Titel:
Schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG
Normenkette:
AufenthG § 53, § 54 Abs. 2 Nr. 9, § 55 Abs. 1, Abs. 2
Leitsätze:
1. Für ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist nicht erforderlich, dass der Verstoß sowohl nicht vereinzelt als auch nicht geringfügig ist. Es genügt, wenn eine der beiden Alternativen gegeben ist. Wann ein Rechtsverstoß noch geringfügig ist, ist durch eine Gesamtbetrachtung des Einzelfalls unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit festzustellen (vgl. VGH München BeckRS 2021, 12472). (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Strafmaß von 70 bzw. 120 Tagessätzen liegt deutlich über der Grenze von 30 Tagessätzen, bei der noch Geringfügigkeit angenommen werden könnte. Schließlich stellt schon der unerlaubte Aufenthalt idR einen nicht geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften dar (vgl. VGH München BeckRS 2022, 33939 ). (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Antrag auf Aufenthaltserlaubnis, Montenegrinischer Staatsangehöriger, Straffälligkeit (unerlaubter Aufenthalt, Bedrohung), Straffälligkeit, unerlaubter Aufenthalt, Bedrohung, Geringfügigkeit, Strafmaß, Verstoß gegen Rechtsvorschriften, schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, Bleibeinteresse
Fundstelle:
BeckRS 2022, 41339
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 17. Oktober 2019, mit dem diese den Kläger ausweist (Nr. 1), ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für zwei Jahre verhängt (Nr. 2) und die Abschiebung androht (Nr. 3), sowie gegen den Bescheid der Beklagten vom 4. Dezember 2019, mit dem diese den Antrag des Klägers vom 25. April 2012 auf Aufenthaltserlaubnis ablehnt (Nr. 1) und ihn zur Ausreise auffordert (Nr. 2); insofern begehrt der Kläger die Verpflichtung zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, hilfsweise einer Duldung.
2
Der Kläger ist montenegrinischer Staatsangehöriger. Er ist am … … … in … geboren und hielt sich dann bis zum 5. März 1997 im Bundesgebiet auf. Danach verzog er nach …ehem. Jugoslawien. Am 6. April 2012 zog der Kläger erneut nach … Am 28. September 2012 zog der Kläger nach … und stellte am 2. Oktober 2012 einen Asylantrag.
3
Der Kläger ließ durch seinen damaligen Bevollmächtigten mit Schreiben vom 25. April 2012 bei der Ausländerbehörde … einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Pflege seiner Mutter stellen.
4
Im Zeitraum von 2012 bis 2015 trat der Kläger mehrfach strafrechtlich in Erscheinung, unter anderem wegen Diebstahls, Erschleichen von Leistungen und Urkundenfälschung. Dabei wurde er zu mehreren Geldstrafen verurteilt sowie zu einer 10-monatigen (Diebstahl) und einer 12-monatigen (u.a. vorsätzliches Fahren ohne Fahrerlaubnis, unerlaubtes Entfernen vom Unfallort) Freiheitsstrafe, welche zur Bewährung ausgesetzt wurden (vgl. detailliert die Auflistung Bl. 43 ff. der Gerichtsakte - GA).
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Am 22. August 2014 wurde der Kläger aufgrund eines Haftbefehls wegen schweren Raubes nach … ausgeliefert. Am 9. Dezember 2014 wurde das Asylverfahren eingestellt. Am 27. März 2015 reiste der Kläger erneut in das Bundesgebiet ein und stellte am 3. August 2015 einen Asylfolgeantrag, welcher am 20. Oktober 2015 abgelehnt wurde. Die hiergegen eingereichte Klage blieb erfolglos.
6
Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. April 2017 wurde gegen den Kläger ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von zwölf Monaten angeordnet. Da keine Nachweise über eine freiwillige Ausreise vorgelegt wurden und der Aufenthaltsort des Klägers nicht bekannt war, wurde er zur Festnahme ausgeschrieben. Allerdings war der Kläger ausweislich Passstempels ausgereist.
7
Anlassgebend für den streitgegenständlichen Ausweisungsbescheid war, dass sich der Kläger in der Zeit vom … Januar 2018 bis zum … April 2018 im Bundesgebiet aufhielt, obwohl sein visumsfreier Touristenaufenthalt (90 Tage innerhalb von 180 Tagen) bereits aufgebraucht war. Der Kläger hielt sich damit 86 Tage lang unerlaubt im Bundesgebiet auf, obwohl er vollziehbar ausreisepflichtig war. Aus diesem Grund erging am 4. Mai 2018 ein inzwischen rechtskräftiger Strafbefehl durch das Amtsgericht München wegen unerlaubten Aufenthalts mit einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen (vgl. Behördenakte - BA - Bl. 515 f.).
