Titel:
unbegründete Asylklage (Irak)
Normenketten:
AsylG § 3, § 4, § 34 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Irakische Staatsangehörige sunnitischen Glaubens müssen jedenfalls derzeit nicht mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit mit einer (Gruppen-)Verfolgung rechnen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen nicht zugänglich ist. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Irak, Flüchtlingseigenschaft, Abschiebung, Arztbrief
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 19.01.2023 – 4 ZB 23.30050
Fundstelle:
BeckRS 2022, 42000
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens als Gesamtschuldner.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Kläger, irakische Staatsangehörige kurdischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, begehren ihre Anerkennung als Asylberechtigte sowie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und weiter hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten.
2
Die Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der Kläger zu 3) bis 5). Die Kläger zu 1) bis 4) reisten im Dezember 2017 von Rumänien kommend in das Bundesgebiet ein und stellten am 16. Januar 2018 Asylanträge. Für die im Bundesgebiet geborene Klägerin zu 5) wurde am 28. Mai 2018 ebenfalls ein Asylantrag gestellt.
3
Gegenüber der Regierung der Oberpfalz, Zentrale Ausländerbehörde, gab der Kläger zu 1) am 8. Januar 2018 unter anderem an, seine Eltern und sein Bruder seien bereits verstorben. Ob seine Schwester noch lebe, wisse er nicht. Er habe die Klägerin zu 2) im November 1997 in Shingal geheiratet und im Irak als Schäfer gearbeitet.
4
Im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 17. Januar 2018 erklärte die Klägerin zu 2) unter anderem, sie hätten im Irak zuletzt im Dorf Dahoul in der Gemeinde Snune gelebt. Ihr Vater sei bereits verstorben. Zu ihren beiden Schwestern, ihrem Bruder und ihrer Mutter habe sie keinen Kontakt mehr, seit man ihnen in Bulgarien die Telefone abgenommen habe. Sie habe keine Schule besucht und neben ihrer Tätigkeit als Hausfrau dem Kläger zu 1) in der Landwirtschaft geholfen. Sie hätten 280 eigene Schafe gehabt und zusätzlich Schafe der Dorfbewohner gehütet. Der Kläger zu 1) habe ein Feld von seinem Vater geerbt. Im August 2014 hätten sie ihr Zuhause vor dem drohenden IS-Angriff fluchtartig verlassen und deshalb keine Papiere mitgenommen. Der Kläger zu 1) sei zu diesem Zeitpunkt bei den Schafen gewesen und erst nach der Flucht zu ihnen gestoßen. Letztlich hätten sie sich für ungefähr elf Monate in ein arabisches Dorf zu einem Araber namens S. begeben. Zunächst habe man sie dort gut behandelt. Dann habe ihr Nachbar H., mit dem sie zusammen geflohen seien und der die arabische Sprache beherrsche, bemerkt, dass S. mit dem IS telefoniere. S. habe von ihnen Fotos gemacht und sie für drei Tage in ein Zimmer gesperrt. Sie hätten befürchtet, dass S. sie dem IS übergeben wolle. Als er mit seinen Wachleuten weggefahren sei, seien sie nachts durch das Fenster entkommen, welches der Kläger zu 1) zerbrochen habe. Im Juni 2015 seien sie aus dem Irak ausgereist. Sie hätten im Irak niemanden, der sie aufnehmen würde. S. werde sie im Fall ihrer Rückkehr überall finden können.
