Verständnis von Unterschleif. Der Wissensvorsprung, der beispielsweise durch die Einsicht in ein fremdes Prüfungsprotokoll zu erlangen gesucht werde, sei um ein Vielfaches höher als das, was der Kläger durch seine Frage zu erlangen versucht habe. Zudem gebe es keine detaillierten Hinweise und Richtlinien des Beklagten zur Vorbereitung auf den mündlichen Teil der Staatsprüfung. Durch das inoffizielle Dulden des kommerziellen Handels mit Protokollen habe das Landesjustizprüfungsamt selbst die Grenze zwischen rechtmäßiger und sanktionsbewehrter Vorbereitung in objektiv nicht abgrenzbarer Weise verzerrt. Zudem werde die Chancengleichheit gegenüber den anderen Teilnehmern der Prüfungskampagne nicht beeinträchtigt. Der Kläger habe durch die Anfrage gerade die Benachteiligung ausgleichen wollen, der er in Ermangelung von Prüfungsprotokollen ausgesetzt war. Zudem habe der Kläger das straffreie Vorstadium nicht verlassen. Er habe die gegenständliche E-Mail verfasst, um ein Gespräch mit dem Prüfer im Zivilrecht führen zu können. Zu diesem Gespräch, in dem möglicherweise sanktionswürdige Fragen hätten gestellt werden können, sei es jedoch nicht gekommen. Der Beklagte verkenne, dass mit der Bitte um Rückruf die Tatbestandsverwirklichung gerade nicht räumlich und zeitlich unmittelbar bevorgestanden habe. Zudem entspreche es nicht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass der angeschriebene Prüfer anrufe und unvermittelt prüfungsrelevante Informationen ausplaudere. Da der Kläger gerade einen Rückruf und keine Informationen per E-Mail begehrt habe, habe er mit dem Versand der Nachricht noch nicht alles zur Tatverwirklichung Erforderliche getan. Mindestens die Annahme des Rückrufs wäre noch nötig gewesen. Indem der Kläger den angeschriebenen Prüfer nicht an den avisierten Rückruf erinnert oder auf andere Art und Weise die Tatausführung fortgesetzt habe, sei er vom unbeendeten Versuch zurückgetreten. Schließlich sei eine Sanktionierung des Prüfungsteils mit 0 Punkten unverhältnismäßig. Die Anfrage an den Prüfer als solche sei nicht geeignet gewesen, dem Kläger einen unlauteren Vorteil zu verschaffen. Der Kläger hätte allenfalls erfahren, was andere Prüfer durch die Bekanntgabe ihrer „Fachanwaltschaften“ bzw. auf der jeweiligen Homepage preisgäben. Es sei zu betonen, dass der Kläger sich vollständig offengelegt und in keiner Weise täuschend agiert habe. Ohne die Aufforderung, die der angeschriebene Prüfer ihm durch eine Mitarbeiterin habe ausrichten lassen, hätte der Kläger keine E-Mail verfasst.
15
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des Verwaltungsgerichts vom 23. März 2021 den Bescheid des Beklagten vom 12. September 2017 aufzuheben.
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Der Beklagte widersetzt sich der Berufung des Klägers und beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
18
Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, auf die Frage der Zulässigkeit der Klage komme es nicht an, da die Klage jedenfalls unbegründet sei. Gegen die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage des Bescheids bestünden keine Bedenken. Die Voraussetzungen für einen Unterschleif i.S.v. § 11 Abs. 1 Satz 1 JAPO seien erfüllt. Hierfür genüge bereits der Versuch, das Ergebnis einer Prüfungsarbeit durch Unterschleif, Täuschung oder Benutzung nicht zugelassener Hilfsmittel zu eigenem oder fremdem Vorteil zu beeinflussen. Der auslegbare Rechtsbegriff des Unterschleifs umfasse dabei jedes prüfungsbezogene unlautere Verhalten, welches darauf abziele, sich oder einem Dritten einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen, sodass die Chancengleichheit der übrigen Prüfungsteilnehmer beeinträchtigt sei. Durch die Nachricht an den Prüfer, in der der Kläger seine persönliche Situation und das nach seiner Ansicht als Versagen zu wertende Prüfungsergebnis der schriftlichen Prüfungen schildere und den Prüfer darum bitte, ihm mitzuteilen, in welchen Rechtsgebieten er „brilliere“, versuche sich der Kläger einen Vorteil gegenüber seinen Mitprüflingen zu verschaffen, indem er mögliche Prüfungsbereiche in Erfahrung bringen wollte, über die die anderen Mitprüflinge