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BayObLG, Beschluss v. 21.11.2022 – 201 ObOWi 1291/22
Titel:

Anforderungen an freisprechendes Urteil bei Abweichung von Bedienungsanleitung

Normenketten:
StPO § 261, § 267 Abs. 5 S. 1
OWiG § 79
Leitsätze:
1. Wird bei der Durchführung einer amtlichen Geschwindigkeitsmessung von den Vorgaben der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers abgewichen, gibt dies Anlass zu der Überprüfung, ob das erzielte Messergebnis den Vorgaben eines sog. standardisierten Messverfahrens entspricht. (Rn. 5)
2. Abweichungen von Vorgaben der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers vermögen das Vorliegen eines sog. standardisierten Messverfahrens jedenfalls dann nicht in Frage zu stellen, wenn die Möglichkeit einer fehlerhaften Messung ausgeschlossen ist. (Rn. 9)
Schlagworte:
Rechtsbeschwerde, Bußgeldverfahren, Urteil, Freispruch, Staatsanwaltschaft, Tatgericht, Rechtsbeschwerdegericht, Sachrüge, Feststellungen, lückenhaft, Geschwindigkeitsüberschreitung, Geschwindigkeitsmessung, Einzelmessung, Messgerät, Messverfahren, Messergebnis, Messreihe, Messgerätehersteller, standardisiert, Messbeamter, Laserscanner, PoliScanSpeed, Bedienungsanleitung, Abweichung, Messfehler, Verfälschung, Annullierungsquote, Schulung, Beweiswürdigung, Zweifel, Eichung, Physikalisch-Technische, Bundesanstalt, PTB, Rohmessdatenpunkte, Sachverständigengutachten, Urteilsgründe, Anknüpfungstatsachen, Schlussfolgerung, Darstellung, Darstellungsmangel, Schwenkwinkel, Smear-Effekt, Speicherung, Plausibilitätsprüfung, Fahrverbot, Zeitablauf, Verfahrensdauer, Einzelfall, Einflussbereich, Lückenhafte Feststellungen, Standardisierte messverfahren, PoliScan Speed, Gerätehersteller
Fundstellen:
NZV 2023, 271
ZfS 2023, 225
LSK 2022, 41451
BeckRS 2022, 41451
DAR 2023, 223

Tenor

I. Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts München vom 14.02.2022 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht München zurückverwiesen.

Gründe

I.
1
Das Amtsgericht hat den Betroffenen aus tatsächlichen Gründen vom Vorwurf, am 29.04.2020 auf der A-Straße in B. mit einem Kraftfahrzeug fahrlässig die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerorts um 34 km/h überschritten zu haben, freigesprochen. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Staatsanwaltschaft mit der Rechtsbeschwerde und begründet diese mit der Sachrüge sowie mit der Verfahrensrüge der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht. Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird von der Generalstaatsanwaltschaft vertreten, welche die Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts vom 14.02.2022 mit den zugrunde liegenden Feststellungen und die Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht beantragt. Der Verteidiger hat mit Schriftsatz vom 28.03.2022 eine Gegenerklärung zur Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft und mit Schriftsatz vom 26.10.2022 zur Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 27.09.2022 abgegeben.
II.
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Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hat bereits auf die Sachrüge hin Erfolg, sodass es auf die erhobene Aufklärungsrüge nicht mehr ankommt. Die angefochtene Entscheidung unterliegt der Aufhebung, weil die den Freispruch aus tatsächlichen Gründen tragende Beweiswürdigung lückenhaft ist (§ 267 Abs. 5 Satz 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG).
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1. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts erfolgte die Geschwindigkeitsmessung mit einem geeichten Messgerät PoliScanSpeed, Softwareversion 3.2.4., welches zum Zeitpunkt der verfahrensgegenständlichen Messung auf einem Stativ auf einer Rasenfläche neben der Fahrbahn aufgestellt war. Das Amtsgericht sah es nach durchgeführter Beweisaufnahme als erwiesen an, dass das Messgerät entgegen den Vorgaben in Ziffer 7.1.1 der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers nicht auf einem hinreichend festen Untergrund aufgestellt gewesen sei. So habe der als Zeuge vernommene Messbeamte zwar pauschal bestätigt, dass er die Messung entsprechend seiner Schulung und gemäß der Bedienungsanleitung durchgeführt habe, sich aber nicht mit Sicherheit daran erinnern können, dass er auf ausreichend festen Untergrund bei der Aufstellung des Messgeräts im Stativbetrieb geachtet habe. Zudem habe der hinzugezogene Sachverständige für Geräte zur Verkehrsüberwachung feststellen können, dass sich während der Messung der horizontale Schwenkwinkel des Messgerätes verändert habe, und daraus den Schluss gezogen, dass das Messgerät nicht auf einem hinreichend festen Untergrund aufgestellt worden sei und damit ein Verstoß gegen die Bedienungsanleitung vorliege. Das Amtsgericht ging deshalb nicht vom Vorliegen einer Messung im sog. standardisierten Messverfahren aus. Die damit erforderliche nachträgliche individuelle Überprüfung auf Messfehler sei dem Sachverständigen aufgrund der ihm vorliegenden Anknüpfungstatsachen aber nicht möglich gewesen, da die hierzu von ihm benötigten Daten durch das Gerät nicht gespeichert werden. Daher sei der Betroffene freizusprechen.
