Titel:
BAföG nach Überschreiten der Förderungshöchstdauer wegen psychischer Erkrankung
Normenkette:
BAföG § 7 Abs. 3, § 15 Abs. 3 Nr. 1, § 15a, § 48
Leitsätze:
1. Die Anerkennung lediglich einzelner Leistungen genügt für die Anrechnung auf die Förderungshöchstdauer nach § 15a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BAföG nicht. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine (psychische) Erkrankung kann einen schwerwiegenden Grund iSd § 15 Abs. 3 Nr. 1 BAföG darstellen (hier bejaht für tief depressive Stimmungslage). (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ist für den Auszubildenden erkennbar, dass die Studierfähigkeit eingeschränkt ist, muss er eine Beurlaubung in Erwägung ziehen, da die Ausbildungsförderung nach dem BAföG nicht der Finanzierung des allgemeinen Lebensunterhalts dient. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fachrichtungswechsel aus wichtigem Grund (Neigungswandel), Ausbildungsförderung nach Überschreiten der Förderungshöchstdauer, schwerwiegender Grund (psychische Erkrankung), Hilfe zum Studienabschluss, fehlender vorheriger Antrag bei der Behörde, Ausbildungsförderung, BAföG, Fachrichtungswechsel, wichtiger Grund, Neigungswandel, Förderungshöchstdauer, schwerwiegender Grund, psychische Erkrankung, Beurlaubung, Studienabschlusshilfe
Fundstelle:
BeckRS 2022, 41467
Tenor
1. Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheids vom 22. Februar 2021, soweit der Bewilligungszeitraum September 2020 bis einschließlich Januar 2021 betroffen ist, verpflichtet, dem Kläger Ausbildungsförderung dem Grunde nach für den Zeitraum September 2020 bis einschließlich Januar 2021 zu gewähren.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten jeweils zur Hälfte.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beteiligten können die Vollstreckung jeweils durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweils andere Beteiligte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten über die Bewilligung von Ausbildungsförderung für den Bewilligungszeitraum September 2020 bis August 2021.
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Der Kläger studierte im Wintersemester 2014/2015 und Sommersemester 2015 im Studiengang … an der … Zum 30. September 2015 wurde er exmatrikuliert. Vom 1. September 2015 bis zum 31. August 2016 studierte er im Fach „…“ an der M. University und vom 1. September 2016 bis 31. August 2019 im Fach „…“ am University College M. der M. University. Nach zwei Urlaussemestern nahm er dieses Studium ab dem 1. September 2020 wieder auf und schloss es am 31. August 2021 erfolgreich ab.
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Zuvor hatte er am 21. April 2020 bei dem Beklagten die Bewilligung von Ausbildungsförderung für das Bachelorstudium „…“ an der M. University beantragt und darum gebeten, einen „Vorabentscheid über die BAföG Berechtigung“ einzuleiten. In dem Formblatt betreffend seinen schulischen und beruflichen Werdegang hatte er u.a. angegeben, dass er von September 2015 bis August 2019 an der M. University … studiert habe, er von Februar 2018 bis November 2019 krank gewesen sei, verbunden mit Arbeitsunfähigkeit, und er von Dezember 2019 bis August 2020 u.a. als … erwerbstätig gewesen sei.
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Der Kläger übermittelte ferner eine „Begründung für Fachrichtungswechsel und Verzögerung des Abschlusses“, in der er die Gründe für den Abbruch seines zweisemestrigen Studiums der … in … und des nachfolgenden Studiums … darlegte. Er führte aus, während des Gymnasiums sei für ihn klar gewesen, dass er im Anschluss ein …-studium anstreben wolle. Die ersten beiden Semester hätten zwar einen guten Überblick über die Disziplin geboten und der Studiengang sei aufgebaut gewesen wie an deutschen Universitäten üblich, doch beides habe weder seinen Vorstellungen noch seinen Interessen entsprochen. Dazu sei das fehlende internationale Umfeld in … gekommen. Er habe gehofft, dass er an der Universität die Möglichkeit haben würde, seine Englischkenntnisse zu vertiefen. Doch mittelmäßige Englischkurse, mangelnde Perspektiven für Auslandssemester und wenig bis keine internationalen Studierenden hätten seine Frustration steigen lassen. Diese drei Faktoren hätten im zweiten Semester zu seiner Entscheidung geführt, das Studium abzubrechen und nach Alternativen zu suchen. Die Disziplin … sei zwar vielseitig, wenn man die Vielzahl ihrer Teildisziplinen betrachte, aber er habe sich trotzdem auf diese eine Disziplin eingeengt gefühlt. Er habe sich daher einen Studiengang mit einem starken interdisziplinären Fokus mit breit aufgestelltem akademischen Wissen gewünscht. Seine Unzufriedenheit mit der deutschen Lehre sei ausgelöst worden durch einen Fokus der Professoren auf Vorlesungen, durch wenige kleine Gruppen, Multiple-Choice-Tests und kaum Möglichkeiten, eigene akademische Interessen zu verfolgen. Auch Hausarbeiten mit mehr eigener Gestaltungsfreiheit seien nur vereinzelt vorgesehen gewesen. Insgesamt habe er nicht den Eindruck gehabt, dass ihn das Studium gut auf eine akademische Karriere vorbereiten würde. Sein Wunsch, eine akademische Karriere einzuschlagen, sei mittlerweile gestärkt und dazu habe für ihn gehört, einen Fokus auf das Meistern der englischen Sprache zu legen. Englisch auf Muttersprachenniveau zu beherrschen, öffne in der akademischen Welt viele Türen, um international zu arbeiten und zu publizieren. Leider habe er wenige Möglichkeiten gesehen, seine Fähigkeiten für die englische Sprache in Deutschland weiter auszubauen. Aus diesen drei Gründen habe er beschlossen, im europäischen Ausland nach Studiengängen zu suchen und sei dabei schnell auf die Universität in M. in den Niederlanden gestoßen, die den Studiengang … anbiete.
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Während eines Erfahrungstages in M. habe er die Möglichkeit gehabt, eine Studierende in ihrem Alltag zu begleiten, inklusive Vorlesungen, Tutorium und viel Gelegenheit, ausführliche Fragen zu stellen. Dieser Tag habe ihm eindrücklich bewusstgemacht, was er in Deutschland vermisst habe und wieso dies der richtige Studiengang für ihn sei. … sei in seinem Kern ein interdisziplinärer Studiengang, der den Anspruch habe, Europa mit Hilfe verschiedenster Disziplinen zu analysieren und zu verstehen. Das Spektrum reiche dabei von Geschichte und Politikwissenschaften über Soziologie und Kulturwissenschaften bis hin zu Ökonomie und Recht. Doch vor allem die Rahmenbedingungen der Universität hätten diesen Studiengang so attraktiv für ihn gemacht. Die M. University hebe sich von anderen Universitäten durch ein besonderes pädagogisches Konzept namens Problem-Based Learning (PBL) ab. PBL verschiebe den Fokus von Professoren zur Wissensvermittlung zu den Studierenden. Es gebe daher weniger Vorlesungen und dafür mehr Texte zum Lesen und Hausarbeiten zu schreiben. Studierende brächten sich in Tutorien gegenseitig den nötigen Stoff bei, der in Prüfungen in kurzen Essays abgefragt werde. Die Themenwahl für Hausarbeiten sei meist frei, damit man sich vertieft einer Forschungsfrage zuwenden könne, die dem akademischen Interesse entspreche. Weiterhin sei M. dafür bekannt, dass die Universität ein äußerst internationales Umfeld biete. Alle Lehrveranstaltungen fänden auf Englisch statt und die bunte Mischung aus Herkunftsländern sorge dafür, dass man auch außerhalb der Universität die meisten Unterhaltungen auf Englisch führe.