mangels vorhandener Informationen - etwa in Form von Prüferprotokollen oder Internetauftritten des Prüfers - nicht verfügten. Das Verhalten ziele daher darauf ab, die von § 11 Abs. 1 Satz 1 JAPO geschützte Chancengleichheit der Prüflinge zu beeinträchtigen. Das Verfassen und Absenden der Nachricht stelle auch kein bloßes „straffreies Vorbereitungsstadium“ dar. Die Nachricht des Klägers habe bereits sein konkretes Anliegen enthalten. Trotz der Bitte um einen Rückruf wäre daher ohne Weiteres eine Beantwortung der Frage auf schriftlichem Wege möglich gewesen, sodass kein wesentlicher „Zwischenakt“ mehr zur „Tatbestandsverwirklichung“ notwendig gewesen sei. Der Kläger habe durch das Absenden der Nachricht mit seinem konkreten Anliegen bereits sowohl die „subjektive Schwelle zum Jetzt - geht‘s - los“ überschritten als auch objektiv die von § 11 Abs. 1 Satz 1 JAPO geschützte Chancengleichheit unmittelbar gefährdet. Im Hinblick auf die geltend gemachte Unverhältnismäßigkeit der Bewertung mit 0 Punkten werde darauf hingewiesen, dass eine Rechtsgrundlage für eine andere Bewertung der Prüfung, etwa mit vier oder fünf Punkten, nicht existiere. Insoweit sei dem Beklagten kein Entscheidungsspielraum eröffnet. Zudem sei der vorliegende Fall auch im Hinblick auf § 11 Abs. 6 JAPO geprüft und gewürdigt worden. Ein vollständiges Absehen von einer Ahndung des Verstoßes sei allerdings aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht geboten gewesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und auf die Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht ist zu Unrecht von der Unzulässigkeit der vom Kläger gegen den Bescheid vom 12. September 2017 erhobenen Anfechtungsklage ausgegangen (nachfolgend A.). Da der Bescheid der Vorsitzenden des Prüfungsausschusses für die Erste Juristische Staatsprüfung, mit dem dem Kläger der Beschluss des Prüfungsausschusses mitgeteilt wurde, seine Leistung in der mündlichen Prüfung der Ersten Juristischen Staatsprüfung 2017/1 im Prüfungsgebiet Zivilrecht werde wegen versuchten Unterschleifs (nachträglich) mit der Note „ungenügend“ bewertet, rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist die Anfechtungsklage zudem begründet (nachfolgend B.). Der Bescheid vom 12. September 2017 ist daher unter Abänderung des angegriffenen Urteils aufzuheben.
21
A. Die Anfechtungsklage ist zulässig. Insbesondere hat der Kläger auch nach Übermittlung der Prüfungsbescheinigung sowie des Zeugnisses über die Erste Juristische Staatsprüfung, beides vom 8. August 2018, ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung des Bescheids vom 12. September 2017. Weder die Prüfungsbescheinigung vom 8. August 2018 noch das Prüfungszeugnis vom gleichen Tag enthält eine Regelung i.S.v. Art. 35 Satz 1 BayVwVfG. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts ist daher beides der Bestandskraft nicht fähig.
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I. Die dem Kläger mit Schreiben des Landesjustizprüfungsamts vom 8. August 2018 übermittelte Prüfungsbescheinigung ist kein Verwaltungsakt i.S.v. Art. 35 Satz 1 BayVwVfG und damit der Bestandskraft nicht fähig.
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1. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Bestandskraft der dem Kläger zwischenzeitlich übersandten Prüfungsbescheinigung stünde einer Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids entgegen, träfe nur dann zu, wenn es sich bei der Prüfungsbescheinigung um einen Verwaltungsakt i.S.v. Art. 35 Satz 1 BayVwVfG handeln würde. Ob ein Verwaltungshandeln die Begriffsmerkmale des Art. 35 Satz 1 BayVwVfG erfüllt, kann nicht dem Art. 35 BayVwVfG selbst, sondern nur dem jeweils einschlägigen Fachrecht entnommen werden. Damit kann die Frage, ob der Prüfungsbescheinigung Regelungsqualität i.S.d. Art. 35 Satz 1 BayVwVfG zukommt, nur anhand der hier einschlägigen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen beantwortet werden. Fehlen dort ausdrückliche Festlegungen, ist die Verwaltungsaktqualität der Prüfungsbescheinigung mithilfe der üblichen Auslegungsmethoden zu beantworten (vgl. BVerwG, U.v. 23.5.2012 - 6 C 8.11 - BayVBl 2013, 24 Rn. 14).
