Titel:
keine Präklusion wegen objektiv veränderter Sicherheits- und Verfolgungslage im Iran
Normenketten:
VwVfG § 51
AsylG § 3, § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71 Abs. 1 S. 1 Hs. 1
Leitsatz:
Angesichts einer objektiv veränderten Sicherheits- und Verfolgungslage im Iran kann dahinstehen, ob der Kläger mit seinem Vorbringen wegen Versäumung der Klagerist im Erstverfahren präkludiert ist. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Iran, zulässiger Folgeantrag, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Änderung der Sachlage geeignet, sich möglicherweise zugunsten des Klägers auszuwirken, Konversion vom Islam zum Christentum, behauptete Intensivierung der Konversion, Baptisten Gemeinde A* Hellip, fraglich, ob Hinderung des Vorbringens der Konversion im Erstverfahren aus grobem Verschulden wegen Versäumung der Klagefrist, exilpolitische Aktivitäten mit Bezug auf die aktuellen Ereignisse im Iran, Reisewarnung des Auswärtigen, Amtes, Gefahrerhöhung durch aktuelle landesweite Proteste und Repressionen im Iran, Folgeantrag, Konversion, Christ, exilpolitische Aktivitäten
Fundstelle:
BeckRS 2022, 41316
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. August 2022 wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger ist iranischer Staatsangehöriger. Ein erster Asylantrag wurde mit Urteil des VG Würzburg vom 7. Juni 2021 (W 8 K 21.30274 - juris) unanfechtbar abgelehnt. Am 16. September 2021 stellte der Kläger einen Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Folgeantrag). Zur Begründung gab er im Wesentlichen an: Die Sach- und Rechtslage habe sich aufgrund seiner Konversion zum christlichen Glauben geändert, weil durch seinen regelmäßigen Gottesdienstbesuch und die Teilnahme an sonstigen Veranstaltungen ein sogenannter Qualitätssprung bei seinem christlichen Glauben eingetreten sei.
2
Mit Bescheid vom 8. August 2022 lehnte die Beklagte den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1). Des Weiteren lehnte sie den Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 18. Januar 2021 (Az.: 7623846-439) bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes ab (Nr. 2). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Der Antrag sei unzulässig, da die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht vorlägen. Die Konversion sei bereits Teil des Vortrags im Erstverfahren gewesen. Soweit sich der Kläger auf Schriftstücke aus dem Jahr 2015 beziehe, hätte der Kläger dies auch im Erstverfahren vortragen können. Die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG sei ebenfalls nicht gegeben. Beim Kläger handele es sich um einen jungen und arbeitsfähigem Mann. Für Rückkehrer böten sich im Übrigen schon mit geringem Startkapital Möglichkeiten zur bescheidenen Existenzgründung. So bestehe die Möglichkeit, Rückkehrhilfen in Anspruch zu nehmen.
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Am 22. August 2022 ließ der Kläger Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und beantragen,
1. den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. August 2022, zugestellt am 10. August 2022 (Aktenzeichen: …), aufzuheben,
2. hilfsweise das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Hinblick auf den Iran vorliegen.
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Mit Schriftsatz vom 22. November 2022 ließ der Kläger zur Klagebegründung unter Vorlage verschiedener Unterlagen im Wesentlichen ausführen: Die Intensität des vollzogenen Glaubenswechsels des Klägers habe sich mittlerweile intensiviert. Dies zeige bereits ein Vergleich des Anhörungsprotokolls vom 1. Oktober 2018 im Rahmen des Erstverfahrens und des Protokolls der informatorischen Anhörung am 24. Mai 2022 zum gestellten Folgeantrag. So zeige sich ein religiöser Reifeprozess. Mittlerweile habe der Kläger Inhalte des Christentums näher kennengelernt und mehr gelesen. Die Glaubenstiefe und die Seriosität der Konversion könnten nicht in Zweifel gezogen werden. Die Konversion sei gerade nicht aus asyltaktischen Gründen erfolgt. Die Konversion habe bereits im Iran begonnen. Der Kläger habe im Christentum ein neues religiöses Zuhause gefunden. Er würde diesen Lebens- und Glaubensweg - im Falle einer hypothetisch gedachten Rückkehr - auch im Iran fortsetzen. Als weiterer und neuer Asylgrund sei zudem vorzutragen, dass der Kläger sich angesichts der aktuellen politischen Situation im Iran nunmehr auch politisch aktiv gegen die islamische Republik Irans betätige. Er besuche viele Demonstrationen, die sich gegen die politische Lage im Iran richteten. Die aktuellen Demonstrationen im Ausland