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Zum Zeitpunkt des Erlasses des Ausweisungsbescheids befand sich der Kläger in Haft in der JVA … Er verbüßte seit dem … April 2018 die oben genannten Freiheitsstrafen von zehn und zwölf Monaten. Die Strafvollstreckung der letzten Freiheitsstrafe war am … Oktober 2019 erledigt.
9
In seiner Anhörung zu der Ausweisung gab der Kläger gegenüber der Beklagten an, in Deutschland geboren und zur Schule gegangen zu sein. Seine Eltern lebten in Deutschland; der Vater sei deutscher Staatsangehöriger. Weiter gab der Kläger an, in seine Heimat verschleppt worden zu sein, da er der Wehrpflicht in seinem Heimatland nicht nachgekommen sei. Der Kläger erklärte weiter, Vater einer zum Zeitpunkt der Anhörung im Februar 2019 siebenjährigen, in … geborenen Tochter zu sein, die bei einer Pflegefamilie in Deutschland lebe. Zu der Tochter habe er Kontakt. Weiter gab er an, seine Mutter sei schwer krank und befinde sich in einer Intensivpflegeeinrichtung. Nachweise zu diesen Angaben legte der Kläger nicht vor.
10
Mit Bescheid vom 17. Oktober 2019 wies die Beklagte den Kläger aus (Nr. 1), verhängte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für zwei Jahre (Nr. 2) und drohte die Abschiebung an (Nr. 3). Zur Begründung führte sie im Wesentlichen an, der Kläger werde ausgewiesen, da sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährde und in einer Gesamtabwägung das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiege. Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ergebe sich aus dem unerlaubten Aufenthalt des Klägers. Es liege ein Rechtsverstoß vor und der Kläger sei strafrechtlich verurteilt worden. Bereits mit Blick auf die zahlreichen Vorverurteilungen des Klägers zeige sich, dass der Kläger auch eine strafrechtliche Verurteilung nicht zum Anlass nehme, in der Zukunft von Straftaten Abstand zu nehmen. Es bestehe die konkrete Gefahr, dass er erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich unerlaubt länger als 90 Tage dort aufhalten werde. Das Abwägungsergebnis ergebe sich mit Blick auf das in diesem Fall bestehende schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG, dem kein Bleibeinteresse im Sinne des § 55 AufenthG gegenüberstehe, sowie den sonstigen nach § 53 Abs. 2 AufenthG zu berücksichtigenden Umständen. Insbesondere bestehe ein erhebliches generalpräventives Interesse an der Ausweisung, da so andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten abgehalten werden könnten. Zudem bestünden keine sonstigen besonders schutzwürdigen persönlichen Interessen des Klägers; insbesondere sei er nicht minderjährig und bedürfe nicht der Betreuung durch seine Eltern. Die minderjährige Tochter, zu der der Kläger nach eigenen Angaben viel Kontakt hätte, wohne bei einer Pflegefamilie. Es seien jedoch ohnehin keine entsprechenden Nachweise insbesondere über den Kontakt vorgelegt worden, sodass von einer Schutzbehauptung auszugehen sei. Dem Kläger sei eine Rückkehr in sein Heimatland zuzumuten, da er sich lange Zeit dort aufgehalten habe.
11
Nach Erlass des Ausweisungsbescheids und nur wenige Monate nach seiner Entlassung aus der Strafhaft wurde der Kläger am 5. März 2020 erneut straffällig. Mit Urteil vom 9. Februar 2021 verurteilte ihn das Amtsgericht Traunstein wegen Bedrohung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen. Das Urteil ist rechtskräftig seit dem 17. Februar 2021. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Kläger der Geschädigten am ... März 2020 gegen 7:35 Uhr drohte, ihren Mann mit einem Messer schwer zu verletzen bzw. zu töten und der Geschädigten selbst das Gesicht zu zerkratzen.
12
Nach Aktenlage war der Kläger zum Zeitpunkt des Erlasses des Ausweisungsbescheids am 17. Oktober 2019 ledig und hatte keinen festen Wohnsitz im Bundesgebiet. Später - nach Haftentlassung - meldete er sich am 21. Oktober 2019 unter der Adresse … 9 in … an. Nach Auskunft der Zentralen Ausländerbehörde der Regierung von Oberbayern befindet sich der Kläger seit mindestens dem ... März 2020 (wieder) in Deutschland und ist unter der Adresse … … … Str. 10, … … erreichbar (vgl. GA Bl.39).