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Er sei also teilweise zufrieden an der Universität gewesen. In der zweiten Hälfte seines ersten Jahres hätte sich jedoch schnell eine große Unzufriedenheit eingestellt, die nicht auf die M. University, sondern nur auf den Studiengang „…“ beschränkt gewesen sei. Er liebe das internationale Umfeld und PBL. Er habe starkes Desinteresse für große Teile des Curriculums entwickelt. Er habe zwar als überzeugter Pro-Europäer viel Hoffnung in die Fächer gesteckt, doch habe das akademische Interesse daran schnell nachgelassen. Während er in manchen Kursen sehr gute Noten geschrieben habe, sei er an Prüfungen gescheitert, die nicht seinem Interesse entsprochen hätten. Er sei frustriert gewesen, weil er PBL lieben gelernt habe, aber der Studiengang so rigide aufgebaut gewesen sei. Der Stundenplan sei fast komplett vorgegeben. Durch sein politisches Engagement bei Amnesty International sei er durch eine Kommilitonin auf das University College M. (UCM) aufmerksam geworden, wo der Studiengang … angeboten werde. Dort werde ebenfalls mit PBL gearbeitet und auf Englisch unterrichtet, was ihm sehr wichtig sei. Das Alleinstellungsmerkmal sei der Aufbau des Stundenplanes. Von insgesamt 24 zu belegenden Kursen seien lediglich vier vorbestimmt. Die Auswahl der Kurse sei breit gefächert und speise sich aus Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. „…“ sei sein Traumstudiengang, da er endlich nicht mehr auf eine Disziplin beschränkt sei und seinen Stundenplan basierend auf seinen Interessen erstellen könne. Sehr wichtig sei ihm auch gewesen, dass ihm ein ganzes Semester, mithin insgesamt 30 ECTS, von früheren Studiengängen angerechnet worden seien. Aktuell fehlten ihm 40 ECTS inklusive Bachelorarbeit. Er habe bereits im Lauf des letzten akademischen Jahres das Studium beenden sollen, aber aus gesundheitlichen Gründen sei ihm dies nicht möglich gewesen. Durch mehrere schwere depressive Episoden sei er während der letzten zwei Semester nur sehr eingeschränkt studierfähig und weitestgehend unfähig gewesen, die Prüfungen abzulegen. Im Juli 2018 sei die erste Diagnose seiner Hausärztin gestellt worden. Im darauffolgenden Semester ab September 2018 habe er die Hoffnung gehabt, dass sich seine psychische Verfassung soweit verbessere, dass er sein Studium abschließen könne. Dies sei durch den Beginn einer ambulanten psychiatrischen Behandlung im September und den Start einer Psychotherapie kurz darauf begründet worden. Leider habe sich seine Studierfähigkeit nicht wieder soweit herstellen lassen, um das letzte Jahr und die Bachelorarbeit zu bewältigen. Er habe sich daraufhin gezwungen gesehen, das Studium nach dem Sommersemester 2019 zu unterbrechen und einen stationären Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik anzutreten. Der Klinikaufenthalt sei Mitte Oktober 2019 erfolgreich beendet worden. Nach einer Zwischenzeit und Zeit der eingeschränkten Erwerbstätigkeit als … strebe er nun eine Fortsetzung des Studiums ab September 2020 an. Die Ausbildungsförderung sei für ihn essentiell. Er bitte um Genehmigung seines Erstantrages.
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Beigefügt waren ferner Leistungsübersichten, aus denen sich folgende Leistungen pro Semester ergeben:
Semester 1: Wintersemester 2016/2017
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30 ECTS
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Semester 2: Sommersemester 2017
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25 ECTS
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Semester 3: Wintersemester 2017/2018
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36ECTS
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Semester 4: Sommersemester 2018
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20 ECTS
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Semester 5: Wintersemester 2018/2019
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0 ECTS
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Semester 6: Sommersemester 2019
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0 ECTS
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Aus den Übersichten geht zudem hervor, dass dem Kläger weitere 30 ECTS aus seinem vorangegangenem Studium gutgeschrieben wurden.
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Beigefügt war ferner ein Kurzentlassbericht der … Kliniken vom …Oktober 2019, aus dem hervorgeht, dass sich der Kläger dort vom … August 2019 bis zum … Oktober 2019 in stationärer psychotherapeutischer Behandlung befunden hat. Als Diagnosen sind eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome, Psychische und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch, Konsum anderer psychotroper Substanzen, Abhängigkeitssyndrom, gegenwärtig abstinent und eine lumbale Skoliose aufgeführt. Der Kläger sei zum Zeitpunkt der Entlassung arbeitsunfähig. Ferner beigefügt waren eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum … Oktober 2019 bis … November 2019 und ein Attest der … Fachärztin für Allgemeinmedizin … vom … November 2018, nach der der Kläger im Sommersemester 2018 nur eingeschränkt studierfähig (zu 80% eingeschränkt) gewesen sei und sich seit Juli 2018 in laufender Behandlung befinde. Seit September 2018 werde die Behandlung durch eine weitere Ärztin in … betreut, wobei die Studierfähigkeit noch zu 60% eingeschränkt bleibe.
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Mit Schreiben vom 28. April 2020 wies der Beklagte den Kläger u.a. darauf hin, dass die Vorlage eines Leistungsnachweises nach § 48 Abs. 1 BAföG erforderlich sei, sofern er Ausbildungsförderung für sein 5. oder späteres Studienjahr beantrage.
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Mit Schreiben vom 17. September 2020 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass die Förderungshöchstdauer nach Aktenlage mit Ablauf des Monats Januar 2019 geendet habe. Die Gewährung von Förderungsleistungen nach Erreichen der Förderungshöchstdauer komme nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 oder Abs. 3a BAföG vorlägen. Sofern einer oder mehrere der Gründe nach § 15 Abs. 3 oder Abs. 3a BAföG vorliegen sollten, werde um Mitteilung unter Beifügung entsprechender Belege gebeten. Nach § 15 Abs. 3a BAföG könne für maximal zwölf Monate Studienabschlusshilfe geleistet werden, wenn der Kläger innerhalb von vier Semestern nach der Förderungshöchstdauer zur Abschlussprüfung zugelassen werde oder, wenn keine Abschlussprüfung vorgesehen sei, das Studium innerhalb von zwei Semestern abschließen könne. Die Studienabschlusshilfe werde als Darlehen gezahlt. Als Nachweis, dass die Voraussetzungen für eine Studienabschlusshilfe vorlägen, solle er den beigefügten Vordruck bitte vollständig ausgefüllt, unterschrieben und abgestempelt vorlegen.
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Ebenfalls mit Schreiben vom 17. September 2020 bat der Beklagte den Kläger darum, einen aktuellen ECTS-Punkteauszug einzureichen und darzulegen, welche Prüfungen konkret auf Grund der Erkrankungen nicht hätten absolviert werden können, wann diese stattgefunden hätten und wann diese wiederholt werden könnten. Ferner wies der Beklagte darauf hin, dass der Kläger in seinem Schreiben darauf hingewiesen habe, dass er in das zweite Fachsemester eingestuft worden sei. Abzüglich der Unterbrechung müsste er sich daher im achten Fachsemester befinden.
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In der Behördenakte findet sich ein „Certificate of enrolment“ des University College M. vom … Juni 2020, nach dem der Kläger sich im Zeitraum 1. September 2020 bis 31. August 2021 im dritten Jahr seines Studiums befinde.
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Unter dem 5. November 2020 übermittelte der Kläger ein Schreiben mit dem Betreff: „Erklärung zu nicht-absolvierten Prüfungen, zur Förderungshöchstdauer und zur Studienabschlusshilfe“. Hierin führte er sinngemäß aus, der Umfang seiner Erkrankungen habe es ihm im Sommersemester 2018 lediglich erlaubt, einen Teil der vorgesehenen Prüfungen abzulegen. In den Kursen „…“ und „…“ habe er weder die Prüfung noch die Nachholprüfung absolvieren können. In den folgenden beiden Semestern, dem Wintersemester 2018/2019 und Sommersemester 2019, habe sich seine Erkrankung soweit verschlimmert, dass es ihm in sämtlichen belegten Kursen unmöglich gewesen sei, die Prüfung anzutreten bzw. erfolgreich zu absolvieren. Für das Wintersemester 2018/2019 betreffe dies die Kurse „…“, „…“, „…“ und „…“, für das Sommersemester 2019 die Kurse „…“, „…“, „…“ und „…“. In einem Großteil dieser Kurse sei er zwar für die Nachholklausur zugelassen worden, aber er habe diese ebenfalls nicht erfolgreich abschließen können. Eine genauere Darstellung, die eine Auflistung der Prüfungs- und Nachholtermine enthalte, sei retrospektiv nicht möglich. Die Prüfungen fänden jedoch immer innerhalb des jeweiligen Semesters statt. Eine Nachholprüfung sei im Laufe des darauffolgenden Semesters nicht zugelassen. In diesen Fällen müsse der gesamte Kurs erneut belegt werden.