würden genauestens vom Etelaat/iranischen Geheimdienst observiert. Exiliraner, insbesondere solche, die bereits im Iran amtsbekannt gewesen seien, würden vom iranischen Geheimdienst registriert und müssten im Falle einer Rückkehr mit einer Inhaftierung rechnen. Die Aktivitäten des Klägers beschränkten sich nicht nur auf rein passive Teilnahme an Demonstrationen, sondern er habe auch aktiv an künstlerischen Darbietungen mitgewirkt, die sich inhaltlich kritisch mit der islamischen Republik auseinandersetzten. Der vollzogene Glaubenswechsel des Klägers führe im Fall einer gedachten Rückkehr des Klägers dazu, dass er mit Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu rechnen habe. Dieser Umstand sei im angegriffenen Bescheid in keiner Weise berücksichtigt worden. Bei einer hypothetischen Rückkehr in den Iran würde der Kläger zu seinem Glauben stehen und den Glauben praktizieren. Genau dies sei im Iran jedoch untersagt und würde zur Verfolgung führen. Der Kläger sei außerdem aufgrund einer Herzverletzung operiert worden und bedürfe ständiger kardiologischer Untersuchungen. Aufgrund des chronischen Verlaufs könne damit gerechnet werden, dass ein operativer Anlass für eine erneute Fisteloperation erforderlich werde.
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Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 30. August 2022,
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Die Kammer übertrug den Rechtstreit mit Beschluss vom 23. August 2022 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
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Mit Beschluss vom 17. Oktober 2022 bewilligte das Gericht dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten, soweit sich die Klage auf die begehrte Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG bezieht und soweit dadurch keine weiteren Kosten als durch die Bevollmächtigung einer im Gerichtsbezirk ansässigen Rechtsanwältin entstehen. Im Übrigen wurde der Prozesskostenhilfeantrag abgelehnt.
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In der mündlichen Verhandlung am 19. Dezember 2022 wiederholt die Klägerbevollmächtigte den bereits schriftlich angekündigten Antrag aus dem Klageschriftsatz vom 22. August 2022. Das Gericht hörte den Kläger informatorisch an.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Behördenakten (einschließlich des Erstverfahrens) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
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Die im Hauptantrag erhobene Anfechtungsklage (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 - BVerwGE 157, 18) betreffend die Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides ist begründet. Damit ist auch die Annexentscheidung in Nr. 2 des Bescheides gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG hinfällig und aufzuheben.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. August 2022 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil die Beklagte zu Unrecht den Asylantrag des Klägers gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abgelehnt hat. Denn entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten ist ein Folgeverfahren nach § 71 AsylG durchzuführen.
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Die Voraussetzungen des § 51 VwVfG i.V.m. § 71 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz AsylG sind aufgrund der exilpolitischen Aktivitäten des Klägers und angesichts der veränderten aktuellen Lage im Iran aufgrund der landesweiten Proteste und Repressionen gegeben. Hinzu kommen die mit der Konversion des Klägers vom Islam zum Christentum verbundenen Gefahren.
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Stellt ein Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen (§ 71 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz AsylG). Nach § 71 Abs. 2 AsylG hat der Ausländer den Folgeantrag persönlich bei der Außenstelle des Bundesamts zu stellen, die der Aufnahmeeinrichtung zugeordnet ist, in der er während des früheren Asylverfahrens zu wohnen verpflichtet gewesen war. Schriftlich ist der Folgeantrag nur in den Fällen des § 71 Abs. 2 Satz 1 und 3 AsylG zu stellen. In dem Folgeantrag hat der Ausländer seine Anschrift sowie die Tatsachen und Beweismittel anzugeben, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ergibt (wobei § 51 Abs. 3 VwVfG infolge der Rechtsprechung des EuGH nicht mehr anzuwenden ist, vgl. EUGH, U.v. 9.9.2021 - C 18/20 - juris Rn. 54 ff.). Auf Verlangen hat der Ausländer diese Angaben schriftlich zu machen. Von einer Anhörung kann abgesehen werden (§ 71 Abs. 3 Satz 1 bis 3 AsylG).