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2. Das Rechtsbeschwerdegericht hat es regelmäßig hinzunehmen, wenn das Tatgericht einen Betroffenen freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag (st.Rspr.; BGH, Urt. v. 26.01.2021 - 1 StR 376/20; Beschluss vom 22.10.2019 - 1 StR 219/17; Urt. v. 29.04.2015 - 5 StR 79/15; v. 12.02.2015 - 4 StR 420/14 und v. 11.08.2011 - 4 StR 191/11, jew. bei juris m.w.N.). Denn die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st.Rspr.; vgl. nur BGH, Urt. v. 13.10.2020 - 1 StR 299/20; 29.04.2015 - 5 StR 79/15 und v. 11.08.2011 - 4 StR 191/11, jew. bei juris m.w.N.). So liegt der Fall hier.
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3. Zwar hat das Amtsgericht im Ansatz zutreffend erkannt, dass es sich bei der Geschwindigkeitsmessung mittels des Messgerätes PoliScanSpeed um ein sog. standardisiertes Messverfahren handelt (st.Rspr., vgl. nur jüngst OLG Naumburg, Beschluss vom 25.01.2021 - 1 Ws 205/20 bei juris). Bei Verwendung eines von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (im Folgenden: PTB) zugelassenen und gültig geeichten Messgeräts, das durch geschultes Personal entsprechend den Vorgaben der Bedienungsanleitung bedient wurde, ist das Tatgericht nicht gehalten, weitere technische Prüfungen, insbesondere auch zur Funktionsweise des Geräts zu veranlassen. Nur wenn sich im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte ergeben, die geeignet sind, Zweifel an der Richtigkeit des Messergebnisses zu begründen, kann eine nähere Überprüfung des gemessenen Geschwindigkeitswertes - sei es durch einen Sachverständigen für Messtechnik, sei es durch eine ergänzende Stellungnahme der PTB oder des Geräteherstellers - geboten sein. Umständen, die abweichend vom Regelfall dem Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Messung entgegenstehen und konkrete Zweifel an der Funktionstüchtigkeit und der sachgerechten Handhabung des eingesetzten Geschwindigkeitsmessgeräts begründen, muss das Gericht nachgehen (OLG Bamberg, Beschluss vom 15.12.2017 - 2 Ss OWi 1703/17 bei juris).
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Hiervon ausgehend sah sich das Amtsgericht mit Blick auf seine Zweifel am Vorliegen eines ausreichend festen Untergrundes am Messplatz gehalten, sich zur Überprüfung der Messung sachverständiger Hilfe zu bedienen. Jedoch ist die tatrichterliche Beweiswürdigung zum Fehlen eines derartigen Untergrundes, die sich wesentlich auf das Gutachten des Sachverständigen stützt, lückenhaft, da weder die tatsächlichen Anhaltspunkte noch die vom Sachverständigen gezogenen Schlussfolgerungen so dargestellt werden, dass das Rechtsbeschwerdegericht überprüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht.
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a) Der Tatrichter, der ein Sachverständigengutachten eingeholt hat und diesem Beweisbedeutung beimisst, muss auch dann, wenn er sich dem Gutachten des Sachverständigen anschließt, die Ausführungen des Sachverständigen in einer, wenn auch nur gedrängten, zusammenfassenden Darstellung unter Mitteilung der zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen und der daraus gezogenen Schlussfolgerungen wiedergeben, um dem Rechtsbeschwerdegericht die gebotene Nachprüfung zu ermöglichen, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Ergebnisse nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind (st.Rspr.; BGH, Urt. v. 02.04.2020 - 1 StR 28/20; 23.01.2020 - 3 StR 433/19; 22.05.2019 - 1 StR 79/19 und 24.01.2019 - 1 StR 564/18, jew. bei juris). Bei einem messtechnischen Sachverständigengutachten handelt es sich nicht um eine standardisierte Untersuchungsmethode, bei der sich die Darstellung im Wesentlichen auf die Mitteilung des erzielten Ergebnisses beschränken kann (BGH, Beschluss vom 24.01.2019 a.a.O.).