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2. Obwohl die neue Prüfungsbescheinigung als Prüfungsgesamtnote der Ersten Juristischen Staatsprüfung des Klägers die Note „befriedigend“ und den Punktwert 6,57 ausweist und sie somit die dem Kläger am 10. Juli 2017 vom Vorsitzenden seiner Prüfungskommission bekanntgegebene Prüfungsgesamtnote „befriedigend“ mit einem Punktwert von 7,32 faktisch ändert, kommt ihr im Hinblick auf die Prüfungsgesamtnote keine selbständige rechtliche Bedeutung zu. Vielmehr ist die Berichtigung der Prüfungsgesamtnote - wie sich zutreffend aus dem Schreiben des Beklagten an den Kläger vom 14. September 2017 ergibt - eine Konsequenz des streitgegenständlichen Bescheids vom 12. September 2017.
25
a) Ist bei Erlass einer Entscheidung über die Rechtsfolgen nach § 11 Abs. 1 bis 6 der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen - JAPO - vom 13. Oktober 2003 in der hier maßgeblichen Fassung vom 10. September 2013 (der insoweit der aktuellen Fassung entspricht) die Prüfung bereits durch Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses beendet, ist sie gemäß § 11 Abs. 7 Satz 2 JAPO nachträglich für nicht bestanden zu erklären oder die Prüfungsgesamtnote entsprechend zu berichtigen. Ein bereits ausgestelltes Prüfungszeugnis ist einzuziehen (§ 11 Abs. 7 Satz 3 JAPO).
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b) Die Voraussetzungen des § 11 Abs. 7 Satz 2 JAPO für die Berichtigung der Prüfungsgesamtnote lagen vor.
27
Mit der Bekanntgabe der Einzelnoten und Punktzahlen, der Gesamtnote der mündlichen Prüfung sowie der Prüfungsgesamtnote und deren Punktwert durch das vorsitzende Mitglied seiner Prüfungskommission am Schluss der mündlichen Prüfung am 10. Juli 2017 war die Erste Juristische Staatsprüfung des Klägers gemäß § 34 Abs. 2 Satz 2 JAPO abgelegt. Die mündliche Eröffnung des Prüfungsgesamtergebnisses durch den Vorsitzenden der Prüfungskommission (vgl. § 34 Abs. 2 Satz 1 JAPO) ist als rechtsverbindliche Prüfungsentscheidung und damit als mündlich erlassener Verwaltungsakt (Art. 35 Satz 1, Art. 37 Abs. 2 Satz 1 BayVwVfG) anzusehen (vgl. für die Zweite Juristische Staatsprüfung BayVGH, B.v. 25.4.2008 - 7 ZB 07.2331 - BayVBl 2009, 603 Rn. 9; Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 699). Der dem Kläger in Folge der mündlichen Bekanntgabe der Prüfungsentscheidung ausgehändigten Prüfungsbescheinigung, aus der nach § 35 Satz 1 JAPO die Prüfungsgesamtnote der Ersten Juristischen Staatsprüfung nach Notenstufe und Punktwert ersichtlich ist, kommt keine eigene Regelungswirkung zu.
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Mit dem nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO sofort vollziehbaren Bescheid vom 12. September 2017, der bezüglich seiner Wirkungen bis zur endgültigen Klärung einem unanfechtbaren Verwaltungsakt weithin gleichgestellt ist, hat der dafür nach § 7 Abs. 2 Nr. 4 JAPO (i.d.v. 1.1.2016 bis 30.4.2019 geltenden Fassung, der insoweit der aktuellen Fassung entspricht) zuständige Prüfungsausschuss für die Erste Juristische Staatsprüfung die mündliche Prüfungsleistung des Klägers im Fach Zivilrecht wegen versuchten Unterschleifs nachträglich mit der Note „ungenügend“ (0 Punkte) bewertet. Somit war die Prüfungsgesamtnote zwingend nach § 11 Abs. 7 Satz 2 JAPO zu berichtigen. Die Korrektur der Prüfungsgesamtnote erfolgt dabei anhand der Vorgaben in § 34 Abs. 1 Satz 2 JAPO, wonach sie sich zu 70% aus der Gesamtnote der schriftlichen Prüfung und zu 30% aus der Gesamtnote der mündlichen Prüfung zusammensetzt. Die demzufolge - ebenfalls als Konsequenz des streitgegenständlichen Bescheids - neu zu ermittelnde Gesamtnote der mündlichen Prüfung beruht auf § 33 Abs. 1 Satz 2 JAPO und errechnet sich aus der Summe der Einzelnoten, geteilt durch drei. Die berichtigte Prüfungsgesamtnote enthält folglich keinerlei eigenständige prüfungsspezifische Wertungen, deren Ergebnis dem Kläger mittels Verwaltungsakt bekanntzugeben wäre, sondern beruht ausschließlich auf den in § 33 Abs. 1 Satz 2 und § 34 Abs. 1 Satz 2 JAPO normierten Berechnungsvorgaben. Von der dem Kläger übersandten Prüfungsbescheinigung vom 8. August 2018, mit der ihm erstmals die berichtigte Prüfungsgesamtnote mitgeteilt wurde, geht keine über den streitgegenständlichen Bescheid hinausgehende Regelungswirkung i.S.v. Art. 35 Satz 1 BayVwVfG aus. Erst die Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids hat Auswirkungen auf die in der Prüfungsbescheinigung ausgewiesene Prüfungsgesamtnote.