5
Bei seiner Anhörung am 17. Januar 2018 gab der Kläger zu 1) im Wesentlichen an, er wisse nicht, wo sich seine Schwester und sein Onkel befinden würden. Er habe für zwei Jahre die Schule besucht und sei dennoch Analphabet. Er habe als Schäfer gearbeitet und 280 Schafe und ein geerbtes Feld besessen. Die Hälfte der Schafe habe seiner Schwester gehört. Anfang August 2014 habe sich der IS ihrem Heimatort genähert. Er habe dem Vater seines Nachbarn H. die Schafe gegeben. Unterwegs habe er seine Familie getroffen und sich in ein arabisches Dorf begeben, weil sein Freund dort eine einflussreiche und vermögende Person namens S. gekannt habe. S. sei auch Bauer gewesen und habe mehrere Felder besessen und Männer um sich gehabt. Die ersten zehn Monate in dem arabischen Dorf seien in Ordnung gewesen. Dann habe er von H. erfahren, dass S. sie an den IS verkaufen wolle. Man habe sie in ein Zimmer gesperrt. S. habe ihm eine Pistole auf den Kopf geschlagen. Als sie keine Stimmen mehr gehört hätten, hätten sie noch in der gleichen Nacht mit einem Stuhl eine Fensterscheibe eingeschlagen und seien geflohen. Sie könnten nicht in den Irak zurückkehren, weil sie dort kein Haus mehr hätten und niemanden mehr kennen würden. Sie hätten Angst vor dem IS und vor S., der damals auch Fotos von ihnen gemacht habe.
6
Anlässlich der Anhörung betreffend die Klägerin zu 5) am 2. Oktober 2019 erklärten die Kläger zu 1) und 2) im Wesentlichen, sie hätten keine näheren Verwandten im Irak, da die meisten auf der Flucht seien. Zu dem Bruder und einem Onkel mütterlicherseits des Klägers zu 1) bestehe kein Kontakt mehr. Die Klägerin zu 2) wisse nicht, wo sich ihre Schwestern derzeit aufhielten.
7
Mit Bescheid vom 27. August 2019, als Einschreiben zur Post gegeben am 4. September 2019, lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Kläger zu 1) bis 4) umfassend ab und stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten fest. Den Klägern wurde die Abschiebung in den Irak oder einen anderen aufnahmebereiten oder zur Rückübernahme verpflichteten Staat angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Die Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte lägen nicht vor. Es sei nicht mit Verfolgungsmaßnahmen seitens des IS zu rechnen. Stichhaltige Gründe, dass S. an ihnen weiterhin ein gesteigertes Interesse habe, hätten die Kläger zu 1) bis 4) nicht vorgetragen. Nach den Angaben der Kläger zu 1) und 2) habe sich S. ausschließlich finanziell bereichern wollen. Es sei zudem nicht ersichtlich, weshalb sich die Kläger erneut in dessen Wirkungsbereich niederlassen müssten. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus seien nicht gegeben. In der Provinz Ninive sei das Risiko, Opfer willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes zu werden, weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt. Abschiebungsverbote lägen nicht vor.
8
Mit Bescheid vom 30. April 2020, als Einschreiben zur Post gegeben am 4. Mai 2020, lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Klägerin zu 5) umfassend ab und stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten fest. Der Klägerin zu 5) wurde die Abschiebung in den Irak oder einen anderen aufnahmebereiten oder zur Rückübernahme verpflichteten Staat angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Die Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte lägen nicht vor. Eine konkret drohende, individuell begründete Furcht vor Verfolgung sei für die Klägerin zu 5) nicht geltend gemacht worden. Auch die Voraussetzung für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und für die Feststellung von Abschiebungsverboten seien nicht gegeben. Den Klägern zu 1) und zu 2) sei es zuzumuten, im Irak die Existenz ihrer Familie zu sichern.