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Diesen Anforderungen werden die Urteilsausführungen nicht gerecht. Der Senat kann schon nicht überprüfen, ob hier tatsächlich bei der Bedienung des Messgeräts von den Vorgaben der Bedienungsanleitung in Ziffer 7.1.1 abgewichen worden ist, wonach „das Messgerät so nah wie möglich am Fahrbahnrand“ zu platzieren und „insbesondere bei Stativbetrieb auf ausreichend festen Untergrund zu achten“ ist (vgl. S. 31 der Gebrauchsanweisung PoliScanSpeed M1/M1 HP - Software-Version 3.2.4 - Stand: 09.12.2014). Zwar hat der messtechnische Sachverständige ausweislich der Urteilsgründe festgestellt, dass sich „während der Messung der horizontale Schwenkwinkel des Messgeräts verändert“ habe und dies darauf schließen lasse, dass das Messgerät nicht auf einem hinreichend festen Untergrund aufgestellt worden sei. Es wird aber weder mitgeteilt, anhand welcher Anknüpfungstatsachen der Sachverständige die Abweichung des Messwinkels „während der Messung“ festgestellt hat, noch geben die Urteilsgründe Aufschluss darüber, aufgrund welcher Methode die Abweichung festgestellt wurde und ob die Veränderung des Messwinkels zwingend darauf schließen lässt, dass das Messgerät entgegen der Bedienungsanleitung nicht auf ausreichend festem Grund stand oder ob hierfür weitere Ursachen denkbar sind. Unklar ist insbesondere, ob die Veränderung des horizontalen Schwenkwinkels während der laufenden Einzelmessung des Fahrzeugs des Betroffenen oder im Verlauf der gesamten Messreihe erfolgt ist.
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b) Die Ausführungen der Tatrichterin lassen zudem besorgen, dass sie das Vorliegen eines sog. standardisierten Messverfahrens durch jedwede Abweichung von den Vorgaben der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers in Frage gestellt sieht. Dem ist aber nicht so, wie etwa die Problematik einer im Einzelfall nicht ausschließbaren bauartbedingten Berücksichtigung von Messpunkten und der hierdurch bedingten Generierung von Rohmessdaten mit entgegen der Bedienungsanleitung außerhalb des Messbereichs liegenden Ortskoordinaten bei dem Messgerät PoliScanSpeed zeigt, durch welche nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung auf der Grundlage einer entsprechenden Stellungnahme der PTB das Vorliegen eines sog. standardisierten Messverfahrens nicht in Frage gestellt ist (vgl. nur OLG Zweibrücken DAR 2017, 211; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 21.04.2017 - Ss Rs 13/2017; KG, Beschluss vom 21.06.2017 - 162 Ss 90/17; OLG Braunschweig, Beschluss vom 14.06.2017 - 1 Ss [OWi] 115/17, jew. bei juris; OLG Karlsruhe ZfSch 2017, 652; OLG Bamberg, Beschluss vom 24.07.2017 - 3 Ss OWi 976/17 bei juris; OLG Hamm, Beschluss vom 18.08.2017 - 1 RBs 47/17 = BeckRS 2017, 123171). Abweichungen von Vorgaben der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers vermögen mithin das Vorliegen eines sog. standardisierten Messverfahrens jedenfalls dann nicht in Frage zu stellen, wenn die Möglichkeit einer fehlerhaften Messung ausgeschlossen ist.
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Das angefochtene Urteil lässt in diesem Zusammenhang insbesondere Ausführungen zu der Frage vermissen, ob die Aufstellung des Messgeräts entgegen Ziffer 7.7.1 der Bedienungsanleitung auf einem nicht ausreichend festen Untergrund überhaupt Einfluss auf das Messergebnis haben kann oder etwa lediglich eine bloße Empfehlung im Sinne einer Sollvorschrift darstellt, die lediglich eine höhere Annullierungsquote bei den Messungen verhindern soll, ohne das Messergebnis beeinflussen zu können (vgl. hierzu etwa OLG Naumburg, Beschluss vom 03.09.2015 - 2 WS 174/15 = BeckRS 2016, 6786 = DAR 2016, 403; KG, Beschluss vom 11.03.2009 - 3 Ws (B) 67/08 = BeckRS 2009, 28988). Die Stellungnahme der PTB vom 02.06.2016 zu der Frage, ob bei Laserscannern der PoliScan-Familie, mit denen aus einem stehenden Messfahrzeug heraus gemessen wird, das Ein- und Aussteigen oder Bewegungen des Messpersonals im Messfahrzeug zu einer Falschmessung führen können (verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.7795/520.20160913B), könnte jedenfalls an der Möglichkeit eines Messfehlers zweifeln lassen.