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Schwerwiegende Gründe seien durch eine schwere depressive Erkrankung gegeben. Das erstmalige Nichtbestehen der Abschlussprüfung i.S.v. § 15 Abs. 3 Nr. 4 BAföG ergebe sich aus dem ersten Grund und rechtfertige die Verlängerung der Förderungshöchstdauer. Der „Capstone“ zähle am University College M. als Abschlussprüfung. Diese Prüfung sei erstmalig und einmalig im Wintersemester 2018/2019 nicht bestanden. Die Verlängerung der Förderungshöchstdauer sollte demnach die Förderung des Wintersemesters 2020/2021 sowie des Sommersemesters 2021 umfassen. Aus den vorliegenden Gründen habe er daher die Bescheinigung zur Abschlussförderung nach § 15 Abs. 3a BAföG nicht ausgefüllt. Mit dieser Erklärung seien sämtliche angeforderten Dokumente/Nachweise von seiner Seite an das zuständige BAföG-Amt übermittelt worden.
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Mit Bescheid vom 22. Februar 2021 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Ausbildungsförderung für eine Ausbildung an der M. University in der Fachrichtung … für die Zeit von September 2020 bis August 2021 ab. Der Kläger habe nach Aktenlage sein 7. Fachsemester begonnen. Dies belege auch der ECTS-Punkteauszug, der das Wintersemester 2016/2017 als sein erstes Semester ausweise. Zum Wintersemester 2020/2021 befinde er sich laut der aktuellen Studienbescheinigung in seinem dritten Studienjahr. Dem stünden seine eigenen Angaben in der Stellungnahme zum zweiten Fachrichtungswechsel entgegen. Der Kläger lege dar, dass ihm Leistungen aus früheren Studiengängen angerechnet worden seien und er somit direkt in das zweite Fachsemester im Studiengang … eingestuft worden sei. Zur weiteren Prüfung werde davon ausgegangen, dass der Kläger sich zum Wintersemester 2016/2017 im ersten Fachsemester befunden habe. Ein entsprechendes Zwischenprüfungszeugnis nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BAföG sei nicht vorgelegt worden. Aus dem eingereichten ECTS-Punkteauszug gehe hervor, dass er am 1. September 2020 insgesamt 111 ECTS-Punkte erreicht habe. Dies sei weniger als die üblichen 120 ECTS-Punkte am Ende des vierten Fachsemesters. Die teilweise für einen rückwirkenden Studienzeitraum ausgestellte und sehr allgemein gehaltene Bescheinigung der Fachärztin für Allgemeinmedizin reiche als Nachweis schwerwiegender Gründe nicht aus. Die behandelnde Ärztin lege nicht konkret dar, wie genau sich die Studierunfähigkeit darstelle. Es werde beispielsweise kein konkreter Bezug auf Prüfungsdaten genommen. Die Kausalität zwischen Erkrankung und der Nichterbringung von Prüfungsleistungen sei nicht ersichtlich. Im Rahmen einer eingeschränkten Studierfähigkeit sei davon auszugehen, dass ein Teil der Prüfungsleistungen erbracht werden könne. Daher habe die Vorlage des Leistungsnachweises zu einem entsprechend späteren Zeitpunkt nicht zugelassen werden können.
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Am 30. März 2021 hat der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Köln erhoben. Letzteres hat das Verfahren mit Beschluss vom 26. August 2021 nach Anhörung der Beteiligten an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach verwiesen.
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Zur Begründung der Klage trägt der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 5. April 2022 vor, dem Kläger stehe ein Anspruch auf Ausbildungsförderung dem Grunde nach zu. Es bestehe ein Anspruch auf Verlängerung der Förderungshöchstdauer des Studiums um zwei Semester auf Grund von Studienverzögerungen im Wintersemester 2018/2019 und Sommersemester 2019 wegen Krankheit. Es werde nunmehr ein weiteres Attest der den Kläger in der schwersten Phase der depressiven Erkrankung wesentlich ambulant behandelnden … Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie Frau … vom … April 2021 vorgelegt, mit dem diese die ambulante Behandlung des Klägers vom … September 2018 bis zum … Juni 2019, dessen wesentlichen körperlichen und psychischen bzw. psychiatrischen Beeinträchtigungen und die daraus folgenden wesentlichen Auswirkungen auf das Studium in diesem Zeitraum beschreibe.
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Aus dem beigefügten Attest vom … April 2021 geht hervor, dass sich der Kläger vom … September 2018 bis zum … Juni 2019 in ambulanter Behandlung bei oben genannter Ärztin befunden habe. Er habe unter einer tief depressiven Stimmungslage mit einer deutlichen Antriebstörung, Anhedonie, Minderbelastbarkeit, Konzentrations- und Schlafstörungen gelitten. Es habe immer wieder akute Krisen mit latent suizidalen Gedanken und Selbstverletzungen gegeben. Auf die antidepressive Medikation habe er nur unzureichend angesprochen, da er, wie sich erst später herausgestellt habe, die Medikation genetisch bedingt schnell verstoffwechsele. Aus ihrer ärztlichen Sicht habe zu der Zeit eine erhebliche Beeinträchtigung des Leistungsvermögens vorgelegen. Der Kläger sei krankheitsbedingt an der Prüfungsteilnahme gehindert gewesen. Aufgezählt sind im Folgenden neun Kurse bzw. Prüfungen mit Prüfungsdaten in der Zeit zwischen dem 19. Oktober 2018 und dem 18. Juni 2019, die von der Erkrankung betroffen gewesen seien. Die Gesundheitsstörungen seien nicht auf Prüfungsangst oder -stress zurückzuführen.
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Der Bevollmächtigte des Klägers führt insoweit weiter aus, der Kläger habe ihm hierzu ergänzend sinngemäß mitgeteilt, im Wintersemester 2018/2019 und im folgenden Sommersemester 2019 sei sein Studium über die Beeinträchtigungen seit Juli 2018 hinaus wegen seiner schweren depressiven Erkrankung weiterhin sehr stark beeinträchtigt gewesen. Zwar habe er in jenen beiden Semestern, soweit irgend möglich, insgesamt recht kontinuierlich an den Tutorien, vergleichbar den deutschen Seminaren, teilgenommen. Er habe aber insbesondere auch durch das stark eingeschränkte Selbststudium und wegen der erheblichen Aufmerksamkeitsdefizite etc. in den Tutorien und wegen der weiteren schweren Symptome seiner Erkrankung in keinem der Fächer ein Niveau erreicht, das zum erfolgreichen Abschluss einer Prüfung geführt hätte. Teilweise habe er es sich, seines Erachtens begründet, noch nicht einmal zugetraut, überhaupt in den Prüfungen anzutreten, weil sein Vorbereitungsniveau auf Grund seiner Erkrankung viel zu schlecht gewesen sei. Teilweise sei er zu den Prüfungen angetreten, habe sie aber nicht erfolgreich abschließen können, da sein Vorbereitungsniveau krankheitsbedingt zu schlecht gewesen sei und sich die Symptome der Erkrankung, wie z.B. eine erhebliche Verringerung der Belastbarkeit und massive Konzentrationsstörungen, trotz seiner erheblichen Bemühungen auch in den Prüfungen nachvollziehbar niedergeschlagen hätten. Obwohl er in jenen zwei Semestern letztlich keine zählbaren Erfolge, mithin Credits, erzielt habe, habe er es doch intensiv versucht und seines Erachtens mindestens die Hälfte des notwendigen Studienaufwandes betrieben, um eventuell doch erfolgreich zu sein. Die teilweise schweren Symptome seiner Erkrankung hätten aber zählbare Teilerfolge leider nicht zugelassen. Er sei die zwei folgenden Semester von September 2019 bis August 2020 auch noch krankheitsbedingt in Urlaubssemester gegangen, obwohl sich seine gesundheitliche Situation dann sukzessive verbessert habe, sodass er zum Wintersemester 2020/2021 das Studium sehr erfolgreich habe fortsetzen und im August 2021 letztlich den Bachelorabschluss erzielen können.
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Der Kläger hat zunächst beantragt, dass der Beklagte unter Aufhebung seines Bescheides vom 22. Februar 2021 verpflichtet wird, dem Kläger für sein Studium in M. im Bewilligungszeitraum 09/2020 bis 08/2021 BAföG dem Grunde nach zu gewähren.
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Der Kläger beantragt zuletzt wörtlich,
dass die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 22. Februar 2021 verpflichtet wird, dem Kläger für sein Studium in M. im Bewilligungszeitraum 09/2020 bis 08/2021 BAföG dem Grunde nach zu gewähren, mit der Maßgabe, dass zuallererst Regelförderung dem Grunde nach beantragt ist und hilfsweise Förderung im Übrigen, auch Abschlussförderung.
