Titel:
Erfolgreiche Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung für die Errichtung eines Balkons, einer Nutzungsänderung, die Errichtung von Stützmauern und eines Carports wegen Verletzung der Abstandsflächen
Normenketten:
VwGO § 101 Abs. 2, § 113 Abs. 1 S. 1
BauGB § 31 Abs. 1, Abs. 2
BauNVO § 4 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 1, S. 4, Abs. 7 Nr. 1, Nr. 3, Art. 63 Abs. 1
Leitsätze:
1. Bei der Beantwortung der Frage, ob ein Gewerbebetrieb iSv § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO "nicht störend" ist, sind alle mit der Zulassung des Betriebs nach dessen Gegenstand, Struktur und Arbeitsweise typischerweise verbundenen Auswirkungen auf die nähere Umgebung zu berücksichtigen. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Zulassung einer Abweichung von den Vorschriften des Abstandsflächenrechts kann der Nachbar nicht nur eine ausreichende Berücksichtigung seiner Interessen beanspruchen, sondern er ist auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Abweichung aus einem anderen Grunde objektiv rechtswidrig ist. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
3. Für die Zulassung einer Abweichung von den Vorschriften des Abstandsflächenrechts bedarf es einer atypischen, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfassten oder bedachten Fallgestaltung. Die Verweisung in Art. 6 Abs. 1 S. 4 BayBO auf Art. 63 BayBO, wonach Art. 63 BayBO unberührt bleibt, ändert an dem Erfordernis der Atypik nichts. (Rn. 32 und 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Abstandsfläche, Atypik, Abweichung, Baugrenzen, allgemeines Wohngebiet, gewerblich genutztes Büro, nicht störender Gewerbebetrieb, ausnahmsweise Zulässigkeit, Gebietserhaltungsanspruch, Gebietsprägungserhaltungsanspruch, Stützmauer, atypischer Sachverhalt
Fundstelle:
BeckRS 2022, 41304
Tenor
I. Der Bescheid des Beklagten vom 23. September 2021 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leisten.
Tatbestand
1
Die Kläger wenden sich mit ihrer Klage gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für das Bauvorhaben „Errichtung eines Balkons im Erdgeschoss, Nutzungsänderung von häuslichem Büro in gewerbliches Büro, Errichtung von Stützmauern und Errichtung von Carport“. Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks W. 3, … …, Fl.Nr. …. Das Grundstück der Kläger grenzt in westlicher Richtung an das Grundstück des Beigeladenen.
2
Beide Grundstücke liegen im Bereich des Bebauungsplans „I. K. …P. …“. Mit Bescheid vom 23. September 2021 erteilte das Landratsamt M. dem Beigeladenen die Baugenehmigung für die Errichtung eines Balkons im Erdgeschoss, die Nutzungsänderung vom häuslichen Büro in gewerbliches Büro, für die Errichtung von Stützmauern und die Errichtung eines Carports. Die Baugenehmigung wurde im vereinfachten Verfahren erteilt. Von den Festsetzungen des Bebauungsplans wurde wegen der Überschreitung der Baugrenze durch den Balkon und durch den Carport eine Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB erteilt. Des Weiteren wurde von den Festsetzungen des Bebauungsplans wegen Überschreitung der maximal zulässigen Höhe der Stützmauern eine Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB erteilt. Von den Vorschriften des Art. 6 BayBO über die Abstandsflächen zum Grundstück der Nachbarn mit der Fl.Nr. …125 wurde wegen der Überschreitung der mittleren Wandhöhe von max. 3 m durch die Stützmauern und den Carport eine Abweichung gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO zugelassen. Von den Vorschriften des Art. 6 BayBO über die Abstandsflächen zu den Grundstücken Fl.Nrn. …122, …124 und …125 wurde wegen Stützmauern über 2 m Höhe eine Abweichung gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO zugelassen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass es sich vorliegend um einen nicht störenden Gewerbebetrieb handele, bei dem nur in sehr geringem Umfang Kundenverkehr stattfinde. Deshalb werde gemäß § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO eine Ausnahme zugelassen. Die Befreiung für den Balkon und für den Carport außerhalb der im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenze werde erteilt, da die Grundzüge der Planung des Bebauungsplans durch die Zulassung des Balkons und des seitlich offenen Carports außerhalb der Baugrenze nicht berührt seien. Es handele sich bei dem Balkon um ein dem Wohnhaus untergeordnetes Bauteil. Der Carport sei ein offenes Nebengebäude. Die Befreiung für die Überschreitung der maximal zulässigen Höhe von Stützmauern werde erteilt, weil dies wegen der Hanglage erforderlich sei. Zudem würde talseits das Gelände zunächst durch bis zu 4-reihig zurückgesetzte Pflanzringsteine bis zu maximal ca. 1,45 m Versatz terrassiert, erst dahinter begännen die eigentlichen Mauern. Die Abweichung wegen Überschreitung der maximal zulässigen mittleren Wandhöhe von 3 m durch die Pflanzringsteine und die Stützmauer mit Absturzsicherung werde erteilt, da sich das südöstliche Nachbarwohnhaus in einem Abstand von 9 m befinde. Zudem sei die Mauer hinter drei Reihen Pflanzringsteine von der Grundstücksgrenze abgesetzt. Der Carport sei zudem offen gestaltet. Die Befreiung sei daher mit den nachbarlichen Belangen vereinbar. Die Abweichung von den Vorschriften des Art. 6 BayBO über die Abstandsflächen zu den Grundstücken Fl.Nrn. …122, …124 und …125 werde wegen Stützmauern über 2 m Höhe erteilt, weil dies wegen der Hanglage erforderlich sei.