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II. Auch das Prüfungszeugnis der Ersten Juristischen Staatsprüfung vom 8. August 2018 enthält keine selbständige Regelung i.S.v. Art. 35 Satz 1 BayVwVfG und ist deshalb ebenfalls der Bestandskraft nicht fähig.
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Gemäß § 5d Abs. 2 Satz 4 Halbs. 1 DRiG (i.d.v. 8.9.2015 bis 28.11.2019 geltenden Fassung, der insoweit der aktuellen Fassung entspricht) weist das Zeugnis über die erste Prüfung die Ergebnisse der bestandenen universitären Schwerpunktbereichsprüfung und der bestandenen staatlichen Pflichtfachprüfung sowie zusätzlich eine Gesamtnote aus. Auch die hiernach auszuweisende Gesamtnote beruht ausschließlich auf mathematischen Vorgaben. § 5d Abs. 2 Satz 4 Halbs. 2 DRiG bestimmt, dass in die im Zeugnis ausgewiesene Gesamtnote das Ergebnis der bestandenen staatlichen Pflichtfachprüfung mit 70% und das Ergebnis der bestandenen universitären Schwerpunktbereichsprüfung mit 30% einfließen. Die nach § 11 Abs. 7 Satz 2 JAPO berichtigte Prüfungsgesamtnote ist damit als Ergebnis der staatlichen Pflichtfachprüfung in die Gesamtnote eingeflossen.
31
III. Da lediglich Verwaltungsakte der Bestandskraft fähig sind (vgl. BVerwG, U.v. 23.5.2012 - 6 C 8.11 - BayVBl 2013, 24 Rn. 13), steht weder die fehlende Anfechtung der Prüfungsbescheinigung vom 8. August 2018 noch des Prüfungszeugnisses vom gleichen Tag der Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids entgegen.
32
Der Kläger macht gegen die Berechnung der korrigierten Prüfungsgesamtnote seiner Ersten Juristischen Staatsprüfung bzw. gegen die Berechnung der im Prüfungszeugnis ausgewiesenen Gesamtnote keine selbständigen Einwände geltend und musste daher entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts weder gegen die Prüfungsbescheinigung noch gegen das Prüfungszeugnis gerichtlich vorgehen. Die inhaltliche Richtigkeit beider Dokumente hängt lediglich von der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids vom 12. September 2017 ab. Ausschließlich dieser muss im verwaltungsgerichtlichen Verfahren auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüft werden. Mit der Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids lebt die ursprünglich am 10. Juli 2017 im Prüfungsfach Zivilrecht vergebene mündliche Prüfungsnote von 9 Punkten wieder auf. Dem Kläger ist anschließend sowohl eine neue Prüfungsbescheinigung als auch ein neues Prüfungszeugnis auszustellen.
33
B. Die Anfechtungsklage ist auch begründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Vorsitzenden des Prüfungsausschusses für die Erste Juristische Staatsprüfung ist materiell rechtswidrig (nachfolgend I.) und verletzt den Kläger in seinem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG (nachfolgend II.).
34
I. Der streitgegenständliche Bescheid ist materiell rechtswidrig. Das Verhalten des Klägers, sich im Vorfeld der mündlichen Staatsprüfung am 4. Juli 2017 per E-Mail an den (mutmaßlichen) Prüfer im Fach Zivilrecht zu wenden, an diesen die Frage zu richten, in welchem vom Prüfungsstoff erfassten Rechtsgebiet er „brilliere“ und ihn unter Angabe seiner Mobilfunknummer um Rückruf zu bitten, ist nicht als versuchter Unterschleif zu werten, obwohl der Kläger zugleich die persönlichen Umstände genannt hat, die nach seiner Ansicht für das Ergebnis seiner schriftlichen Prüfung maßgebend waren. Die mit Beschluss des Prüfungsausschusses verhängte und mit streitgegenständlichem Bescheid bekanntgegebene Sanktion, die Leistung des Klägers in der mündlichen Prüfung im Prüfungsgebiet Zivilrecht mit der Note „ungenügend“ (0 Punkte) zu bewerten, kann daher nicht auf § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 JAPO gestützt werden.
35
1. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 JAPO, der nach § 11 Abs. 2 JAPO entsprechend für die mündliche Prüfung gilt, ist eine Arbeit mit der Note „ungenügend“ (0 Punkte) zu bewerten, wenn der Prüfling versucht, das Ergebnis einer Prüfungsarbeit durch Unterschleif, Täuschung oder Benutzung nicht zugelassener Hilfsmittel zu eigenem oder fremdem Vorteil zu beeinflussen.