23
Der Beklagte beantragt,
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Zur Begründung führt er sinngemäß aus, aus den vorgelegten Attesten gehe hervor, dass bereits im Sommersemester 2018 eine eingeschränkte Studierfähigkeit vorgelegen habe. Diese Aussage sei in den Attesten - beispielsweise durch die Angabe genauer Daten - jedoch nicht näher spezifiziert worden. Zum Wintersemester 2020/2021 sei der Kläger in das 3. Studienjahr eingestuft worden. Dies bedeute, dass von sechs zu absolvierenden Semestern abzüglich der zwei Urlaubssemester zwei bzw. drei Semester lang nicht ordnungsgemäß studiert worden sei. Unklar sei weiterhin, in das wievielte Fachsemester der Kläger zum Wintersemester 2016/2017 seitens der M. University eingestuft worden sei. Der Kläger gebe in seinem Schreiben vom 10. April 2020 an, ihm seien 30 ECTS-Punkte aus seinem früheren Studium auf das jetzige Bachelorstudium angerechnet worden. Ein Nachweis darüber, ob Leistungen aus dem vorherigen Studium anerkannt worden seien, könne der vorgelegten ECTS-Punkteliste nicht entnommen werden und eine diesbezügliche Stellungnahme der M. University sei nie eingereicht worden. Aus der ECTS-Punkteliste vom 8. Mai 2019 gehe hervor, dass bis zum Ende des dritten Fachsemesters, mithin bis zum 31. Januar 2018, kein Leistungsdefizit vorgelegen habe. Ab dem Sommersemester 2018 hätten sich erste Leistungsdefizite gezeigt. Im Attest vom … November 2018 werde bestätigt, dass der Kläger im Sommersemester 2018 zu 80 Prozent eingeschränkt studierfähig gewesen sei. Da der Kläger sich dort erst seit Juli 2018 in Behandlung befunden habe, könne sich diese Aussage nur auf den Zeitraum ab Juli 2018 beziehen. Das Sommersemester 2018 habe am 1. Februar 2018 begonnen, so dass über den Zeitraum Februar bis Juni 2018 keinerlei Nachweise vorlägen. Der Kläger sei für den Zeitraum vom Sommersemester 2018 bis zum Sommersemester 2019 drei Semester lang als ordentlicher Student immatrikuliert gewesen. Die entstandene Verzögerung wäre durch eine Beurlaubung vermeidbar gewesen. Bei einer eingeschränkten Studierfähigkeit von teilweise 80 Prozent wäre dies ein konsequenter Schritt gewesen. Eine Beurlaubung sei jedoch erst zum Wintersemester 2019/2020 erfolgt. Die im Rahmen des Klageverfahrens eingereichte ECTS-Punkteliste weise keinerlei Daten aus, sodass es nicht nachvollziehbar sei, wann genau Prüfungen abgelegt worden seien.
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Der Kläger sei seit dem Sommersemester 2018 auf Grund Erkrankung nur eingeschränkt studierfähig gewesen. Die Auswirkungen auf das Studium seien erheblich gewesen, mit der Folge, dass Leistungsdefizite entstanden seien. Wegen der nicht unerheblichen Auswirkungen hätte der Kläger hierauf reagieren und sich rückwirkend beurlauben lassen müssen. Wenn es dem Auszubildenden nicht möglich sei, seine Arbeitskraft voll einzusetzen, um seine Ausbildung innerhalb der Förderungshöchstdauer abzuschließen, müsse er sich zumindest nach drei Monaten beurlauben lassen und dem daraus folgenden Wegfall des Förderungsanspruches durch Inanspruchnahme anderer Sozialleistungen begegnen. Die erheblich eingeschränkte Studierfähigkeit des Klägers sei frühzeitig erkennbar gewesen und die dadurch entstandene Studienverlängerung könne nicht als angemessen i.S.v. § 15 Abs. 3 BAföG angesehen werden. Es liege ein Studienverzug von zwei bzw. drei Fachsemestern vor.
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Der Kläger habe bereits zweimal die Fachrichtung gewechselt. Für beide Fachrichtungswechsel sei ein wichtiger Grund unterstellt worden. Da auch hier unklar sei, wie die Einstufung in dem dritten Studiengang erfolgt sei, könne über die Förderungsart nach § 17 BAföG keine Auskunft gegeben werden. Da aber bereits die Förderungsvoraussetzungen des § 48 BAföG nicht vorlägen, werde hierauf nicht näher konkret eingegangen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte, insbesondere auf die Sitzungsniederschrift vom 29. August 2022, und auf die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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I. Die im Hauptantrag zulässige Klage ist im tenorierten Umfang begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Bewilligung von Ausbildungsförderung dem Grunde nach für den Bewilligungszeitraum September 2020 bis Januar 2021. Soweit der Kläger auch für den Bewilligungszeitraum Februar 2021 bis August 2021 die Bewilligung von Ausbildungsförderung dem Grunde nach begehrt, war die Klage abzuweisen. Soweit der Kläger hilfsweise Förderung im Übrigen, auch Abschlussförderung, begehrt, ist die Bedingung des Hilfsantrags für den Bewilligungszeitraum Februar 2021 bis August 2021 zwar eingetreten, die Klage erweist sich insoweit im Hilfsantrag jedoch als unzulässig.
29
1. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Ausbildungsförderung dem Grunde nach für den Bewilligungszeitraum September 2020 bis Januar 2021.
30
a) Gem. § 1 BAföG besteht nach Maßgabe dieses Gesetzes ein Rechtsanspruch auf individuelle Ausbildungsförderung für eine der Neigung, Eignung und Leistung entsprechende Ausbildung, wenn dem Auszubildenden die für seinen Lebensunterhalt und seine Ausbildung erforderlichen Mittel anderweitig nicht zur Verfügung stehen. Bei der durch den Kläger besuchten Ausbildungsstätte handelt es sich um eine solche nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BAföG. Die M. University bzw. das University College M. sind einer deutschen Hochschule i.S.v. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 4 Satz 1 Halbs. 2, Satz 2 BAföG gleichwertig, was die Beteiligten auch nicht in Frage gestellt haben.
31
b) Einem Anspruch des Klägers auf Ausbildungsförderung steht nicht die Norm des § 7 Abs. 3 BAföG entgegen.
32
aa) Nach § 7 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 BAföG wird nach einem Ausbildungsabbruch oder einem Fachrichtungswechsel Ausbildungsförderung auch für eine andere Ausbildung geleistet, wenn der Abbruch oder Fachrichtungswechsel aus wichtigem (Nr. 1) oder unabweisbarem Grund (Nr. 2) erfolgt. Bei Auszubildenden an Hochschulen gilt § 7 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 Nr. 1 BAföG nur, wenn der Ausbildungsabbruch bzw. Fachrichtungswechsel bis zum vierten Fachsemester erfolgt (§ 7 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 BAföG). Anschließend ist förderungsrechtlich ein unabweisbarer Grund erforderlich. Ein Fachrichtungswechsel liegt nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BAföG vor, wenn Auszubildende einen anderen berufsqualifizierenden Abschluss oder ein anderes bestimmtes Ausbildungsziel eines rechtlich geregelten Ausbildungsganges an einer Ausbildungsstätte derselben Ausbildungsstättenart anstreben. Hinsichtlich des wichtigen Grunds ist darauf abzustellen, ob dem Auszubildenden die Fortsetzung der bisherigen Ausbildung nach verständigem Urteil unter Berücksichtigung aller im Rahmen des BAföG erheblichen Umstände und der beiderseitigen, die Förderung berührenden Interessen nicht mehr zugemutet werden kann (BVerwG, U.v. 12.2.1976 - V C 86.74 - BeckRS 1976, 30430044). Hierunter fallen insbesondere Eignungs- und Neigungsmängel (S.weg in R./S., BAföG, 7. Aufl. 2020, § 7 Rn. 137 ff.). Ein Eignungsmangel bezieht sich auf die Erkenntnis Auszubildender, dass es - z.B. aus körperlichen oder intellektuellen Gründen - an ihrer Eignung für die Ausbildung selbst oder für die mit ihr angestrebte Berufsausübung mangelt (vgl. Buter in Rothe/Blanke, BAföG, Stand November 2021, § 7 Rn. 42.1). Ein solcher Eignungsmangel liegt vor, wenn Auszubildende trotz ausreichender Bemühungen keine ausreichenden Leistungen erzielen können (S.weg in R./S., BAföG, 7. Aufl. 2020, § 7 Rn. 137). Naheliegend ist ein Eignungsmangel bei anhaltend schlechten Leistungen (M. in Pdk-Bund J-6, BAföG, Stand August 2020, Ziff. 2.3.2.2.2). Dagegen liegt ein Neigungswandel vor, wenn Auszubildende während der Ausbildung die Erkenntnis gewinnen, die gewählte Fachrichtung entspreche nicht ihrer Neigung (S.weg in R./S., BAföG, 7. Aufl. 2020, § 7 Rn. 140). Bezugspunkt des Neigungswandels bzw. der Unzumutbarkeit ist die alte Ausbildung. Entsprechend reicht es für die Annahme eines Neigungswandels nicht aus, wenn Studierende für ein anderes Fach eine zusätzliche oder stärkere Neigung entwickeln (vgl. so zum Ganzen S.weg in R. /S., BAföG, 7. Aufl. 2020, § 7 Rn. 141).