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c) Soweit das Amtsgericht (aus seiner Sicht konsequent) von einem individuellen Messverfahren ausgegangen ist, das die Vermutung der Richtigkeit und Genauigkeit für sich nicht in Anspruch nehmen kann (OLG Bamberg, Beschluss vom 15.12.2017 - 2 Ss OWi 1703/17 bei juris; OLG Naumburg DAR 2016, 403), hat es zwar im Ansatz zutreffend erkannt, dass etwaige Abweichungen von der Bedienungsanleitung nicht zur Unverwertbarkeit des Messergebnisses führen, sondern es dann, wenn es die Verurteilung auf ein solches, durch den Mangel eines Verstoßes gegen die Bedienungsanleitung belastetes Messergebnis stützen will, gehalten ist, dessen Korrektheit individuell zu überprüfen, was in aller Regel nicht ohne die Mitwirkung eines Sachverständigen möglich ist (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 15.12.2017 a.a.O.; OLG Koblenz DAR 2006, 101; KG VRS 116, 446; OLG Naumburg a.a.O.). Jedoch erweist sich die seinem Freispruch zugrunde liegende Beweiswürdigung auch insoweit als lückenhaft, als es auf der Grundlage der Ausführungen des messtechnischen Sachverständigen zu dem Ergebnis kommt, dass eine individuelle Überprüfung des Messergebnisses vorliegend nicht möglich sei.
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Das angefochtene Urteil teilt hierzu lediglich mit, dass dem Sachverständigen eine nachträgliche Überprüfung auf Messfehler nicht möglich gewesen sei, weil die hierzu von ihm benötigten Daten durch das Messgerät nicht gespeichert werden. Diese Ausführungen lassen bereits nicht erkennen, welche „Daten“ der Sachverständige zur individuellen Überprüfung der Messung benötigt hätte. Sollte der Sachverständige insoweit auf den Umstand der fehlenden vollständigen Abspeicherung von Rohmessdatenpunkten durch das hier verwendete Messgerät abgestellt haben, so wäre das Amtsgericht gehalten gewesen, dies kritisch zu hinterfragen. Aus einer Vielzahl von Verfahren ist dem Senat bekannt, dass Messungen auch mit Messgeräten, die - wie hier - nur einen Bruchteil der Gesamtheit an Rohmessdatenpunkten in der Falldatei ausweisen, jedoch diverse zusätzliche Informationen bzw. Zusatzdaten speichern, durch messtechnische Sachverständige - ggf. unter Einbeziehung der Daten der Statistikdatei sowie der gesamten Messreihe - auf Irregularitäten überprüft werden können, welche auf eine technische Fehlfunktion der Messanlage oder eine fehlerhafte Bedienung derselben hinweisen und damit Zweifel an der Richtigkeit der erfolgten Messwertbildung sowie Messwertzuordnung begründen würden. Dabei werden bei dem hier eingesetzten Messgerät etwa auch fotogrammetische Auswertungen der Messbilder durchgeführt sowie im Einzelfall eine zusätzliche näherungsweise Plausibilitätsprüfung über den sog. Smear-Effekt vorgenommen. Nachdem schon in der Gegenerklärung der Verteidigung vom 28.03.2022 darauf hingewiesen wird, dass hier der Sachverständige jedenfalls in der Lage war, aufgrund des sog. Smear-Effektes (vgl. hierzu OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29.07.2014 -1 [3] SsRs 569/11-AK 145/11 bei juris) eine Mindestgeschwindigkeit von 84 km/h zu ermitteln, ist für den Senat auch nicht nachvollziehbar, weshalb sich das Amtsgericht nicht einmal zur Feststellung einer von dem Betroffenen gefahrenen Mindestgeschwindigkeit von 84 km/h in der Lage gesehen hat, welche immer noch 24 km/h über der hier zulässigen Höchstgeschwindigkeit liegt.