13
Mit Bescheid vom 4. Dezember 2019 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 25. April 2012 auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis ab (Nr. 1) und forderte ihn zur Ausreise aus dem Bundesgebiet auf (Nr. 2). Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass der Kläger mit Bescheid vom 17. Oktober 2019 ausgewiesen worden und zugleich ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen worden sei. Überdies bestehe ohnehin kein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, da wegen der strafrechtlichen Verurteilung ein Ausweisungsinteresse bestehe, dies der Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel entgegenstehe und keine Gründe für eine Abweichung vom gesetzlichen Regelfall vorgetragen oder nach Aktenlage erkennbar seien.
14
Der Kläger ließ durch seinen Bevollmächtigten mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2019, eingegangen bei Gericht am selben Tag, Klage gegen den Ausweisungsbescheid erheben, die mit Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 13. Dezember 2019, eingegangen bei Gericht am 17. Dezember 2019, auf den zwischenzeitlich erlassenen Ablehnungsbescheid erstreckt wurde. Die Anträge lauteten zuletzt:
15
1. Die Bescheide der Beklagten vom 17. Oktober 2019 und vom 4. Dezember 2019 werden aufgehoben.
16
2. Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis, hilfsweise eine Duldung, zu erteilen.
17
Zur Begründung wird ein Verstoß gegen die Rechte des Klägers aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vorgetragen.
18
Mit Schriftsatz vom 3. März 2020 beantragt die Beklagte
20
Zur Begründung nimmt sie auf die Begründung der angefochtenen Bescheide Bezug.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 14. Dezember 2022, die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
22
Über die Klage konnte trotz Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung entschieden werden, da dieser ordnungsgemäß und unter Hinweis darauf, dass auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, geladen wurde (§ 102 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO).
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Die Klage hat keinen Erfolg, da sie zwar zulässig, aber nicht begründet ist. Der Ausweisungsbescheid der Beklagten vom 17. Oktober 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Auch der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 4. Dezember 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, da er keinen Anspruch auf die begehrte Entscheidung oder auf Neubescheidung hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 bzw. Satz 2 VwGO).
24
A. Die Ausweisungsentscheidung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Ausweisungsbescheids ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), da der Aufenthalt des Klägers die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls erfolgende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG).
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I. Der weitere Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik stellt eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar, da im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass der Kläger erneut straffällig werden wird (vgl. zum Prognosemaßstab BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 - 1 C 21/00 - juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a.a.O.). Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (BVerwG, U.v. 22.02.2017 - 1 C 3.16 - juris Rn. 18; BayVGH, B.v. 18.10.2022 - 19 ZB 22.1499 - juris Rn. 19).
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Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe geht vom Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus. Sein persönliches Verhalten stellt gegenwärtig eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Der Kläger wurde wiederholt straffällig. Zum für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung hat sich die von der Behörde bereits aufgrund des Strafbefehls vom 4. Mai 2018 wegen unerlaubten Aufenthalts angenommene Wiederholungsgefahr verwirklicht. Der Kläger wurde nach Erlass des Ausweisungsbescheids und nur wenige Monate nach seiner Entlassung aus der Strafhaft erneut straffällig und deshalb mit Urteil vom 9. Februar 2021 durch das Amtsgericht Traunstein wegen Bedrohung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt. Der Kläger lässt demnach erkennen, dass ihn weder strafgerichtliche Verurteilungen bzw. ein Strafbefehl noch der tatsächliche Vollzug der Haftstrafen davon abhalten, weitere Straftaten zu begehen. Auch sind keine Gründe - wie etwa Veränderungen im sozialen Umfeld oder der konkreten Lebensumstände des Klägers - vorgetragen oder aus den Akten ersichtlich, die zu einer Verhaltensänderung des Klägers beitragen und ihn so zukünftig von der Begehung weiterer Straftaten abhalten könnten. Auf dieser Grundlage ist auch in Zukunft nicht damit zu rechnen, dass sich der Kläger rechtstreu verhalten wird.
27
Unabhängig davon gefährdet der Aufenthalt des Klägers auch im Hinblick auf generalpräventive Gründe die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Andere Ausländer sollen davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (zu generalpräventiven Gründen näher etwa VG München, B. v. 18.5.2022 - M 12 K 20.5671 - Rn. 29 m.w.N.). Insbesondere im Bereich der vom Kläger begangenen Delikte besteht ein besonderes öffentliches Interesse, andere Ausländer von der Nachahmung eines solchen Verhaltens abzuschrecken (vgl. für ausländerspezifische Delikte etwa BayVGH, B. v. 21.11.2022 - 19 ZB 22.1612 - juris Rn. 17).