33
Die Berücksichtigung eines Eignungsmangels setzt allerdings voraus, dass dieser für den Auszubildenden vor Beginn der Ausbildung nicht erkennbar war, er also vor Aufnahme der Ausbildung gewissenhaft geprüft hat, ob er den Anforderungen des Studiums voraussichtlich gewachsen sein wird (S.weg in R./S., BAföG, 7. Aufl. 2020, § 7 Rn. 137). Ähnlich setzt die Berücksichtigung eines Neigungswandels grundsätzlich voraus, dass der Auszubildende vor Beginn der Ausbildung davon ausgegangen war, das gewählte Fach entspreche seiner Neigung (vgl. Buter in Rothe/Blanke, BAföG Stand November 2021, § 7 Rn. 42.2). Zudem ist vor dem Hintergrund des Grundsatzes, dass nur eine umsichtig geplante und zielstrebig durchgeführte Ausbildung gefördert werden soll, vom Auszubildenden zu verlangen, dass er die erforderlichen Informationen einholt, bevor er mit dem Studium beginnt, mithin sich ein Bild von dem angestrebten Beruf und seiner Neigung hierzu macht (vgl. Buter in Rothe/Blanke, BAföG, Stand November 2021, § 7 Rn. 42.2; S.weg in R./S., BAföG, 7. Aufl. 2020, § 7 Rn. 141).
34
Des Weiteren ist anerkannt, dass es Auszubildenden obliegt, die Fachrichtung unverzüglich - also ohne schuldhaftes Zögern (vgl. § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB) - zu wechseln, sobald ihnen der wichtige oder unabweisbare Grund bekannt oder in seiner Bedeutung bewusst ist (vgl. Buter in Rothe/Blanke, BAföG, Stand November 2021, § 7 Rn. 48). Diese Obliegenheit ergibt sich aus der Pflicht des Auszubildenden, seine Ausbildung umsichtig zu planen und zügig und zielstrebig durchzuführen (vgl. Buter a.a.O., eine Verpflichtung annehmend). Für die Konkretisierung unverzüglichen Handelns sind objektive und subjektive Gesichtspunkte relevant, etwa ob ein Unterlassen des Fachrichtungswechsels vorwerfbar oder durch ausbildungsbezogene Umstände gerechtfertigt ist (vgl. Buter a.a.O.). Von fehlender Unverzüglichkeit wurde beispielsweise ausgegangen im Fall eines nach zwei Fachsemestern erkannten Neigungswandels im Studium der Rechtswissenschaften bei Fortführung dieses Studiums um ein weiteres Semester ohne den Willen, dieses noch berufsqualifizierend abzuschließen, um sodann das gewünschte Medizinstudium aufzunehmen (vgl. BVerwG NVwZ 1990, 1169; dazu Buter a.a.O.). Dagegen wurde die Versagung von Ausbildungsförderung mangels Unverzüglichkeit als Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG in einer Fallgestaltung angesehen, sofern der Neigungswandel gegen Ende des ersten Fachsemesters erkannt wird, in diesem Zeitpunkt der Anmeldetermin für das neue Studium bereits verstrichen ist und sodann ein weiteres Semester bis zum Fachrichtungswechsel vergeht (vgl. BVerfG, B.v. 3.7.1985 - 1 BvR 1428/82 - NVwZ 1985, 731; vgl. auch Buter a.a.O.). So sei die Verzögerung des Studienabbruchs um einige Monate, um abzuwarten, ob eine Zulassung zum neuen Studium erfolge, nicht von solcher Art und solchem Gewicht, die näher ausgeführte Ungleichbehandlung zu rechtfertigen (BVerfG a.a.O.; dazu Buter a.a.O.).
35
Ein mehrfacher Fachrichtungswechsel ist dabei förderungsunschädlich möglich, wenn für jeden Wechsel ein wichtiger Grund vorlag, was jeweils gesondert und selbstständig zu überprüfen ist (Buter in Rothe/Blanke, BAföG, Stand November 2021, § 7 Rn. 39).
36
bb) Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe erweisen sich die Fachrichtungswechsel des Klägers als förderungsunschädlich.
37
(1) Bezüglich des ersten Fachrichtungswechsels vom Studiengang … zum Studiengang „…“ wird das Vorliegen eines wichtigen Grundes i.S.d. § 7 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 Nr. 1 BAföG vermutet, da der Kläger den Fachrichtungswechsel bis zum Beginn des dritten Fachsemesters vollzog, § 7 Abs. 3 Satz 4 BAföG.
38
(2) Der Fachrichtungswechsel vom Studiengang „…“ zum Studiengang „…“ beruht ebenso auf einem wichtigen Grund gem. § 7 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 Nr. 1 BAföG, da ein Neigungswandel des Klägers vorliegt. Der Kläger legte im Rahmen seiner „Begründung für Fachrichtungswechsel und Verzögerung des Abschlusses“ und in der mündlichen Verhandlung insoweit überzeugend und nachvollziehbar dar, dass sich während des zweiten Semesters eine große Unzufriedenheit mit dem Studiengang „…“ eingestellt habe. Es habe sich herausgestellt, dass die Fächerkombination nicht seinen Interessen entsprochen habe. Er habe Klausuren mit Erfolg geschrieben in Fächern, die ihn interessierten, wie z.B. Fächer betreffend die europäischen Institutionen, Soziologie oder Politikwissenschaften. Anders sei dies in Fächern gewesen, die nicht seinen Interessen entsprochen hätten wie Geschichte und Ökonomie. Das Verlangen zu wechseln sei deutlich ausgeprägt gewesen. Damit macht der Kläger Gründe geltend, die als Neigungswandel anzuerkennen sind, zumal sich dieser in der Anfangsphase des Studiums vollzog. Zwar handelte es sich bereits um das zweite Studium des Klägers. Aus den glaubhaften Schilderungen des Klägers im Rahmen seiner formlosen Erklärung zum Fachrichtungswechsel geht jedoch hervor, dass er bei Beginn des Studiums davon ausgegangen ist, das gewählte Studienfach entspreche seinen Interessen. Der Kläger hat nach seinen glaubhaften Angaben vor der Aufnahme des Studiums auch an einem Erfahrungstag in M. teilgenommen und dort eine Studierende in ihrem Alltag an der Universität begleitet. Insoweit kam der Kläger auch seiner Obliegenheit nach, sich vor der Aufnahme des Studiums hinreichend zu informieren. Indem der Kläger nach Auftreten und Erkennen des Neigungswandels im zweiten Semester die Fachrichtung nach dem Ende des zweiten Semesters wechselte, vollzog er den Fachrichtungswechsel auch unverzüglich, § 121 BGB.
39
c) Dem Anspruch des Klägers stehen auch nicht §§ 15 f. BAföG oder § 48 BAföG entgegen. Mit Ablauf des Sommersemesters 2019 war zwar grundsätzlich das Ende der Förderungshöchstdauer erreicht. Dem Kläger steht jedoch ein Anspruch auf Ausbildungsförderung über die Förderungshöchstdauer hinaus für den Zeitraum September 2020 bis August 2021 zu, da die Förderungshöchstdauer aus schwerwiegenden Gründen überschritten worden ist.
40
aa) Gem. § 15 Abs. 2 Satz 1 BAföG wird Ausbildungsförderung für die Dauer der Ausbildung - einschließlich der unterrichts- und vorlesungsfreien Zeit - geleistet, bei Studiengängen an Hochschulen jedoch grundsätzlich nur bis zum Ende der Förderungshöchstdauer nach § 15a BAföG. Gem. § 15a Abs. 1 BAföG entspricht die Förderungshöchstdauer grundsätzlich der Regelstudienzeit nach § 10 Abs. 2 des Hochschulrahmengesetzes (HRG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. Januar 1999 (BGBl. I S. 18, FNA 2211-3) oder einer vergleichbaren Festsetzung. Gem. § 15a Abs. 2 Satz 1 BAföG sind auf die Förderungshöchstdauer anzurechnen u.a. Zeiten, die der Auszubildende vor Förderungsbeginn in der zu fördernden Ausbildung verbracht hat (Nr. 1), sowie Zeiten, die durch die zuständige Stelle auf Grund einer vorangegangenen Ausbildung oder berufspraktischen Tätigkeit oder eines vorangegangenen Praktikums für die zu fördernde Ausbildung anerkannt werden (Nr. 2).