36
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unterfällt jede Form der Sanktionierung des Fehlverhaltens eines Prüflings dem Gesetzesvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG, der durch das prüfungsspezifische Bestimmtheitsgebot konkretisiert wird. Danach muss vor allem die Grenze zwischen dem Bestehen und dem Nichtbestehen einer Prüfung vom Normgeber eindeutig gezogen sein. Dementsprechend unterliegen die Rechtsgrundlagen für die Verhängung von Sanktionen, die sich auf das Bestehen einer Prüfung auswirken können, besonders strengen Bestimmtheitsanforderungen. Danach müssen sowohl das zu sanktionierende Verhalten als auch die an dieses Verhalten geknüpfte Sanktionsfolge so klar ersichtlich sein, dass jeder Prüfling sein Verhalten problemlos danach ausrichten und jede Gefahr des Eingriffs in sein Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG vermeiden kann (vgl. zuletzt BVerwG, U.v. 27.2.2019 - 6 C 3.18 - BVerwGE 164, 379 Rn. 15 m.w.N.).
37
b) § 11 Abs. 1 Satz 1 JAPO sanktioniert die Erlangung unlauterer Vorteile durch Unterschleif, Täuschung oder Benutzung nicht zugelassener Hilfsmittel. Die Regelung stellt die normative Grundlage dar, um Täuschungshandlungen durch Sanktionen zu ahnden. § 11 Abs. 1 Satz 1 JAPO dient der Sicherung der Chancengleichheit zugunsten der ehrlichen Prüfungskandidaten. Mit der Regelung soll gewährleistet werden, dass der Prüfling die für den Erfolg seiner Prüfung maßgeblichen Leistungen persönlich und ohne fremde Hilfe erbringt, soweit diese nicht im Einzelfall zugelassen ist. Aus dem Gebot der persönlich zu erbringenden Leistung und dem Zweck der Prüfung, die wahren Leistungen und Fähigkeiten des Prüflings zu ermitteln, folgt, dass vorgetäuschte oder sonst wie erschlichene Leistungen in keiner Weise dazu beitragen können, den Prüfungserfolg zu rechtfertigen (vgl. Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, Rn. 228).
38
c) Grundsätzliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit von § 11 Abs. 1 Satz 1 JAPO bestehen nicht (vgl. grundlegend zur wortgleichen Vorgängervorschrift des § 31 Abs. 1 der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen v. 26.11.1985 i.d.F. der Änderungsverordnung v. 1.6.1990 BayVGH, U.v. 3.7.1993 - 3 B 93.48 - n.v. sowie BVerwG, B.v. 1.8.1994 - 6 B 64.93 - BayVBl 1995, 350). Die Vorschrift ist - trotz der relativ weiten Fassung der Tatbestandsvoraussetzungen - hinreichend bestimmt (vgl. zur ähnlich formulierten Regelung im früheren § 14 Abs. 1 Satz 1 der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen des Freistaats Sachsen BVerwG, U.v. 21.3.2012 - 6 C 19.11 - NVwZ 2021, 1188). § 11 Abs. 1 JAPO genügt zudem den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Die Norm enthält keinen Automatismus dahingehend, dass die Prüfungsarbeit bei Unterschleif immer mit „ungenügend“ zu bewerten wäre. Vielmehr liegt ihr ein abgestuftes System zu Grunde: In schweren Fällen ist der Prüfungsteilnehmer von der Prüfung auszuschließen und die gesamte Prüfung mit „ungenügend“ zu bewerten. Bei weniger gravierenden Verstößen ist die konkrete Prüfungsarbeit mit „ungenügend“ zu bewerten, während bei bloßem Besitz nicht zugelassener Hilfsmittel der Prüfling sich durch den Nachweis, dass der Besitz weder auf Vorsatz noch auf Fahrlässigkeit beruht, entlasten kann (vgl. BayVGH, B.v. 10.2.2021 - 7 ZB 19.939 - BayVBl 2021, 525 Rn. 34; U.v. 21.1.2016 - 7 BV 15.1233 - BayVBl 2016, 376 Rn. 16 f.). Obwohl die Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 1 JAPO wie alle Eingriffsbefugnisse unter dem Vorbehalt steht, dass sie in jedem Einzelfall in einer den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügenden Weise ausgeübt wird, ist es mit Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar, dass der Behörde kein Entschließungsermessen eingeräumt wird. In einem solchen Fall bedarf es der Prüfung im Einzelfall, ob die Sanktionsverhängung verhältnismäßig ist. Die Prüfungsbehörde kann so ohne Verletzung der ihr durch Art. 20 Abs. 3 GG auferlegten Bindung an Gesetz und Recht Konstellationen gerecht werden, in denen der Unwertgehalt eines unlauteren Prüfungsverhaltens ausnahmsweise als gering anzusehen ist und dieses daher die Schwelle zur Sanktionswürdigkeit nicht überschreitet (vgl. BVerwG, U.v. 21.3.2012 - 6 C 19.11 - NVwZ 2021, 1188 Rn. 27 m.w.N.). § 11 Abs. 6 JAPO sieht vor, dass in minder schweren Fällen von einer Ahndung abgesehen werden kann.