15
Nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat. Ein weiteres Asylverfahren ist hiernach dann durchzuführen, wenn aufgrund der Änderung der Sach- oder Rechtslage eine andere Entscheidung möglich erscheint (VGH BW, U.v. 20.5.2008 - A 10 S 3032/07 - juris Rn. 61). Hierfür genügt bereits ein schlüssiger Sachvortrag, der freilich nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet sein darf, zur Asylberechtigung zu verhelfen; es genügt mithin schon die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe (BVerfG, B.v. 3.3.2000 - 2 BvR 39/98 - DVBl. 2000, 1048 - juris Rn. 32; B.v. 4.12.2019 - 2 BvR 1600/19 - juris Rn. 20). Gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG ist darüber hinaus ein weiteres Asylverfahren durchzuführen, wenn neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstige Entscheidung herbeigeführt haben würden.
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Bei Dauersachverhalten ist grundsätzlich die erstmalige Kenntnisnahme von den Umständen maßgeblich, wobei relevant sein kann, wenn der Dauersachverhalt später einen Qualitätsumschlag erfährt. Zu berücksichtigen sind auch Wiederaufgreifensgründe, die während des gerichtlichen Verfahrens auftreten. Unbilligkeiten aufgrund des Umstandes, dass bei sich prozesshaft entwickelnden dauerhaften Sachverhalten der Zeitpunkt, zu welchem ein Qualitätssprung stattfindet bzw. der Zeitpunkt, zu welchem der Sachverhalt Asylerheblichkeit erreicht, nur schwer feststellbar ist, lassen sich dadurch vermeiden, dass für die Gewährung subsidiären Abschiebungsschutzes ein Wiederaufgreifen bei Versäumung auch nach Ermessen möglich ist (vgl. BT-Drucks. 15/420, 109 f.; sowie VG Würzburg, U.v. 8.7.2019 - W 8 K 19.30704 - juris Rn. 22 m.w.N.).
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Des Weiteren ist der Antrag gemäß § 51 Abs. 2 VwVfG ist nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.
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§ 51 Abs. 2 VwVfG steht indes nicht entgegen. Dies gilt offenkundig für die erst im Folgeverfahren, konkret im Laufe des Klageverfahrens, erfolgten exilpolitischen Aktivitäten des Klägers und für die Änderung der Sicherheits- und Verfolgungslage im Iran aufgrund der aktuellen landesweiten Unruhen und Proteste und der repressiven Gegenmaßnahmen seitens des iranischen Staates. Das Gleiche gilt für die aktuellen Aktivitäten des Klägers infolge seiner Konversion vom Islam zum Christentum. Aber auch seine früheren Aktivitäten im Zusammenhang mit der Konversion könnten zu berücksichtigen sein. Denn auch Umstände, die schon während des Erstverfahrens vorhanden waren, können relevant sein und als neu gelten, wenn sie zum ersten Mal vorgebracht werden und wenn sie unverschuldet im früheren Verfahren nicht haben geltend gemacht werden können (vgl. EUGH, U.v. 9.9.2021 - C 18/20 - juris Rn. 33 ff.).
19
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass nach § 51 Abs. 2 VwVfG nur grobe Fahrlässigkeit den Anspruch auf ein Wiederaufgreifen ausschließt; leichte Fahrlässigkeit genügt nicht. So kann etwa ein grobes Verschulden verneint werden, wenn der Asylbewerber aufgrund einer psychischen Erkrankung oder aus anderen Gründen im Erstverfahren nicht fähig war, seine Asylgründe ausreichend darzulegen. Grobe Fahrlässigkeit ist hingegen anzunehmen, wenn sich die Umstände dem Betreffenden aufdrängen mussten und er jede zumutbare Sorgfaltspflicht missachtet, die von einem ordentlichen Verfahrensbeteiligten wahrzunehmen wäre. Insofern gilt im Rahmen des § 51 Abs. 2 VwVfG ein höherer Verschuldensmaßstab, der die Feststellung qualifizierter Umstände verlangt im Hinblick auf die Vorwerfbarkeit eines Verhaltens bzw. eines Unterlassens (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Dezember 2022, § 71 AsylG Rn. 55 ff.; Camerer in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, 13. Ed. Stand: 15.10.2022, § 71 AsylG Rn. 27 ff.; Dickten in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 35. Ed. Stand: 1.10.2022, § 71 AsylG Rn. 25 ff.; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022 § 71 AsylG Rn. 22 ff.; Marx, AsylG, 11. Aufl. 2022, § 71 Rn. 80 ff.).