41
Legt der Auszubildende eine Anerkennungsentscheidung im Sinne des § 15a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG nicht vor, setzt das Amt für Ausbildungsförderung gem. § 15a Abs. 2 Satz 3 BAföG die anzurechnenden Zeiten unter Berücksichtigung der jeweiligen Studien- und Prüfungsordnungen sowie der Umstände des Einzelfalles fest.
42
(1) Der Kläger hat die Förderungshöchstdauer mit Ablauf des Sommersemesters 2019 ausgeschöpft.
43
(a) Die Förderungshöchstdauer für das streitgegenständliche Studium entspricht vorliegend der Regelstudienzeit, mithin sechs Semestern, § 15a Abs. 1 BAföG. Dies ergibt sich aus der Bescheinigung des University College M. vom 9. Oktober 2020, wonach der Bachelorgrad nach einem Studium von drei Jahren und dem Erreichen von 180 ECTS verliehen werde. Die Regelstudienzeit von sechs Semestern haben die Beteiligten im Übrigen auch nicht in Frage gestellt.
44
(b) Auf die Förderungshöchstdauer sind keine Zeiten nach § 15a Abs. 2 BAföG anzurechnen, insbesondere nicht gemäß § 15a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BAföG. Gem. § 15a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BAföG sind auf die Förderungshöchstdauer Zeiten anzurechnen, die durch die zuständige Stelle auf Grund einer vorangegangenen Ausbildung oder berufspraktischen Tätigkeit oder eines vorangegangenen Praktikums für die zu fördernde Ausbildung anerkannt werden. Nach dem Wortlaut der Norm werden lediglich anerkannte „Zeiten“ angerechnet. Insofern ist zwar ausreichend, wenn die Entscheidung der zuständigen Stelle nicht auf die Anerkennung von Vorzeiten lautet, sondern der Auszubildende durch die zuständige Stelle in ein höheres Fachsemester eingestuft wird. Die Anerkennung einzelner Leistungen genügt hingegen nicht (vgl. hierzu im Ganzen Lackner in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Aufl. 2020, § 15a Rn. 13). Eine solche Anerkennung von Zeiten durch die Ausbildungsstelle liegt hier nicht vor. Dem Kläger wurden ausweislich der Leistungsübersichten und des Schreibens des University College M. vom … März 2021 zwar Leistungen im Umfang von 30 ECTS anerkannt. Eine Anerkennung von Vorzeiten oder eine Einstufung des Klägers in ein höheres Fachsemester durch die Ausbildungsstelle sind jedoch nicht ersichtlich. Insofern erklärte auch die Klägerseite mit Schriftsatz vom 24. August 2022, dass die formale Einstufung in ein Fachsemester - wie das in Deutschland üblich wäre - in den Niederlanden so nicht stattfinde. Auch eine Festsetzung anzurechnender Zeiten durch das Amt für Ausbildungsförderung erfolgte vorliegend nicht, § 15a Abs. 2 Satz 3 BAföG.
45
(c) Nachdem der Kläger das streitgegenständliche Studium im Wintersemester 2016/2017 aufgenommen hatte, war die Förderungshöchstdauer von sechs Semestern mithin mit Ablauf des Sommersemesters 2019 ausgeschöpft.
46
(2) Der Kläger hat jedoch für den Zeitraum September 2020 bis einschließlich Januar 2021 einen Anspruch auf Ausbildungsförderung über die Förderungshöchstdauer hinaus.
47
(a) Gem. § 15 Abs. 3 Nr. 1 BAföG wird über die Förderungshöchstdauer hinaus für eine angemessene Zeit Ausbildungsförderung geleistet, wenn die Förderungshöchstdauer aus schwerwiegenden Gründen überschritten worden ist. Die Norm enthält einen Auffangtatbestand für Fälle einer unzumutbaren Härte, die nicht unter die weiteren Nummern des § 15 Abs. 3 BAföG fallen (Winkler in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, Beckscher Online-Kommentar Sozialrecht, 65. Edition Stand 1.6.2022, § 15 BAföG Rn. 17). Um einen schwerwiegenden Grund handelt es sich, wenn Tatsachen vorliegen, die für die Verzögerung des erfolgreichen Abschlusses der Ausbildung innerhalb der Förderungshöchstdauer von erheblicher Bedeutung sind und die Förderung über die Förderungshöchstdauer hinaus unter Beachtung ihres Zwecks rechtfertigen (BVerwG, U.v. 16.8.1995 - 11 C 31/94 - juris Rn. 17). Dabei können nur solche Umstände Berücksichtigung finden, die für die Verzögerung von erheblicher Bedeutung sind, weil sie es dem Auszubildenden unmöglich oder unzumutbar machen, die Verzögerung zu verhindern (BVerwG, U.v. 28.6.1995 - 11 C 25/94 - juris Rn. 15). Der schwerwiegende Grund muss ausbildungsbezogen sein, d.h. subjektiv die Fähigkeit des Auszubildenden, die Ausbildung planmäßig durchzuführen, oder objektiv die äußeren Umstände des Ausbildungsganges betreffen (BVerwG, U.v. 22.10.1981 - 5 C 113/79 - juris Rn. 18). In diesem Sinne kann auch eine (psychische) Erkrankung einen schwerwiegenden Grund darstellen (vgl. Winkler in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar Sozialrecht, 65. Edition Stand 1.6.2022, § 15 BAföG Rn. 21).
48
Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 BAföG wird Ausbildungsförderung über die Förderungshöchstdauer hinaus nur geleistet, wenn die Förderungshöchstdauer „aus“ schwerwiegenden Gründen überschritten wurde. Die Regelung des § 15 Abs. 3 BAföG zählt zwar typische Fallgestaltungen auf, bei denen der Auszubildende an einer ordnungsgemäßen und ungestörten Durchführung der Ausbildung gehindert ist. Dabei können jedoch nur solche Umstände berücksichtigt werden, die - alternativ oder kumulativ - für die Verlängerung der Ausbildung und die daraus folgende Überschreitung in dem Sinne kausal sind, dass der Auszubildende den Zeitverlust nicht mit zumutbaren Mitteln und Anstrengungen aufholen konnte bzw. kann (vgl. hierzu im Ganzen Fischer in Rothe/Blanke, BAföG, Stand November 2021, § 15 Rn. 13). Der Grund nach § 15 Abs. 3 BAföG muss eine nicht unerhebliche Ausbildungsverzögerung verursacht haben, wobei es dem Auszubildenden insbesondere obliegt, darzulegen und glaubhaft zu machen, dass der versäumte Stoff nicht aufgeholt werden konnte (vgl. BayVGH, B.v. 10.2.2021 - 12 ZB 20.2821 - BeckRS 2021, 2706 m.w.N.). Aus § 15 Abs. 3 BAföG ergibt sich keine widerlegliche Vermutung der Kausalität (vgl. VG Saarland, U.v. 26.1.2021 - 3 K 620/19 - juris Rn. 54). Vielmehr trägt der Auszubildende die Feststellungslast hinsichtlich der Ursächlichkeit der von ihm geltend gemachten Verlängerungsgründe für den Ausbildungsrückstand, sodass Ungewissheiten und Unklarheiten bei der Feststellung der Ursächlichkeit zum Nachteil des Auszubildenden gehen, sofern sie in seinen Verantwortungs- und Verfügungsbereich fallen (Fischer in Rothe/Blanke, BAföG, Stand November 2021 § 15 Rn. 13; BVerwG, U.v. 13.10.1988 - 5 C 35/85 - juris Rn. 15). Nach allgemeinen Grundsätzen ist ein Umstand für ein bestimmtes Ereignis ursächlich bzw. kausal, wenn der Umstand nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass das Ereignis entfällt. Entsprechend dürfte es hier, die schwerwiegenden Gründe hinweggedacht, zu keiner Überschreitung der Förderungshöchstdauer gekommen sein (so für § 15 Abs. 3 Nr. 4 BVerwG, U.v. 13.10.1988 - 5 C 35/85 - NVwZ 1989, 370, 372). Anders ausgedrückt muss die Überschreitung der Förderungshöchstdauer ausschließlich auf Gründen i.S.v. § 15 Abs. 3 BAföG beruhen (so ausdrücklich OVG Bremen, B.v. 23.8.2019 - 1 PA 161/19 - BeckRS 2019, 19594 Rn.11, 15; VG Bremen, U.v. 17.2.2021 - 7 K 1160/19 - juris Rn. 11, 15; VG Hamburg, U.v. 4.2.2014 - 2 K 3204/12 - BeckRS 2014, 48278; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 26.11.2018 - 4 LB 404/17). Dagegen hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sinngemäß ausgeführt, eingetretene Studienverzögerungen müssten allein oder jedenfalls weitaus überwiegend auf dem Grund nach § 15 Abs. 3 BAföG beruhen (B.v. 17.6.2013 - 12 CE 13.999 - juris Rn. 25).