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2. Die Wertung des Beklagten, das vom Kläger mit der E-Mail vom 4. Juli 2017 an den Tag gelegte Verhalten stelle einen versuchten Unterschleif dar, geht fehl. Das Verhalten des Klägers kann daher nicht nach § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 JAPO sanktioniert werden.
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a) Die in § 11 Abs. 1 Satz 1 JAPO genannten Tathandlungen „Unterschleif, Täuschung oder Benutzung nicht zugelassener Hilfsmittel“ lassen sich nicht in aller Schärfe voneinander abgrenzen. Eine Täuschungshandlung setzt dabei voraus, dass ein Prüfling eine selbständige und reguläre Prüfungsleistung vorspiegelt, obwohl er sich bei deren Erbringung in Wahrheit unerlaubte Vorteile verschafft, weil er sich beispielsweise ungerechtfertigt krankmeldet und dennoch weiterarbeitet oder sich unerlaubter Hilfe bedient (Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, Rn. 229 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Senats werden mit dem prüfungsrechtlichen Terminus „Unterschleif“ die Fälle erfasst, in denen sich der Prüfungsteilnehmer unerlaubter Hilfe bedient oder zu bedienen versucht (vgl. BayVGH, B.v. 5.10.2009 - 7 CE 09.1893 - juris Rn. 22; vgl. insoweit auch die gleichlautende Legaldefinition in § 57 Abs. 1 Satz 1 der Gymnasialschulordnung). Als Synonyme für den Begriff „Unterschleif“ werden nach „Duden - Das Synonymwörterbuch“ (7. Aufl. 2019) die Begriffe „Hinterziehung“ und „Unredlichkeit“ genannt.
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b) Der Beklagte wertet als „Unterschleif“ jedes prüfungsbezogene unlautere Verhalten des Prüflings, welches darauf abzielt, sich oder einem Dritten einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen, sodass die Chancengleichheit der übrigen Prüfungsteilnehmer beeinträchtigt ist. Ob diese weite, über die schulrechtliche Definition hinausgehende Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Unterschleif“ den Anforderungen an die normative Bestimmtheit von Sanktionsnormen und damit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG genügt, ist zweifelhaft. Auch die Auslegung einer Norm muss den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG entsprechen und darf nicht eine Undeutlichkeit aufweisen, die dem prüfungsspezifischen Bestimmtheitsgebot zuwiderläuft. Die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Unterschleif“ darf insbesondere nicht dazu führen, dass § 11 Abs. 1 Satz 1 JAPO den Charakter einer sanktionsrechtlichen Generalklausel erhält, dessen Anwendung für den Prüfling unkalkulierbar wird, weil er an ihr sein Verhalten nicht ausrichten kann. Mit dem prüfungsspezifischen Bestimmtheitsgebot nicht vereinbar ist, wenn sich durch die konkrete Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Unterschleif“ im Ergebnis jegliches Verhalten sanktionieren lässt, das sich irgendwie auf die Chancengleichheit der übrigen Prüfungsteilnehmer auswirken kann. Um eine verfassungsgemäße Anwendung von § 11 Abs. 1 Satz 1 JAPO zu gewährleisten, muss die prinzipielle Zielsetzung des Normgebers, eine selbständige und reguläre Prüfungsleistung sicherzustellen, bei der Auslegung des Begriffs „Unterschleif“ berücksichtigt werden.
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c) Im Ergebnis dahingestellt bleiben kann, ob die Interpretation des unbestimmten Rechtsbegriffs „Unterschleif“ durch den Beklagten mit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar ist. Selbst dann, wenn das Verhalten des Klägers an der vom Beklagten zugrunde gelegten Auslegung zu messen wäre, liegt kein versuchter Unterschleif vor.
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aa) Dabei ist bereits fraglich, ob das Verhalten des Klägers als unlauter bewertet werden kann.