20
Vorliegend konnte der Kläger im Erstverfahren seine Konversion in der Sache vor Gericht nicht vortragen, weil seine Klage wegen der Versäumung der Klagefrist als unzulässig abgewiesen wurde und Wiedereinsetzungsgründe nicht anzuerkennen waren, wobei im Rahmen der Wiedereinsetzung schon eine leichte Fahrlässigkeit diese verhindert (vgl. zum Erstverfahren des Klägers und den betreffenden Gründen für die Ablehnung der Wiedereinsetzung, VG Würzburg, U.v. 7.6.2021 - W 8 K 21.30274 - juris Rn. 22 ff.). Demnach wäre der Kläger nur dann mit seinem Vorbringen betreffend die Konversion ausgeschlossen, wenn die Versäumung der Klagefrist im Erstverfahren auf einem qualifizierten groben Verschulden beruhte, so dass er mit den Gründen, die bis zum Ablauf der Klagefrist entstanden bzw. bekanntgeworden sind, präkludiert wäre. Lag demgegenüber bei der Versäumung der Klagefrist jedoch nur ein geringerer Verschuldensgrad vor, wäre auch insoweit eine Präklusion nicht eingetreten, da es sich dann nicht um solche Umstände handelt, die mit dem Vorwurf des groben Verschuldens im Erstverfahren nicht eingebracht worden waren (vgl. Funke-Kaiser in GK-AsylG, Funke-Kaiser; Fritz; Vormeier, 135. Lfg. 25.12.2021, § 71 AsylG Rn. 289; strenger NdsOVG, B.v. 10.8.1988 - 21 OVG B 423/88 - NVwZ-RR 1989, 276, 277). Vorliegend könnte aber einiges dafür sprechen, dass der Kläger die Klagefrist im Erstverfahren aus grobem eigenen Verschulden versäumt hat, weil er zum einen durch kein ärztliches Attest nachgewiesen hat, dass er krankheitsbedingt nicht in der Lage gewesen ist, die Klagefrist einzuhalten, und er zum anderen selbst eingeräumt hat, möglicherweise vielleicht etwas „leichtsinnig“ gewesen zu sein (siehe VG Würzburg U.v. 7.6.2021 - W 8 K 21.30274 - juris Rn. 23 ff., 27 ff.). Die Frage kann aber letztlich aufgrund der objektiv veränderten Sicherheits- und Verfolgungslage dahinstehen, wonach aktuell auf jegliches regimekritisches und/oder islamkritisches Verhalten im Iran mit schweren Repressionen reagiert wird. Letztlich ist das subjektive exilpolitische Verhalten sowie auch das islamkritische Verhalten des Klägers angesichts der objektiven Sachlagenänderung im Iran in einem neuen Licht zu bewerten.
21
Nach der vorliegenden Erkenntnislage und der darauf fußenden Rechtsprechung ist beim Kläger wegen der von ihm vorgebrachten regimefeindlichen und islamkritischen Aktivitäten von einem schlüssigen Sachvortrag auszugehen, der angesichts der aktuellen Verhältnisse im Iran nicht von vorneherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet ist, zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu verhelfen, weil die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemacht Wiederaufnahmegründe besteht.
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Denn nach der Rechtsprechung ist allgemein mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn ein Kläger mit seinen oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass er zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafter Regimegegner, welcher auf die Verhältnisse im Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihm ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht (vgl. VG Würzburg, U.v. 7.11.2022 - W 8 K 22.30541 - juris Rn. 27 ff.; U.v. 7.11.2022 - W 8 K 21.30749 - juris Rn. 33 ff.; U.v. 3.6.2022 - W 8 K 22.30034 - juris Rn. 24 ff.; U.v. 31.1.2022 - W 8 K 21.31264 - juris Rn. 66 ff.; VG Würzburg, U.v. 16.10.2017 - W 8 K 17.31567 - juris Rn. 23 und 35; U.v. 15.2.2017 - W 6 K 16.32201 - juris Rn. 31 und 42; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung). Dabei ist zu bedenken, dass der iranische Staat sowohl die Überwachung möglicher Regimekritiker verstärkt als auch seine Repressionen deutlich verschärft hat und nach der aktuellen Erkenntnislage im Einzelfall auch Personen gefährdet sein können, die nicht exilpolitisch herausgehoben aktiv waren (vgl. im Einzelnen auch VG Würzburg, U.v. 7.11.2022 - W 8 K 22.30541 - juris Rn. 26 ff.; U.v. 7.11.2022 - W 8 K 21.30749 - juris Rn. 32 ff. sowie VG Aachen, U.v. 5.12.2022 - 10 K 2406/20.A - juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff., 59).