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II. Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu treffende Abwägung ergibt vorliegend, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse überwiegt und die Ausweisung nicht unverhältnismäßig ist, § 53 Abs. 1 AufenthG.
29
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 - Üner, Nr. 46410/99 - juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 - Boultif, Nr. 54273/00 - InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 - 11 A 892/15 - juris Rn. 24).
30
1. Im Falle des Klägers besteht ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Hierfür ist nicht erforderlich, dass der Verstoß sowohl nicht vereinzelt als auch nicht geringfügig ist. Es genügt, wenn eine der beiden Alternativen gegeben ist (vgl. BayVGH, B.v. 29.3.2021 - 10 B 18.943 - juris Rn. 52; Katzer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, 12. Ed. 15.7.2022, § 54 AufenthG Rn. 94; noch zur Vorgängernorm § 46 Nr. 2 AuslG vgl. BVerwG, U.v. 24.9.1996 - 1 C 9.94 - juris Rn. 19). Vorliegend sind jedoch ohnehin beide Alternativen erfüllt. Es liegt schon ein nicht nur vereinzelter Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinne der Vorschrift vor, da der Kläger sowohl durch seinen unerlaubten Aufenthalt als auch durch die Bedrohung gegen Strafgesetze verstieß. Zudem sind beide Verstöße gegen Rechtsvorschriften nicht geringfügig i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Wann ein Rechtsverstoß noch geringfügig ist, ist durch eine Gesamtbetrachtung des Einzelfalls unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit festzustellen (vgl. Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, 33. Ed. 1.4.2022, § 54 AufenthG Rn. 324). Dabei ist jedenfalls eine vorsätzlich begangene Straftat grundsätzlich nicht mehr als geringfügiger Rechtsverstoß zu betrachten (vgl. Katzer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, 12. Ed. 15.7.2022, § 54 AufenthG Rn. 95 f.; noch zur Vorgängernorm § 46 Nr. 2 AuslG BVerwG, U.v. 24.9.1996 - 1 C 9.94 - juris Rn. 20). Für den Fall einer Verurteilung oder eines Strafbefehls mit einer Geldstrafe ist zudem bei einer Strafhöhe von mehr als 30 Tagessätzen nicht mehr von einer Geringfügigkeit des Verstoßes auszugehen (vgl. BayVGH, B.v. 29.3.2021 - 10 B 18.943 - juris Rn. 52). Diese Grenze geht zurück auf Nr. 55.2.2.3.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009 (GMBl S. 878) zu § 55 AufenthG a.F. und kann - im Rahmen der ohnehin nötigen wertenden und abwägenden Gesamtbeurteilung (vgl. BayVGH, B.v. 29.3.2021 - 10 B 18.943 - juris Rn. 52) - herangezogen werden (vgl. Katzer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, 12. Ed. 15.7.2022, § 54 AufenthG Rn. 97). Bei den Straftaten des Klägers handelt es sich um Vorsatztaten. Zudem liegt das Strafmaß mit 70 bzw. 120 Tagessätzen deutlich über der Grenze von 30 Tagessätzen, bei der noch Geringfügigkeit angenommen werden könnte. Schließlich stellt schon der unerlaubte Aufenthalt in der Regel einen nicht geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften dar (vgl. BayVGH, B. v. 21.11.2022 - 19 ZB 22.1612 - juris Rn. 13). Anhaltspunkte, die eine abweichende Beurteilung ermöglichen würden, sind vorliegend nicht ersichtlich. Auf dieser Grundlage kann im Falle des Klägers bei einer Gesamtbetrachtung unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht mehr von nur geringfügigen Verstößen ausgegangen werden.
31
Diesem schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht kein in § 55 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG vertyptes Bleibeinteresse gegenüber. Insbesondere ist der Kläger nach Aktenlage nicht personensorgeberechtigt für seine nach seinen Angaben bei einer Pflegefamilie lebende minderjährige Tochter.
32
2. Eine Gesamtabwägung des Ausweisungs- und des Bleibeinteresses auch unter Berücksichtigung der weiteren nach § 53 Abs. 2 AufenthG beachtlichen Umstände ergibt, dass das öffentliche Ausweisungsinteresse die persönlichen Bleibeinteressen des Klägers überwiegt.