9
Zur Begründung ihrer Klage ließen die Kläger zu 1) bis 4) mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 22. Januar 2020 bzw. die Klägerin zu 5) mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 10. März 2020 ausführen, die Beklagte verkenne die aktuelle Realität des Iraks und der Sunniten. Der bewaffnete Konflikt zwischen dem IS einerseits und der irakischen Armee, paramilitärischen Milizen, kurdischen Peschmerga-Kämpfern sowie der internationalen Koalition andererseits dauere unvermindert an. Der IS kontrolliere weiterhin bedeutende Gebiete, einschließlich von Teilen der Provinz Ninive. Im gesamten Irak würden nach wie vor schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen von allen lokalen Konfliktparteien begangen. Die allgemeine Sicherheitslage sei geprägt durch willkürliche Gewalt, eine hohe Gefahr von Terroranschlägen sowie unzählige Übergriffen und Gewalttaten gegen Zivilpersonen. 2017 habe es weiterhin mehr als drei Millionen Binnenflüchtlinge gegeben, von denen viele verarmt seien. Der IS übe verstärkt Anschläge gegenüber Minderheiten aus. Aufgrund des kurdischen Unabhängigkeitsreferendums sei ein Bürgerkrieg zu befürchten. Auch das Auswärtige Amt rate von Reisen in die Krisenregion ab und spreche Sicherheits- und Reisewarnungen aus. Sunnitische Kurden würden gewissermaßen zwischen den Stühlen sitzen, da viele den IS ablehnten, sich aber gleichzeitig vor den schiitisch dominierten Sicherheitskräften und den schiitischen Milizen fürchteten, die sich seit 2014 gebildet hätten. Mindestens 66 Sunniten seien nach der Übernahme Ramadis durch schiitischen Milizen ermordet und viele mehr misshandelt worden. In der neuen Ordnung würden Sunniten an den Rand gedrängt. Der Irak drohe im Konflikt der USA mit dem Iran zwischen die Fronten zu geraten. Auf die zur Klagebegründung jeweils weiterhin vorgelegten Anlagen wird Bezug genommen.
10
Die Kläger beantragen mit ihrer am 19. September 2019 beziehungsweise am 19. Mai 2020 eingegangenen Klage:
1. Der Bescheid der Beklagten vom 27. August 2019 beziehungsweise vom 30. April 2020 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen.
3. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
4. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern subsidiären Schutz zuzuerkennen.
5. Die Beklagte wird verpflichtet, hinsichtlich des Iraks das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
11
Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf den streitgegenständlichen Bescheid mit Schriftsatz vom 27. September 2019 bzw. vom 28. Mai 2020,
12
Mit Beschlüssen jeweils vom 18. Februar 2021 wurden das Verfahren RO 13 K 19.32026 und das Verfahren RO 13 K 20.30837 dem vormaligen Berichterstatter als Einzelrichter übertragen. Mit Beschluss vom 19. April 2021 wurde das Verfahren RO 13 K 19.32026 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung mit dem Verfahren RO 13 K 20. 30837 verbunden. Schließlich wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 25. November 2022 sowie auf den Inhalt der Gerichts- und Bundesamtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
13
1. Die zulässige Klage ist unbegründet. Den Klägern stehen zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt die geltend gemachten Ansprüche auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Anerkennung als Asylberechtigte (a)), auf Zuerkennung subsidiären Schutzes (b)) sowie auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG (c)) nicht zu. Auch im Übrigen ist der streitgegenständliche Bescheid nicht zu beanstanden (d)).
14
a) Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf Anerkennung als Asylberechtigte.
15
aa) Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG setzt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zunächst voraus, dass der Ausländer Flüchtling im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG ist.
16
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer ein Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr.1) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 2a) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2b). Dabei ist unerheblich, ob er ein zur Verfolgung führendes Merkmal tatsächlich aufweist, sofern ihm ein solches Merkmal von seinem Verfolger zugeschrieben wird, § 3b Abs. 2 AsylG.
17
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten zunächst Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Ferner gelten als Verfolgung Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Mögliche Verfolgungshandlungen werden in § 3a Abs. 2 AsylG beispielhaft aufgezählt.
18
Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von (1.) dem Staat, (2.) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, oder (3.) von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
19
Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG und der Verfolgungshandlung bzw. den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen. An einer gezielten Rechtsverletzung in diesem Sinne fehlt es bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge allgemeiner Auswirkungen von Naturkatastrophen, Revolution und Kriegen sowie sonstiger Missstände wirtschaftlicher Art (vgl. Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. März 2014 – 13 A 1305/13.A, m.w.N.).
20
Ob die vorgenannten Voraussetzungen vorliegen, ist anhand einer Prognose zu beurteilen, die von einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes auszugehen und die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 6. März 1990 – 9 C 14/89, m.w.N.).
21
Zu bejahen ist eine Verfolgungsgefahr nach dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles nicht zuzumuten ist, in den Heimatstaat zurückzukehren. Insoweit ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des jeweiligen Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann und für ihn nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 1. Juni 2011 – 10 C 10/10).