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Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30. November 2022 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022) ist ausgeführt, dass die aktuelle iranische Regierung innen-, außen- und wirtschaftspolitisch massiv unter Druck geraten ist und daher auf Systemerhalt mit allen Mitteln ausgerichtet ist. Jegliche Formen von Dissens werden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrückt. Teile der iranischen Bevölkerung sind aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, politischer, künstlerischer oder intellektueller Betätigung oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung starken Repressionen ausgesetzt. Jede Person, die öffentlich Kritik an Missständen übt oder sich für die Menschenrechte organisiert, setzt sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus (S. 4). Gegen Regimekritiker und Aktivisten wird unerbittlich vorgegangen. Es kommt regelmäßig zu „ungeklärten“ Todesfällen in Gefängnissen. Die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen steigt (S. 5). Je gefährlicher Proteste in ihrer Größe, Sichtbarkeit, Dauer oder Grad ihrer Politisierung für die Regierung werden, desto härter gehen die Sicherheitskräfte dagegen vor. Tote und verletzte Demonstrierende werden zur Abschreckung sogar gezielt verursacht, zumindest in Kauf genommen. Demonstrierende werden als von außen (neuerdings auch Deutschland) gezielt instrumentalisierte Aufrührer und bedrohliche Straftäter dargestellt, um die Gewalt zu rechtfertigen. Seit dem Tod einer 22-jährigen kurdischen Iranerin (Mahsa „Dschina“ Amini) am 16. September 2022 kommt es zu anhaltenden landesweiten Protesten. Bisher sind nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 50 Minderjährige im Zusammenhang mit den Protesten getötet worden. Personen, die in den sozialen Medien aktiv waren und über Kontakte zum Ausland verfügen, unterliegen daher vermutlich einer besonderen Gefahr der Strafverfolgung (S. 6). Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivitäten, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder islamische Grundsätze in Frage stellen. Dabei sind Gruppierungen, die die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten, besonders stark im Fokus und sind stärkerer Repression ausgesetzt. Als Rechtsgrundlage dienen weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niederschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv. Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit (psychische und physische Folter, Isolationshaft als Form der Bestrafung, Misshandlung, sexuelle Übergriffe) (S. 9 f.). Von Seiten des iranischen Regimes werden vor allem „ausländische Medien“ beschuldigt, die Proteste initiiert zu haben und zu lenken. Das Internet wird stark eingeschränkt. Darüber hinaus wird der Internetverlauf „gefiltert“ bzw. mitgelesen. Jede Person, die sich regimekritisch im Internet äußert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen „Cyber-Krieg“ gegen das Land führen zu wollen und Proteste anzustacheln (S. 11 f.). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante separatistische Gruppierungen (vor allem die kurdisch-marxistischen Komalah-Partei sowie die DPIK usw.) (S. 14). Muslimen ist es verboten zu konvertieren und auch an Gottesdiensten anderer Religionen teilzunehmen. Die Konversion sowie Missionstätigkeiten unter Muslimen wird strafrechtlich verfolgt. Muslimische Konvertiten und Mitglieder protestantischer Kirchen sind willkürlichen Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt (S. 15 f.). Fälle von Sippenhaft existieren, meist in politischen Fällen; üblicher ist jedoch, dass Familienmitglieder unter Druck gesetzt werden, um im Sinne einer Unterlassung politischer Aktivitäten auf die Angeklagten einzuwirken (S. 17). Die exilpolitische Gruppe Mujahedin-e Khalq (MEK/MKO) wird als Terrororganisation eingestuft und gilt als Staatsfeind. Mitglieder werden mit allen Mitteln bekämpft. Auch Aktivitäten kurdischer exilpolitischer Gruppen werden genau beobachtet und sanktioniert. Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußerten, sind von Repressionen bedroht, nicht nur, wenn sie in den Iran zurückkehren. Ihre im Iran lebenden Familien werden regelmäßig unter Druck gesetzt (S. 19). Auf eine Vielzahl von Verbrechen steht die Todesstrafe, wie auch die im November 2022 im Zusammenhang mit der angeblich gewaltsamen Teilnahme an Protesten verhängten Todesurteile erneut zeigen (S. 21). Hinweise auf extralegale Tötungen existieren, besonders im Rahmen von Folter in Gefängnissen. Glaubhafte Hinweise liegen vor, dass Sicherheitskräfte ab September 2022 gezielt auf Köpfe und lebenswichtigen Organe von Demonstrierenden schossen bzw. dass Personen durch sonstige rohe Gewaltanwendung bei den Protesten ums Leben kamen. Willkürliche Festnahmen, Haft und unverhältnismäßige Strafen sind in politischen Fällen üblich (S. 22). Allein der Umstand, dass eine Person in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus. Ausgenommen davon sind Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert werden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht. Die Auswirkungen der aktuellen Proteste und deren blutigen Niederschlagung auf Rückkehrende lässt sich im Augenblick nicht abschließend einschätzen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen, deren Ausgang sich der Kenntnis des Auswärtigen Amtes entzieht. Insbesondere in Fällen, in denen der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Bisher wurde kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert worden sind. Der Chef der Judikativen hat explizit Exil-Iraner und Iranerinnen ermutigt, nach Iran zurückzukehren, und ihnen eine Rückkehr ohne Inhaftierung in Aussicht gestellt, sofern dies mit der iranischen Justiz koordiniert wird (S. 25).