49
Das Gesetz fordert grundsätzlich, dass der Auszubildende seine Arbeitskraft voll einsetzt, damit er seine Ausbildung innerhalb der Förderungshöchstdauer abschließen kann. Ist ihm das nicht möglich und zumutbar, muss er sich - gegebenenfalls rückwirkend - beurlauben lassen (vgl. hierzu im Ganzen BayVGH, B.v. 15.12.2016 - 12 ZB 16.1141 - juris Rn. 5). Ist für den Auszubildenden daher erkennbar, dass die Studierfähigkeit eingeschränkt ist, muss er eine Beurlaubung in Erwägung ziehen, da die Ausbildungsförderung nach dem BAföG nicht der Finanzierung des allgemeinen Lebensunterhalts dient (Winkler in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar Sozialrecht, 65. Edition Stand 1.6.2022, § 15 BAföG Rn. 21). Allerdings kann die Obliegenheit zur Beurlaubung nicht beliebig ausgedehnt werden. Denn sonst verbliebe - ersichtlich gesetzeswidrig - § 15 Abs. 3 Nr. 1 BAföG letztlich kein Anwendungsbereich.
50
(b) Nach diesen Grundsätzen kann sich der Kläger zwar im Hinblick auf Verzögerungen im Wintersemester 2018/2019 auf einen schwerwiegenden Grund berufen, nicht jedoch im Hinblick auf das Sommersemester 2019.
51
(aa) Die Erkrankung des Klägers stellt einen schwerwiegenden Grund i.S.v. § 15 Abs. 3 Nr. 1 BAföG dar, der für die Überschreitung der Förderungshöchstdauer kausal wurde. Wie aus dem fachärztlichen Attest vom … April 2021 hervorgeht, war der Kläger vom … September 2018 bis zum … Juni 2019 bei Frau … wegen einer tief depressiven Stimmungslage mit einer deutlichen Antriebsstörung, Anhedonie, Minderbelastbarkeit und Konzentrations- und Schlafstörungen in Behandlung. Es habe immer wieder akute Krisen mit latent suizidalen Gedanken und Selbstverletzungen gegeben. Es habe aus ärztlicher Sicht eine erhebliche Beeinträchtigung des Leistungsvermögens vorgelegen. Mit diesen Ausführungen im Einklang steht die Leistungsübersicht des Klägers, die vor dem Sommersemester 2018 bzw. Wintersemester 2018/2019 eine stete Leistung zeigt, im Wintersemester 2018/2019 und Sommersemester 2019 jedoch aufgrund mehrerer nicht bestandener Leistungen überhaupt keine erbrachten ECTS-Punkte mehr. Der Schweregrad der Erkrankung wird schließlich auch aus dem auf das sechste Semester folgenden stationären Aufenthalt ersichtlich. Dem Kläger wurde eine eingeschränkte Studierfähigkeit für das Sommersemester 2018 (Einschränkung zu 80%) und für das Wintersemester 2018/2019 (Einschränkung zu 60%) durch … bescheinigt. Zwar ist diese Bescheinigung mit Blick auf das Sommersemester 2018 rückwirkend von einer Fachärztin für Allgemeinmedizin ausgestellt worden. Jedoch trug auch der Kläger glaubhaft vor, die gesundheitlichen Beschwerden hätten bereits im Sommersemester 2018 begonnen. Dies ist auch deshalb überzeugend, da es nachvollziehbar erscheint, dass sich eine tief depressive Stimmungslage eher schleichend über einen gewissen Zeitraum entwickelt. Überdies stellt § 15 Abs. 3 Nr. 1 BAföG auf die Überschreitung der Förderungshöchstdauer ab, mithin darauf, ob Verzögerungen im Studium kausal auf einen schwerwiegenden Grund zurückzuführen sind. Unmittelbar nach Abschluss des Sommersemesters 2018 bestand jedoch noch keine Verzögerung im Hinblick auf die Leistungen des Klägers. So hat der Kläger ausweislich der Leistungsübersicht - unter Berücksichtigung der angerechneten Leistungen - mit Ablauf des 4. Semesters 141 ECTS erbracht. Sofern zugrunde gelegt wird, dass pro Semester 30 ECTS erzielt werden sollen, wären lediglich 120 ECTS erforderlich gewesen. Nichts anderes gilt, sollten die Leistungen in den Fächern „…“ (5 ECTS) und „…“ (6 ECTS) nicht zu den erforderlichen 120 ECTS zählen, da sie in der zur Bachelorurkunde gehörenden Leistungsübersicht vom 31. August 2021 nicht (mehr) verzeichnet sind. Denn auch unter Außerachtlassung dieser ECTS hätte der Kläger 130 von 120 erforderlichen ECTS erbracht.
52
(bb) Einem Anspruch des Klägers auf Ausbildungsförderung über die Förderungshöchstdauer hinaus kann nicht entgegengehalten werden, dass er sich im Sommersemester 2018 bzw. Wintersemester 2018/2019 nicht hat beurlauben lassen. Denn insoweit durfte der Kläger auch ausbildungsförderungsrechtlich berechtigterweise noch auf eine zeitnahe Besserung seines Gesundheitszustands hoffen.
53
Im Sommersemester 2018 hat der Kläger immerhin noch Leistungen i.H.v. 20 ECTS erbracht, auch wenn sich diese - wie der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgebracht hat - auf die erste Zeit des Semesters bezogen haben. Auch lag in diesem Zeitpunkt, zumindest was das bisherige Studium insgesamt angeht, noch keine Verzögerung vor. Vielmehr hatte der Kläger insoweit binnen vier Semestern jedenfalls noch mehr als 120 ECTS erworben. Betreffend das Wintersemester 2018/2019 befand sich der Kläger ausweislich der ärztlichen Bescheinigung vom … April 2021 ab dem … September 2018 in ambulanter Behandlung. Vor allem hat der Kläger aber in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben, er habe alles Mögliche versucht, seinen Abschluss zu erreichen. Er habe z.B. Fristverlängerungen und Hilfe psychotherapeutischer und psychiatrischer Natur sowie Hilfe einer eigens von der Fakultät hierfür eingestellten Psychologin erhalten. Er sei kurz vor seinem Abschluss gestanden und habe dazu noch immer die Möglichkeit gehabt. Er sei nur einen Schritt entfernt gewesen und habe gedacht, dass er es realistisch schaffen könne auf Grund der Möglichkeiten, die er sich geschaffen habe, wie beispielsweise Fristverlängerungen. Auch aus Sicht der Universität sei es noch möglich gewesen, dass er den Abschluss erreiche. Wie aus den Unterlagen ersichtlich sei er bereits im fünften Semester für den Capstone registriert gewesen, was nur möglich sei, sofern der Abschluss in diesem Semester möglich sei. Mit der Psychologin der Universität habe er daran gearbeitet, sein Studium im fünften Semester zum Abschluss zu bringen. Bestätigt wird dies dadurch, dass der Kläger im fünften Semester entsprechend seinem Willen, das Studium abzuschließen, an Lehrveranstaltungen teilgenommen und nach der in der mündlichen Verhandlung übermittelten Übersicht auch Teilleistungen erbracht und Klausuren mitgeschrieben hat, die allerdings nach Abschluss des Semesters verfielen. Nach alledem ist die Kammer davon überzeugt, dass der Kläger berechtigterweise darauf hoffen durfte, sein Studium im Wintersemester 2018/2019 erfolgreich abzuschließen, sodass es ihm insoweit förderungsrechtlich nicht oblag, ein Urlaubssemester zu beantragen.
54
bb) Entsprechend kann der Bewilligung von Ausbildungsförderung für die Zeit von September 2020 bis einschließlich Januar 2021 auch nicht § 48 BAföG entgegengehalten werden, da gem. § 48 Abs. 2 BAföG Tatsachen vorliegen, die eine Überschreitung der Förderungshöchstdauer um ein Semester rechtfertigen.
55
Der Klage war daher im tenorierten Umfang stattzugeben.