22
Für den Flüchtlingsschutz auf Grund der Bestimmung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU gilt eine Beweiserleichterung für solche Personen, die bereits verfolgt wurden bzw. von Verfolgung unmittelbar bedroht waren, denn diese Vorverfolgung enthält einen ernsthaften Hinweis darauf, dass die Furcht vor erneuter Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betreffende erneut von solcher Verfolgung bedroht wird (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24. November 2009 – 10 C 24.08).
23
Im Hinblick auf die Beweisschwierigkeiten im Asylverfahren kommt dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft“ sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109.84). Es ist gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO Aufgabe des Schutzsuchenden, von sich aus unter Angabe von Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Schutzsuchende zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30. Oktober 1990 – 9 C 72/89, m.w.N.). Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen unter anderem Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 3. August 1990 – 9 B 45.90). Ein in wesentlichen Punkten unzutreffendes oder in nicht auflösbarer Weise widersprüchliches Vorbringen darf unbeachtet bleiben (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 29. November 1990, 2 BvR 1095/90; Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 26. Oktober 1989 – 9 B 405/89). Gleiches gilt für erhebliche Steigerungen des Vortrags (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 1. Oktober 1985 – 9 C 19/85).
24
bb) Die Kläger sind keine Flüchtlinge im vorgenannten Sinne.
25
(1) Eine Flüchtlingseigenschaft der Kläger ergibt sich nicht aus den Aktivitäten des IS. Anhaltspunkte dafür, dass der IS, der seit 2017 im Irak in der Fläche besiegt ist (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Irak, Stand: Oktober 2021, S. 5), auf die Kläger aus einem Verfolgungsgrund ein besonderes Augenmerk gerichtet haben könnte, sind nicht erkennbar.
26
(2) Die Kläger haben nach dem Eindruck der mündlichen Verhandlung nicht glaubhaft gemacht, dass von S. für sie relevante Gefahren ausgehen. In Anbetracht der – trotz entsprechender Nachfragen des Gerichts – vage und detailarm gebliebenen Angaben der Kläger zu 1), 2) und 3) ist nicht nachvollziehbar, weshalb S. ungeachtet der verstrichenen Zeit und der mit der veränderten Verhältnisse im Irak nach wie vor versuchen soll, diese im Fall ihrer Rückkehr an den IS zu verkaufen. Woraus die besondere und über das von ihm bewohnte Dorf hinausreichende Macht von S. herrühren soll, erschließt sich nicht, zumal der Kläger zu 1) diesen in seiner Anhörung „nur“ als Bauern mit mehreren Feldern und Männern um sich beschrieben hat. Schließlich bleibt unklar, weshalb die Kläger über mehrere Monate unbehelligt im Dorf von S. leben konnten.
27
(3) Soweit die Kläger allgemein die Diskriminierung sunnitischer Religionszugehöriger im Irak geltend machen, schließt sich das Gericht der obergerichtlichen Rechtsprechung an, wonach irakische Staatsangehörige sunnitischen Glaubens aktuell nicht mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit mit einer (Gruppen-)Verfolgung rechnen müssen (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 29. April 2020 – 5 ZB 20.30994; vgl. auch jüngst Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 23. Juni 2022 – 26 K 609.17 A). Dass sich hieran zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt etwas geändert haben könnte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
28
cc) Aus den vorgenannten Gründen liegen auch die engeren Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vor.
29
b) Die Kläger haben weiterhin keinen Anspruch auf Zuerkennung des hilfsweise begehrten subsidiären Schutzstatus.
30
Gemäß § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Abs. 1 Satz 2 Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Absatz 1 Satz 2 Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Absatz 1 Satz 2 Nr. 3). Nach § 4 Abs. 3 i.V. m. § 3c AsylG muss der drohende ernsthafte Schaden ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor ernsthaftem Schaden zu bieten (Nr. 3.). Zugrunde zu legen ist für den Eintritt der genannten Gefahren der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 7. September 2010 – 10 C 11/09). Auch bei der Prüfung eines Anspruchs auf subsidiären Schutz greift Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise unmittelbar davon bedroht war (vgl. Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10. Mai 2021 – 9 A 1489/20.A).