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Nach den Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amt für Iran, einschließlich Reisewarnung, droht selbst deutschen Staatsangehörigen bzw. Doppelstaatlern die konkrete Gefahr, willkürlich festgenommen, verhört und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. In jüngster Zeit kam es zu einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen auch ausländischer Staatsangehöriger. Seit dem 18. September 2022 kommt es nach dem Tod einer jungen Iranerin nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei in der Hauptstadt Teheran sowie in vielen weiteren Landesteilen zu Protesten und Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Polizei und Sicherheitskräfte gehen gewaltsam gegen Demonstrierende vor, es gibt Tote und Verletzte. Im räumlichen Umfeld von Demonstrationen kommt es zu willkürlichen Verhaftungen auch unbeteiligter ausländischer Staatsangehöriger. Es sind weitgehende Einschränkungen der Kommunikationsdienste zu beobachten (insbesondere mobiles Internet, Instagram, WhatsApp, VBNs) und weiter zu erwarten. Selbst Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt willkürlich aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden. Strafrechtliche Vorschriften sind häufig so vage formuliert, dass eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen erfasst werden kann, ohne dass dies dem Betroffenen vorher deutlich sein muss. Die Rechtsprechung ist mitunter eindeutig politisch motiviert. Aufgrund im Iran weit ausgelegter Begriffe, wie zum Beispiel „nationale Sicherheit“, „Spionage“, „Terrorismus“ oder so genannter „Korruption auf Erden“ können zum Beispiel bloße Äußerungen, das Teilen, Kommentieren oder Liken von Beiträgen in sozialen Medien, aber auch persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher oder Notizen für eine Strafverfolgung ausreichen. Es kommt oft ohne nachvollziehbare Gründe zu Verhören und/oder Verhaftungen. Auch Familienangehörige von Inhaftierten werden regelmäßig unter Druck gesetzt. Auch in Deutschland getätigte Meinungsäußerungen und Handlungen können im Iran als regierungskritisch wahrgenommen werden und deshalb zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. Gleiches gilt für regierungskritische Äußerungen im Internet bzw. das bloße Teilen oder Liken eines fremden Beitrags. Vor Reisen nach Iran wird gewarnt. Personen, die sich beabsichtigt oder zufällig am Umfeld von Demonstrationen aufhalten, droht die Festnahme und Verurteilung (Auswärtiges Amt, Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, Reisewarnung, Stand: 19.12.2022, unverändert gültig seit 3.11.2022).