33
Zwar ist der Kläger in … geboren und aufgewachsen und verbrachte insgesamt eine lange Zeit in der Bundesrepublik. Allerdings hielt er sich jedenfalls im Zeitraum von 1997 bis 2012 und auch danach immer wieder in seinem Heimatland auf. Nach den Angaben des Klägerbevollmächtigten gegenüber der Beklagten vom 30. Oktober 2019 (vgl. BA Bl. 41) betrieb der Kläger jedenfalls zwischenzeitlich eine Firma im Tourismusbereich in … Hieraus wie aus den angegebenen Aufenthalten in seinem Heimatland ergibt sich, dass der Kläger gute Verbindungen nach … hat und ohne weiteres dort zurechtkommt. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass der Kläger besondere Schwierigkeiten haben könnte, sich in … zurechtzufinden und zu integrieren. Auf dieser Grundlage ist ihm der Aufenthalt und das Bestreiten des Lebensunterhalts in seinem Heimatland zumutbar. Hinzu kommt, dass der Kläger keine besonderen Bindungen im Inland nachgewiesen hat. Insbesondere liegen keine Nachweise über den behaupteten (engen) Kontakt zu der bei einer Pflegefamilie lebenden Tochter vor. Jedenfalls ist der Kläger insoweit nach Aktenlage nicht personensorgeberechtigt. Einen tatsächlichen Umgang mit der Tochter hat der Kläger nicht belegt. Auch andere besonders schützenswerte Bindungen sind weder hinreichend substantiiert vorgetragen und belegt noch ersichtlich; insbesondere geht der Vortrag zu der nach Klägerangaben pflegebedürftigen Mutter des Klägers nicht über eine bloße Behauptung hinaus. Besondere Bleibeinteressen, die entsprechend zu gewichten wären, bestehen daher nicht. Vor diesem Hintergrund ergibt sich bei Vornahme einer Gesamtabwägung ein Überwiegen des schon nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG schwerwiegenden Ausweisungsinteresses. Dies folgt weiterhin aus den erheblichen Rechtsverstößen des Klägers, der oben dargestellten Wiederholungsgefahr, die sich zwischenzeitlich manifestiert hat, und den ebenfalls oben ausgeführten gewichtigen generalpräventiven Gründen.
34
B. Auch das in Nr. 2 des Bescheids vom 17. Oktober 2019 verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die dort in Nr. 3 verfügte Androhung der Abschiebung lassen keine Rechtsfehler erkennen. Die Abschiebungsandrohung stützt sich auf §§ 58, 59 AufenthG. Nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist zudem zwingend eine Wiedereinreisesperre auszusprechen. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots steht im Ermessen der Ausländerbehörde und ist gerichtlich eingeschränkt nur auf Ermessensfehler zu überprüfen (§ 114 Satz 1 VwGO). Vorliegend ist weder ein Ermessensausfall noch eine Ermessensüberschreitung erkennbar. Auch ein Ermessensfehlgebrauch im Sinne einer Fehlgewichtung liegt nicht vor. Die Beklagte hat die Frist insbesondere wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der Wiederholungsgefahr bei dem Kläger insbesondere wegen des fehlenden sozialen Umfelds unter Berücksichtigung der persönlichen Bindungen im Bundesgebiet festgesetzt. Dies ist weder nicht sachgerecht noch unverhältnismäßig. Ermessensfehler sind somit nicht erkennbar. Der Ausweisungsbescheid erweist sich daher insgesamt als rechtmäßig.
35
C. Auch der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 4. Dezember 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten; ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis besteht nicht. Dem Erfolg dieser Klage steht bereits die Sperrwirkung der verfügten Ausweisung und des hieraufhin erlassenen rechtmäßigen Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AufenthG, vgl. o.) entgegen. Einem ausgewiesenen Ausländer kann auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach dem Aufenthaltsgesetz kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Seit Inkrafttreten der Neufassung des § 11 AufenthG ist diese Sperre unmittelbare Folge des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das als eigenständiger Verwaltungsakt erlassen wird. Der Eintritt der Sperre setzt nur voraus, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbots wirksam erlassen worden ist, was vorliegend der Fall ist (vgl. etwa VG München, U.v. 15.6.2022 - M 12 K 21.6285 - juris Rn. 85). Überdies fehlt es vorliegend wegen des Bestehens eines Ausweisungsinteresses (s.o.) ohnehin an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Anhaltspunkte für eine Abweichung vom gesetzlichen Regelfall des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG sind weder vorgetragen noch erkennbar.
36
D. Hinsichtlich der hilfsweise beantragten Verpflichtung zur Erteilung einer Duldung bestehen keine Anhaltspunkte für einen entsprechenden Anspruch (vgl. §§ 60a ff. AufenthG). Gründe für eine Duldung sind weder vorgetragen noch sonstwie ersichtlich.
37
E. Der Kläger trägt als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens, § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.