31
aa) Den Klägern droht bei einer Rückkehr in den Irak nicht die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
32
bb) Die Kläger haben aus den vorgenannten Gründen nicht glaubhaft dargelegt, dass ihnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) ausgehend von dem IS, von S. oder aufgrund ihrer sunnitischen Religionszugehörigkeit droht.
33
cc) Es besteht keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Kläger infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).
34
Es kann offenbleiben, ob die derzeitige Sicherheitslage in Shingal im Gouvernement Ninive die Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG rechtfertigt. Denn jedenfalls sind die Kläger auch bei Annahme eines derartigen Konflikts keiner ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt.
35
Das Erfordernis einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bezieht sich auf schädigende Eingriffe, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dies bleibt allerdings einer außergewöhnlichen Situation vorbehalten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die fragliche Person dieser Gefahr individuell ausgesetzt wäre. Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa, weil er von Berufs wegen – z.B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Zu berücksichtigen sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht bereits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann ausnahmsweise auch in Fällen, in denen individuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Liegen keine gefahrerhöhenden Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich. Zur Bestimmung der hierfür erforderlichen Gefahrendichte bedarf es zunächst einer annäherungsweise quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos und auf deren Grundlage einer wertenden Gesamtschau zur individuellen Betroffenheit des Ausländers (zu den vorangegangenen Ausführungen vgl. m.w.N. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 11.19).
36
Der Bezirk Shingal im Gouvernement Ninive gehört zu den Gebieten, deren verwaltungsrechtliche Zuordnung zwischen Bagdad und der kurdischen Regionalregierung umstritten ist (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, veröffentlicht am 22. August 2022, S. 55 f.). Das unter anderem durch Auseinandersetzung um die umstrittenen Gebiete bestehende Sicherheitsvakuum wird durch den IS für Terroraktionen ausgenutzt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Irak, Stand Oktober 2021, S. 5). Ninive ist eine der Regionen, die dem IS als logistische Drehscheibe dienen. Sie wird genutzt, um Personal und Material zwischen Syrien und dem Irak zu bewegen. Die Region ist daher üblicherweise relativ ruhig (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, veröffentlicht am 22. August 2022, S. 70, m.w.N.). Nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln (vgl. insbesondere Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, veröffentlicht am 22. August 2022, S. 72) ist das Risiko der Verletzung oder Tötung in Shingal nicht derart hoch, dass allein deshalb die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erfüllt wären. Besondere gefahrerhöhende individuelle Umstände sind im Fall der Kläger nicht gegeben. Insbesondere haben sie nicht glaubhaft gemacht, dass bestimmte Akteure vor Ort auf sie ein besonderes Augenmerk haben könnten.
37
c) Die Kläger haben weiterhin keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes.
38
aa) Im Fall der Kläger sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG zu verneinen.
39
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12).
40
Soweit ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe zwingend sind (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45.18; Beschluss vom 23. August 2018 – 1 B 42.18: „nur in besonderen Ausnahmefällen“; Urteil vom 13. Juni 2013 – 10 C 13.12; Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 unter Bezugnahme auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 38. Juni 2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 1. Oktober 2020 – 13a B 20.31004). Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner neueren Rechtsprechung zu Art. 4 GRCh darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinde, die es ihr nicht erlaube, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtige oder sie in einen Zustand der Verelendung versetze, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 19. März 2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a.; Urteil vom 19. März 2019 – Jawo, C-163/17; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 1. Oktober 2020 – 13a B 20.31004). Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. August 2018 – 1 B 42.18; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 1. Oktober 2020 – 13a B 20.31004). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen vielmehr ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreichen; diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. August 2018 – 1 B 42.18; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 1. Oktober 2020 – 13a B 20.31004). Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich, aber auch ausreichend ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5.09; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 1. Oktober 2020 – 13a B 20.31004, m.w.N.).