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Medienberichten ist zu entnehmen, dass seit Beginn der landesweiten Proteste bis in den November hinein, schon allein nach offiziellen Angaben, mehr als tausend Personen angeklagt worden sind. Fast 15.000 Menschen sind festgenommen worden, denen schwere Strafen drohen, um einen abschreckenden Effekt zu erzielen. Bei den seit Mitte September anhaltenden Protesten sind mindestens 318 Menschen getötet worden, darunter 49 Minderjährige und 38 Einsatzkräfte. Mit scharfer Munition wird direkt in Menschenmengen geschossen, teilweise auch mit kleinen Metallgeschossen, die wie Schrot zersplittern. Ärzte, die Verletzte behandeln wollen, werden daran gehindert und sind selbst von Repressalien bedroht. Selbst wer nicht direkt an den Demonstrationen teilnimmt, sondern sich selbst nur solidarisch erklärt oder die Gewalt des Staates verurteilt, gerät ins Visier des Regimes. Mehr als 14.000 Personen sind festgenommen worden; nicht alle davon sind selbst auf der Straße gewesen. Verhaftete werden im Staatsfernsehen öffentlich vorgeführt und vorverurteilt. Verschiedene Vorwürfe, wie etwa Krieg gegen Gott oder Korruption auf Erden, werden erhoben, auf denen in der islamischen Republik Iran die Todesstrafe steht. Die iranische Justiz wirft den Demonstranten subversive Aktivitäten vor, wie Angriffe auf die Sicherheitskräfte oder öffentliche Gebäude (vgl. Zeit-Online, Bereits mindestens tausend iranische Demonstranten angeklagt, vom 8.11.2022; tagesschau.de., Droht Protestteilnehmern die Todesstrafe? vom 7.11.2022; NZZ, Irans Regime droht seinen Gegnern mit der Todesstrafe vom 3.11.2022; FAZ, 1.000 Demonstranten im Teheran angeklagt vom 1.11.2022).
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Mittlerweile ziehen sich Proteste durch das ganze Land und die gesamte iranische Bevölkerung. Es gab Kundgebungen in 160 Städten. Das iranische Regime machte - nicht zum ersten Mal - das Ausland verantwortlich. Die Regierung ging und geht mit großer Brutalität gegen die Muslimen vor. Es gibt viele Videos von Polizeigewalt und Repressionen. Immer wieder gehen auch Einsatzkräfte in zivil gegen Demonstrierende vor. Inzwischen soll es bis heute nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen rund 500 Tote geben, außerdem sollen mehr als 18.000 Menschen festgenommen worden sein. Auf Seiten der Einsatzkräfte des Regimes gab es demnach mehr als 60 Tote. Es gibt eine Reihe von Todesurteilen. Die ersten Verurteilten wurden hingerichtet, teilweise nach einem erzwungenen Geständnis, wobei das erpresste Geständnis seit vielen Jahren im Iran System hat. Auch auf Seiten der Demonstrierenden kommt es zu Gewalt bis hin zur Tötung von Einsatzkräften. Der Revolutionsführer Al Chamenei hat entschieden, auf nackte Gewalt zu setzen. Die Staatskräfte sind angewiesen, mit Härte vorzugehen und auch den Tod von Protestierenden in Kauf zu nehmen. Die Gewalt wird wahllos eingesetzt. Selbst zufällige Passanten, Jugendliche und Kinder bleiben nicht verschont. Inhaftierte berichten über lange Verhöre, Schläge, Schlafentzug und Drohungen, auch Familienangehörige festzunehmen. Geständnisse oder Reuebekenntnisse werden unter Folter erpresst und auf Video aufgenommen. Auch Augenzeugen und Familienangehörige werden drangsaliert (vgl. etwa zuletzt Deutschlandradio - Drei Monate Proteste im Iran vom 17.12.2022; Die Zeit, Gehängt im Namen Gottes vom 15.12.2022; FAZ, Iran warnt vor einem Bürgerkrieg vom 18.11.2022 sowie Amnesty International, Journal, „Frau, Leben, Freiheit“ vom 7.12.2022; „Mullah muss weg“ vom 5.12.2022; „Mindestens 21 Menschen von Todesstrafe bedroht“ vom 18.11.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing-Notes vom 19.12.2022, 12.12.2022, 6.12.2022, 28.11.2022, 21.11.2022, 15.11.2022, 7.11.2022 usw.).
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Nach dieser Erkenntnislage wirken die aktuellen landesweiten Unruhen und Proteste im Iran sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat bei einer Rückkehr gefahrbegründend bzw. gefahrerhöhend jedenfalls, wenn die asylsuchende Person schon zuvor wegen ihres Vorfluchtverhaltens und/oder wegen ihres Verhaltens im Ausland im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden stand und steht.
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Ausgehend von der gegebenen Bedrohungs- und Gefährdungslage muss der Kläger nach den Umständen seines Einzelfalles mit politisch motivierter Verfolgung rechnen. Jedenfalls ist sein Vortrag geeignet, möglicherweise eine günstigere Entscheidung für sein Asylbegehren herbeizuführen, weil sich die Sachlage nachträglich zu seinen Gunsten geändert und danach eine andere Entscheidung möglich erscheint.