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Nach alledem kann der Freispruch des Betroffenen nicht bestehen bleiben.
III.
14
Aufgrund des aufgezeigten sachlich-rechtlichen Mangels ist daher auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hin das angefochtene Urteil mit den diesem zugrunde liegenden Feststellungen und in der Kostenentscheidung aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 353 StPO).
15
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht München zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).
IV.
16
Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
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1. In der neuen Hauptverhandlung wird sich das Amtsgericht unter erneuter Hinzuziehung eines Sachverständigen sowie gegebenenfalls unter Einholung einer Stellungnahme der PTB insbesondere auch mit der von der Staatsanwaltschaft schon vor der letzten Hauptverhandlung eingeholten Stellungnahme der Herstellerfirma zur Frage einer möglichen Verfälschung von Messwerten durch Positionsveränderungen des Messgeräts auseinanderzusetzen haben. Danach soll es entscheidend darauf ankommen, ob das Messgerät während der konkreten Einzelmessung merklich verstellt worden ist, sich also während der Messung nicht in Ruhe befunden hat (worüber ein Vergleich der Messung des Betroffenen gemäß Bild Nr. 62 mit der unmittelbar vorangegangenen Messung gemäß Bild Nr. 61 Aufschluss geben könnte), oder ob Verstellungen durch das Messpersonal während der laufenden Messreihe erfolgt sind, sich das Messgerät aber während der konkreten Einzelmessung in einer gleichbleibenden Position befunden hat. In dieser Stellungnahme wird weiter darauf hingewiesen, dass eine geringfügige Winkelverstellung, wie sie sich typischerweise durch das Einfedern eines Messfahrzeugs, Windböen beim Stativbetrieb oder Vibrationen bei Messungen auf Brücken, die gerade von schweren LKW oder Straßenbahnen befahren werden, ergeben, zu den normalen Betriebsbedingungen gehören und nicht als Verstellung einzustufen sind.
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2. Bei der Problematik der erneuten Verhängung eines Fahrverbotes wird das Amtsgericht Folgendes zu bedenken haben:
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Wann bei langer Verfahrensdauer der Zeitablauf entweder allein oder zusammen mit anderen Umständen ein Absehen vom Fahrverbot rechtfertigen kann, ist eine Frage des Einzelfalls, die einen gewissen Beurteilungsspielraum für das Tatgericht eröffnet. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist die Tendenz erkennbar, den Sinn des Fahrverbots in Frage zu stellen, wenn die zu ahndende Tat mehr als zwei Jahre zurückliegt (vgl. BayObLG, Beschluss vom 06.07.2021 - 202 ObOWi 734/21 = BeckRS 2021, 46869; OLG Bamberg DAR 2008, 651; Hentschel/König/Dauer StVR 46. Aufl. § 25 StVG Rn. 23a m.w.N.), wobei grundsätzlich auf den Zeitraum zwischen Tat und letzter tatrichterlicher Entscheidung abzustellen ist (OLG Oldenburg NStZ-RR 2011, 385; OLG Bamberg, Beschluss vom 24.09.2012 - 2 Ss OWi 1086/12 [unveröffentlicht]). Allerdings kann daraus allein nicht gefolgert werden, dass bei einem mehr als zweijährigem Zeitablauf stets von der Verhängung eines Fahrverbots abzusehen wäre. Der Zeitraum von zwei Jahren führt nicht automatisch zu einem Absehen von einem Fahrverbot; er ist lediglich Anhaltspunkt dafür, dass eine tatrichterliche Prüfung, ob das Fahrverbot seinen erzieherischen Zweck im Hinblick auf den Zeitablauf noch erfüllen kann, veranlasst ist (OLG Brandenburg, Beschluss vom 26.2.2019 - [1 B] 53 Ss-OWi 608/18 [320/18] = BeckRS 2019, 2717). Diese Prüfung ist anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls vorzunehmen (vgl. OLG Bamberg DAR 2008, 651; Beschluss vom 10.03.2011 - 2 Ss OWi 1889/10; KG, Beschluss vom 21.08.2018 - 3 Ws [B] 185/18; jew. bei juris), wobei nicht nur zu berücksichtigen ist, ob die für die lange Verfahrensdauer maßgeblichen Umstände außerhalb des Einflussbereichs des Betroffenen liegen, sondern insbesondere auch, ob der Betroffene sich in der Zwischenzeit verkehrsordnungsgemäß verhalten hat (BayObLG, Beschluss vom 06.07.2021 a.a.O.).
V.
20
Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.
21
Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.