41
Es ist davon auszugehen, dass die Kläger zu 1), 2) und 3) im Falle einer Rückkehr in den Irak in der Lage sein werden, ihre und die elementaren Grundbedürfnisse der weiteren Kläger zu befriedigen. Aus dem erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Arztbrief vom 28. Januar 2020 ergibt sich nicht, dass der Kläger zu 1) aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen kann. Auch stellt sich die Erkrankung COPD nach dem in die mündliche Verhandlung eingeführten Leitfaden der Globalen Initiative für chronisch-obstruktive Lungenkrankheiten als derart vielgestaltig dar, dass allein aus der Diagnose COPD nicht per se eine Erwerbsunfähigkeit des Klägers zu 1) resultiert. Im Übrigen ist anzunehmen, dass der inzwischen volljährige Kläger zu 3) erforderlichenfalls auch allein die Grundbedürfnisse seiner Eltern und Geschwistern wird sichern können. Aufgrund seines qualifizierten Mittelschulabschluss und seiner Sprachkenntnisse ist zu erwarten, dass der Kläger zu 3) im Irak eine hinreichend einträchtige Erwerbstätigkeit wird ausüben können. Der Hinweis des Prozessbevollmächtigen der Kläger in der mündlichen Verhandlung, dass der Kläger zu 3) möglicherweise bei weiterer beruflicher Integration im Bundesgebiet einen Aufenthaltstitel wird erlangen können, schließt die Prognose einer gemeinsamen Rückkehr der Kläger zumindest zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht aus. Schließlich ergibt sich aus den insofern vagen Angaben der Kläger zu 1), 2) und 3) nicht, dass sich der Kontakt zu weiteren Familienmitgliedern mit gewissen Anstrengungen vor Ort nicht wiederhergestellt werden kann. Erforderlichenfalls können und müssen die Kläger auf ihr familiäres Netzwerk zurückgreifen.
42
bb) Weiterhin resultiert auch kein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aufgrund des Gesundheitszustands des Klägers zu 1).
43
Im Fall einer Erkrankung ist für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich, dass diese sich aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 17. August 2011 – 10 B 13/11, m.w.N.). Dabei sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, in die Beurteilung der Gefahrenlage mit einzubeziehen. Solche Umstände können darin liegen, dass eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Zielstaat wegen des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich trotz grundsätzlich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29. Oktober 2002 – 1 C 1.02, m.w.N.). Nach § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist.
44
In Bezug auf Erkrankungen ist zudem nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu beachten, dass § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG entsprechend gilt. Der Ausländer muss danach eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
45
Aus dem Arztbrief vom 28. Januar 2020 ergibt sich nicht hinreichend, welcher Behandlung die COPD-Erkrankung des Klägers zu 1) aktuell bedarf. 2020 wurde dem Kläger zu 1) „vordringlich zur Tabakrauchkarenz geraten“ und eine „probatorische antiobstruktive Therapie“ mit den Wirkstoffen Salbutamol und Tiotropium Kation „empfohlen“. Wie sich die Behandlung und unter Umständen eine Tabakentwöhnung auf die Erkrankung des Klägers zu 1) in der Folge ausgewirkt hat, ist in Ermangelung weiterer aktuellerer Attest nicht erkennbar. Der Kläger zu 1) gab in der mündlichen Verhandlung zwar an, er nehme täglich drei verschiedene Tabletten ein und sei auf ein Inhaliergerät angewiesen, was für eine Verschlechterung der Erkrankung sprechen könnte. Belegt wird eine solche Verschlechterung jedoch nicht.
46
Nach der in das Verfahren eingeführten MedCOI-Information vom 23. April 2022 (AVA 15737) sind Medikamente zur Behandlung von COPD im Irak grundsätzlich verfügbar. Dass der Kläger gerade einer Behandlung durch bestimmte im Irak nicht verfügbare Medikamente bedarf und wie sich seine Erkrankung bei einer anderweitigen Behandlung entwickeln würde, lässt sich dem Arztbrief vom 28. Januar 2020 nicht entnehmen.
47
d) Die verfügten Abschiebungsandrohungen wurden zutreffend auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG gestützt. Das jeweils auf 30 Monate befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot ist nicht zu beanstanden. Fehler bei der Ermessensentscheidung über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) sind weder geltend gemacht, noch erkennbar.
48
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 3 ZPO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG. Der Vollstreckbarkeitsausspruch resultiert aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.