56
2. Soweit der Kläger auch für den Bewilligungszeitraum Februar 2021 bis August 2021 die Bewilligung von Ausbildungsförderung begehrt, war die Klage abzuweisen. Er hat insoweit keinen Anspruch auf Bewilligung von Ausbildungsförderung über die Förderungshöchstdauer hinaus. Denn insoweit oblag es dem Kläger, sich nach Abschluss des Wintersemesters 2018/2019 beurlauben zu lassen. Zwar durfte der Kläger wie, ausgeführt, berechtigterweise auf einen erfolgreichen Abschluss seines Studiums im Wintersemester 2018/2019 hoffen. Nachdem es ihm jedoch mit Abschluss des Wintersemesters 2018/2019 nicht gelungen war, auch nur eine der angetretenen Prüfungen bzw. Wiederholungsprüfungen zu bestehen und ECTS-Punkte zu erzielen, hätte der Kläger erkennen müssen, dass seine Erkrankung seine Studierfähigkeit ganz erheblich beeinträchtigt und voraussichtlich keinen Abschluss des Studiums innerhalb eines Semesters erlauben wird. Die anderweitige Hoffnung des Klägers erweist sich insoweit als unberechtigt bzw. unbegründet, als er über im Wintersemester 2018/2019 bereits laufende Behandlungen hinaus keine weiteren Maßnahmen ergriffen hat bzw. ergreifen konnte, die eine zeitnahe Genesung nahegelegt hätten. Hinsichtlich eines Anspruchs auf Ausbildungsförderung für den Zeitraum Februar 2021 bis August 2021 war demnach die Klage abzuweisen.
57
3. Soweit der Kläger hilfsweise Förderung im Übrigen, auch Abschlussförderung begehrt, ist die Bedingung des Hilfsantrags für den Zeitraum Februar 2021 bis August 2021 zwar eingetreten. Die Klage erweist sich jedoch mangels vorheriger Antragstellung bei dem Beklagten insoweit bereits als unzulässig.
58
Die Zulässigkeitsvoraussetzung eines vorherigen erfolglosen Antrags bei der Behörde folgt aus § 68 Abs. 2 VwGO, § 75 Satz 1 VwGO, sofern das einschlägige Verwaltungsverfahrensrecht keine abweichende Regelung trifft. Sie stellt neben dem Schutz der Gerichte vor unnötiger Inanspruchnahme eine Ausprägung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Gewaltenteilung dar, demzufolge es zunächst Sache der Verwaltung ist, sich mit Ansprüchen zu befassen, die an sie gerichtet werden (vgl. hierzu im Ganzen in einem Fall des einstweiligen Rechtsschutzes BVerwG, B.v. 22.11.2021 - 6 VR 4/21 - NVwZ-RR 2022, 164 Rn. 8). Etwas anderes mag gelten, sofern die Behörde den geltend gemachten Anspruch im gerichtlichen Verfahren unmissverständlich ablehnt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 34).
59
Gem. § 15 Abs. 3a Satz 1 BAföG wird Auszubildenden an Hochschulen, die sich in einem selbstständigen Studiengang befinden, als Hilfe zum Studienabschluss für höchstens zwölf Monate Ausbildungsförderung auch nach dem Ende der Förderungshöchstdauer oder der Förderungsdauer nach § 15 Abs. 3 Nr. 1, 2, 3 oder 5 BAföG geleistet, wenn die Auszubildenden spätestens innerhalb von vier Semestern nach diesem Zeitpunkt zur Abschussprüfung zugelassen worden sind und die Prüfungsstelle bescheinigt, dass sie die Ausbildung innerhalb der Dauer der Hilfe zum Studienabschluss abschließen können. Ist eine Abschlussprüfung nicht vorgesehen, gilt § 15 Abs. 3a Satz 1 BAföG gem. § 15 Abs. 3a Satz 2 BAföG unter der Voraussetzung, dass die Auszubildenden eine Bestätigung der Ausbildungsstätte darüber vorlegen, dass sie die Ausbildung innerhalb der Dauer der Hilfe zum Studienabschluss abschließen können. Gem. § 46 Abs. 1 BAföG wird über die Leistung von Ausbildungsförderung auf schriftlichen oder elektronischen Antrag entschieden.
60
Voraussetzung für die Bewilligung von Studienabschlusshilfe ist ein Antrag, der gerade auf die Bewilligung von Studienabschlusshilfe gerichtet ist. Dagegen reicht der bloße Antrag auf Bewilligung von Ausbildungsförderung nicht aus. So geht aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Februar 2013 (5 C 14/12 - NVwZ-RR 2013, 610) hervor, dass maßgeblicher Anfangszeitpunkt für die von dem Prüfungsamt nach § 15a Abs. 3a Satz 1 BAföG anzustellende Prognose der Beginn des Zeitraumes ist, für den die Hilfe zum Studienabschluss beantragt wird. Zeitlicher Anfangszeitpunkt für die Prognose sei daher der Anfang des Monats, der in dem Antrag nach § 46 Abs. 1 Satz 1 BAföG als Anfangszeitpunkt der begehrten Abschlussförderung bezeichnet werde. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist daher ein Antrag gerade auf Bewilligung von Abschlussförderung erforderlich. Auch in der Kommentarliteratur wird davon ausgegangen, dass der Auszubildende den Beginn der Hilfe zum Studienabschluss letztlich selbst bestimmt (Dispositionsgrundsatz), indem er in dem nach § 46 Abs. 1 BAföG erforderlichen Antrag den begehrten Anfangszeitpunkt einträgt (vgl. Lackner in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Aufl. 2020, § 15 Rn. 45). All dies überzeugt, da die Bewilligung von Studienabschlusshilfe als reines Darlehen erfolgt, und daher nicht stets davon ausgegangen werden kann, dass jeder Studierende, der Ausbildungsförderung über die Förderungshöchstdauer hinaus beantragt, hilfsweise für den entsprechenden Bewilligungszeitraum Studienabschlusshilfe als reines Bankdarlehen mit der Folge höherer Verschuldung begehrt.
61
An einem solchen Antrag des Klägers beim Beklagten fehlt es. Mit Schreiben vom 17. September 2020 hatte der Beklagte den Kläger gebeten, als Nachweis für das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Studienabschlusshilfe den beigefügten Vordruck vollständig ausgefüllt, unterschrieben und abgestempelt vorzulegen. Nachdem der Kläger daraufhin mit Schreiben vom 5. November 2020 ausgeführt hatte, warum nach seiner Ansicht eine Verlängerung der Förderungshöchstdauer auf das Wintersemesters 2020/2021 sowie das Sommersemester 2021 geboten sei, erläuterte er in demselben Schreiben, aus den vorliegenden Gründen habe er daher die Bescheinigung zur Abschlussförderung nach § 15 Abs. 3a BAföG nicht ausgefüllt. Mit dieser Erklärung seien sämtliche angeforderten Dokumente bzw. Nachweise von seiner Seite an das zuständige BAföG-Amt übermittelt worden. Der Kläger hat damit ausdrücklich darauf verzichtet, einen Antrag auf Bewilligung von Studienabschlusshilfe bei dem Beklagten zu stellen. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 29. August 2022 erstmals die Bewilligung von Studienabschlussförderung begehrt, kann diesem Begehren seitens des Gerichts nicht entsprochen werden, auch wenn in dem prozessualen Klageantrag des Klägers gleichzeitig ein materieller Antrag gegenüber der Bezirksregierung Köln nach § 46 Abs. 1 BAföG zu sehen sein sollte. Da jedenfalls ein vorheriger Antrag bei der Behörde nicht vorliegt, erweist sich die Klage betreffend den Hilfsantrag bereits als unzulässig (vgl. etwa BVerwG, B.v. 22.11.2021 - 6 VR 4/21 - NVwZ-RR 2022, 164; OVG LSA, U.v. 20.1.2022 - 2 L 10/21 - NVwZ-RR 2022, 444 Rn. 10). Für einen Anspruch auf Studienabschlusshilfe fehlt es jedenfalls für die Zeit vor dem 29. August 2022 zudem an der materiellen Anspruchsvoraussetzung der Antragstellung, da Förderungsanträge grundsätzlich keine Rückwirkung entfalten (Lackner in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Aufl. 2020, § 46 Rn. 2). Schließlich liegt hier auch kein Fall vor, in dem die Behörde das Begehren des Klägers auf Abschlusshilfe im gerichtlichen Verfahren unmissverständlich abgelehnt hätte. Vielmehr hat der Kläger den in Frage stehenden Hilfsantrag erstmals in der mündlichen Verhandlung gestellt, zu der der Beklagte nicht erschienen war.
62
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 161 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Angesichts des hälftigen Obsiegens bzw. Unterliegens der Beteiligten waren die Kosten des Verfahrens hälftig zu teilen. Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO gerichtskostenfrei. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, §§ 711, 713 ZPO.