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Denn der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung auch mit Verweis auf Fotos und Videoaufnahmen glaubhaft seine exilpolitischen Aktivitäten dargelegt. So schildert er im Einzelnen, dass er regimekritische Veranstaltungen in D.besuche, die anlässlich der aktuellen Situation im Iran jeden Mittwoch stattfänden. Er beschrieb, dass sie Kerzen anzündeten und Parolen gegen das Regime riefen. Des Weiteren schilderte der Kläger seine künstlerischen regimekritischen Darbietungen in Form von Theaterstücken, an denen er wöchentlich teilnehme. Dabei würden Situationen aus dem Iran dargestellt, so werde etwa demonstriert, wie junge Mädchen festgenommen würden. Er nehme als Schauspieler teil. Einmal habe er einen Polizisten dargestellt, einmal einen Hingerichteten. Die künstlerischen Darbietungen in D.würden vorher nicht im Einzeln geprobt, allerdings finde vor Beginn der Veranstaltung insofern eine Probe statt, als sie ausmachten, wer welche Rolle spiele. Außerdem übten sie ein- bis zweimal, bevor das Publikum komme. Beim Schauspiel selbst werde nicht gesprochen. Es sei wie eine Pantomime. Er halte auch Reden von sechs bis sieben Minuten Länge, die sich auf die aktuellen Ereignisse im Iran bezögen. Die ganze Veranstaltung werde von einer Gruppe von Iraner in D.organisiert und sei auch über Instagram bekannt. Des Weiteren habe er an der Demonstration am 22. November 2022 in Berlin teilgenommen.
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Die Klägerbevollmächtigte ergänzte, dass die Veranstaltung in D.auch Anklang in der lokalen Presse gefunden habe und auch Lokalpolitiker dort Reden gehalten haben. Die Klägerbevollmächtigte berichtete weiter aus eigener Anschauung, dass sie den Kläger schon zwei- bis dreimal bei derartigen Veranstaltungen gesehen habe, bei denen sie auch anwesend gewesen sei. Außerdem erläuterte sie, dass die künstlerische Darbietung eine Art Stillleben sei, also ein stiller Protest. Im Hintergrund höre man Parolen und Lieder gegen das Regime.
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Hinzu kommt, dass der Kläger seine christlichen Aktivitäten in Folge seiner Konversion vom Islam zum Christentum fortsetzt und er öffentlich sowohl in den Gottesdienst gehe, als auch an einem Bibelkreis teilnehme.
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Besonders gefahrerhöhend sind gerade im Hinblick auf den Kläger seine exilpolitischen Aktivitäten, die im Zusammenhang mit den aktuellen Vorkommnissen im Iran mit den dortigen Protesten und Unruhen und dem scharfen Vorgehen der Sicherheitskräfte stehen. Nicht zuletzt die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes verdeutlicht, dass nicht nur exponierte Oppositionelle bei einer Rückkehr Verfolgung droht, sondern dass gerade auch aus dem Ausland, explizit auch aus Deutschland, kommende Iraner damit rechnen müssen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein, und der Spionage bezichtigt zu werden. Dies gilt erst recht für Personen, die schon vor der Ausreise im Fokus des iranischen Staates gestanden bzw. die sich während des Auslandsaufenthaltes regimekritisch öffentlich geäußert haben. Nach den vorliegenden Erkenntnissen ist es den iranischen Behörden gelungen, die oppositionellen Gruppierungen zu unterwandern. Zudem verraten sich Exiliraner und -iranerinnen auch gegenseitig (vgl. etwa VG Würzburg, U.v. 7.11.2022 - W 8 K 22.30541 - juris Rn. 26 ff. m.w.N. und Rn. 51 ff.).
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In der vorliegenden Verfahrenskonstellation braucht nicht abschließend geprüft und geklärt zu werden, ob konkret dem Kläger in seinem Einzelfall tatsächlich eine politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. auch VG Aachen, U.v. 5.12.2022 - 10 K 2406/20.A - juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff.).
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Im Ergebnis hat der Kläger jedenfalls schlüssig sowohl seine exilpolitischen Aktivitäten als auch seine Aktivitäten im Zusammenhang mit seiner Konversion vorgetragen. Dabei genügt - wie ausgeführt - schon die Möglichkeit einer günstigen Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe. Die eigentliche Sachprüfung hat nicht auf der Zulässigkeitsstufe zu erfolgen, sondern im Folgeverfahren.
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Nach alledem konnte der streitgegenständliche Bescheid insgesamt keinen Bestand haben.
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Über den Hilfsantrag war nicht zu entscheiden.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.