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Eine Legaldefinition des Begriffs „unlauter“ ist nicht ersichtlich. Nach „Duden - Das Synonymwörterbuch“ werden als Synonyme für den Begriff „unlauter“ u.a. die Begriffe „betrügerisch, unaufrichtig, unehrlich, arglistig, unredlich, unwahrhaftig, fragwürdig, illegal, regelwidrig, unerlaubt, unrechtmäßig“ genannt. Hiervon ausgehend dürfte das Verhalten des Klägers nicht unlauter sein. Denn die persönliche Kontaktaufnahme zu einem Prüfer im Vorfeld der mündlichen Prüfung ist nach der für den Kläger einschlägigen Prüfungsordnung nicht verboten und eine mündliche Prüfung findet naturgemäß nicht anonym statt. Auch hat der Kläger sein Bestreben, mit der Kontaktaufnahme letztlich eine Eingrenzung der prüfungsrelevanten (zivilrechtlichen) Rechtsgebiete zu erreichen, nicht verschleiert. Denn die hinter der E-Mail vom 4. Juli 2017 stehende Absicht, mit der gestellten Frage eine genauere Vorbereitung auf die mündliche Zivilrechtsprüfung erreichen zu wollen, ist offenkundig. Sein Verhalten mag aus Sicht des Beklagten nicht wünschenswert und zumindest für einen Prüfungskandidaten im Juristischen Staatsexamen unüblich sein. Die Einschätzung des nach § 7 Abs. 2 Nr. 4 JAPO in den Fällen des § 11 JAPO zuständigen Prüfungsausschusses für das Erste Juristische Staatsexamen, das Verhalten des Klägers sei unlauter, erscheint jedoch zweifelhaft.
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bb) Durch den Versuch, sich weitergehende Informationen über den Prüfer und dessen fachliche Präferenzen zu verschaffen, wird der in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz der Chancengleichheit, dem im Prüfungsrecht eine sehr hohe Bedeutung sowohl zugunsten als auch zulasten des Prüflings zukommt, zwar tangiert. Der Beklagte geht jedoch fehl in seiner Einschätzung, bereits durch die Nachfrage nach Eingrenzung der prüfungsrelevanten zivilrechtlichen Rechtsgebiete versuche der Kläger einen ungerechtfertigten Vorteil zu erlangen, durch den die Chancengleichheit der übrigen Prüfungsteilnehmer beeinträchtigt werden könne. Durch die Einordnung des klägerischen Verhaltens als die Chancengleichheit beeinträchtigend verschwimmt die Grenze zwischen dem, was der Beklagte an Möglichkeiten der Informationsgewinnung hinnimmt oder selbst eröffnet, und dem, was er als sanktionswürdig erachtet.
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(1) Abgesehen von Fällen kurzfristiger Verhinderung sind die jeweiligen Prüfer im zeitlichen Vorfeld der mündlichen Staatsprüfung namentlich bekannt, sodass sich Informationen über einen bestimmten Prüfer und dessen etwaige Prüfungspräferenzen regelmäßig auf vielfältige Weise eruieren lassen. Zu einer Vielzahl der Prüfer können fachliche Themen- und damit auch mögliche Prüfungsschwerpunkte durch Internetrecherche sowie durch die kommerziell bereitgestellten oder auf Gegenseitigkeit beruhenden Protokolle über frühere mündliche Examensprüfungen ermittelt werden. Informationen über Prüfungspräferenzen des jeweiligen Prüfers können darüber hinaus durch gezielte Erkundigungen bei anderen Prüflingen erlangt werden. Auch das jeweilige Prüferverhalten kann eine gezielte Vorbereitung auf die mündliche Prüfung ermöglichen. Bekanntermaßen verfügen manche Prüfer über ein präferiertes Prüfungsthema, das sie immer wieder zum Gegenstand mündlicher Examensprüfungen machen. Alle diese Möglichkeiten haben zur Folge, dass die Wahrung gleicher Wettbewerbsbedingungen unter den Prüfungsteilnehmern nicht vollständig gewährleistet wird, weil sich bestimmte Prüflinge Informationen beschaffen können, die anderen Prüflingen nicht zur Verfügung stehen. Sie sind sämtlich geeignet, den Grundsatz der Chancengleichheit zu beeinträchtigen, ohne dass der Beklagte dem entgegenwirkt oder entgegenwirken kann. Da nach § 32 Abs. 4 Satz 3 JAPO Studenten der Rechtswissenschaft (bzw. nach § 64 Abs. 4 Satz 1 JAPO Rechtsreferendare) als Zuhörer bei mündlichen Staatsprüfungen zugelassen werden können, ist es manchen Prüfungskandidaten sogar möglich, im Vorfeld der eigenen Prüfung an einer mündlichen Prüfung des ihm zugeteilten Prüfers teilzunehmen. Obwohl auf diese Weise die Verschaffung eines gezielten einseitigen Wettbewerbsvorteils gegenüber Mitprüflingen nicht ausgeschlossen werden kann, weil eben nicht alle Prüfungskandidaten die Möglichkeit der Teilnahme an einer mündlichen Prüfung „ihres“ Prüfers haben - beispielsweise, weil ein Prüfer kurzfristig ausgetauscht wird oder es sich um die erste bzw. einzige Prüfung des jeweiligen Prüfers handelt -, wird hierin keine Beeinträchtigung der Chancengleichheit zu sehen sein.
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(2) Auch ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger mit seiner E-Mail versucht hat, sich der unerlaubten Hilfe des Prüfers zu bedienen, zumal der Beklagte die Sanktionsverhängung ausdrücklich nicht auf § 11 Abs. 5 JAPO gestützt hat, wonach die Prüfung desjenigen, der versucht, Prüfer oder mit der Feststellung des Prüfungsergebnisses beauftragte Personen zu seinem Vorteil zu beeinflussen, mit der Note „ungenügend“ (0 Punkte) nicht bestanden bewertet wird. Im schriftlichen Prüfungsverfahren rechtfertigt jedenfalls die Kontaktaufnahme mit einem Prüfer und die damit verbundene eigenmächtige Durchbrechung der Anonymität die Sanktionierung mit einem Bewertungsausschluss durch Benotung mit der Note „ungenügend“ (0 Punkte) im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG grundsätzlich nicht, es sei denn, die Kontaktaufnahme ist nach den Umständen geeignet, die Unbefangenheit des Prüfers zu beeinflussen und daher zugunsten des Prüflings einen einseitigen Wettbewerbsvorteil im Prüfungsverfahren zu schaffen (vgl. BVerwG, U.v. 21.3.2012 - 6 C 19.11 - NVwZ 2012, 1188 Rn. 37 ff. m.w.N.). Geht man zudem mit dem Bundesverwaltungsgericht von einem Prüfer aus, der zu einer selbständigen, eigenverantwortlichen, nur seinem Wissen und Gewissen verpflichteten Bewertung der Leistungen eines Prüflings fähig und bereit ist (vgl. BVerwG, U.v. 21.3.2012 - 6 C 19.11 - NVwZ 2012, 1188 Rn. 35 m.w.N), kann der lediglich nach Eingrenzung fragende Prüfling in Anbetracht der Vielzahl und Weite der in § 18 Abs. 2 JAPO genannten (zivilrechtlichen) Rechtsgebiete allenfalls Informationen erhalten, die er auch auf andere Weise erlangen könnte. Wie der Fall des Klägers zeigt, ist bereits nicht ernsthaft davon auszugehen, dass ein kontaktierter Prüfer auf eine derartige Anfrage antworten oder den Prüfling gar telefonisch kontaktieren wird. Selbst dann, wenn der Prüfer schriftlich oder mündlich eine Eingrenzung der in § 18 Abs. 2 JAPO aufgeführten (zivilrechtlichen) Pflichtfächer vornehmen würde, ist es nicht wahrscheinlich, dass er in der mündlichen Prüfung Fragen genau zu diesen Rechtsgebieten stellen wird. Die Vertreterin des Beklagten hat in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, man gehe selbst in Bezug auf die Anwesenheit eines Prüflings in der mündlichen Prüfung eines anderen Kandidaten nicht davon aus, dass der Prüfer in der späteren Prüfung identische Fragen stellen werde. Da die Frage des Klägers lediglich auf eine nähere Eingrenzung von Rechtsgebieten zielt, nicht jedoch eine Eingrenzung auf bestimmte Prüfungsthemen oder gar Prüfungsfragen zum Gegenstand hat, ist weder ersichtlich noch führt der Beklagte aus, wie durch das Verhalten des Klägers die Erbringung und Bewertung von persönlich und ohne Hilfe erbrachter Leistungen gefährdet werden kann. Es ist nicht erkennbar, dass allein die Nachfrage des Klägers zu einer Beeinträchtigung der Chancengleichheit der Mitprüflinge führen kann, die über das hinausgeht, was an Beeinträchtigung durch die aufgezeigten anderen Möglichkeiten hingenommen wird.
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d) Eine andere Bewertung folgt auch nicht aufgrund der vom Kläger in der E-Mail vom 4. Juli 2017 preisgegebenen persönlichen Informationen, warum aus seiner Sicht das in der schriftlichen Prüfung erzielte Ergebnis hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben ist. Wie die Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, gehen die Informationen des Klägers in ihrem Gehalt nicht über das hinaus, was auch in dem vor der mündlichen Prüfung stattfindenden Vorgespräch zwischen dem Vorsitzenden der Prüfungskommission und einem Prüfling zur Sprache kommen kann.
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II. Die somit rechtwidrige Sanktionierung seines Verhaltens verletzt den Kläger in seinem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG.
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Nach alledem ist der Bescheid vom 12. September 2017 auf die Berufung des Klägers aufzuheben.
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C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 709 ff. ZPO.
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D. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.