3
Unter dem 19. Oktober 2021, beim Verwaltungsgericht Würzburg eingegangen am 20. Oktober 2021, ließen die Kläger Klage erheben und beantragten,
den Bescheid des Landratsamts M. vom 23. September 2021 aufzuheben.
4
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass ein Verstoß gegen Art. 63 BayBO vorliege, soweit der Beklagte eine Abweichung von den Vorschriften des Art. 6 BayBO wegen Stützmauern über 2 m Höhe zugelassen habe.
5
Der Beklagte beantragte,
6
Zur Begründung wurde mit Schriftsatz vom 4. Mai 2022 erklärt, dass ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften nicht gegeben sei.
7
Das Gericht hat am 10. Mai 2022 einen Augenschein durchgeführt. Auf das Protokoll wird verwiesen.
8
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
9
Die Entscheidung konnte nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung ergehen, nachdem die Beteiligten im Rahmen des Augenscheins auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben.
10
Die Klage, mit der die Kläger die Aufhebung des Genehmigungsbescheids des Landratsamts M. vom 23. September 2021 begehren, ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
11
1. Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. nur BayVGH, B.v 24.3.2019 - 14 CS 08.3017 - juris Rn. 20, m.w.N.). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht - auch nicht teilweise - dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind.
12
Weiterhin ist zu beachten, dass ein Nachbar eine Baugenehmigung zudem nur dann mit Erfolg anfechten kann, wenn die Genehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit sich aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die im Baugenehmigungsverfahren auch zu prüfen waren (BayVGH, B.v. 24.3.2009 - 14 CS 08.3017 - juris Rn. 20). Verstößt ein Vorhaben gegen eine drittschützende Vorschrift, die im Baugenehmigungsverfahren nicht zu prüfen war, trifft die Baugenehmigung insoweit keine Regelung und ist der Nachbar darauf zu verweisen, Rechtsschutz gegen das Vorhaben über einen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen die Ausführung dieses Vorhabens zu suchen (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.1997 - 4 B 244/96, NVwZ 1998, 58 - juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 14.10.2008 - 2 CS 08.2132 - juris Rn. 3; VG Würzburg, U.v. 8.11.2016 - W 4 K 16.418 - juris Rn. 17).
13
Schließlich gilt es zu berücksichtigten, dass nach ständiger Rechtsprechung bei Nachbarklagen im Baurecht maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Baugenehmigung grundsätzlich der der Genehmigungserteilung ist (vgl. hierzu etwa hierzu etwa BVerwG, B.v. 23.4.1998 - 4 B 40.98 - NVwZ 1998, 1179 = juris Rn. 3; BVerwG, U.v. 20.8.2008 - 4 C 11.07 - BVerwGE 131, 352 = juris Rn. 21; BayVGH, B.v. 6.11.2008 - 14 ZB 08.2326 - juris Rn. 4; Posser/Wolff, BeckOK VwGO, zu § 113 Rn. 22 und 22.6).
14
2. Soweit die Baugenehmigung unter Erteilung von Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans gemäß § 31 Abs. 2 BauGB ergangen ist, muss hinsichtlich des Nachbarschutzes unterschieden werden, ob die Vorschrift, von welcher befreit wird, ihrerseits unmittelbar nachbarschützend ist oder nicht. Im ersten Fall kann das Fehlen der objektiven Voraussetzungen für die Gewährung einer Befreiung zu einer Verletzung von Nachbarrechten führen. Im zweiten Fall fehlt es an einer solchen Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift aufgrund unzutreffender Annahme der Befreiungsvoraussetzungen, so dass Nachbarschutz hier nur im Rahmen des Gebots der Rücksichtnahme, wie es im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ (§ 31 Abs. 2 letzter Halbsatz BauGB) zum Ausdruck kommt, in Betracht kommt (BVerwG, U.v. 19.9.1986 - 4 C 8/84 - juris).
15
3. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben und der im Rahmen des Augenscheintermins vor Ort festgestellten örtlichen und baulichen Gegebenheiten ist die Baugenehmigung des Landratsamts M. vom 23. September 2021 rechtswidrig, da sie gegen nachbarschützende Vorschriften verstößt.
16
4. Zunächst ist allerdings festzuhalten, dass das Vorhaben des Beigeladenen weder gegen den Gebietserhaltungsanspruch, noch den Gebietsprägungserhaltungsanspruch verstößt.
17
Eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs scheidet vorliegend schon deshalb aus, weil in einem allgemeinen Wohngebiet, gemäß dem Bebauungsplan „I. K. …-P. …“ handelt es sich vorliegend um ein solches, gemäß § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO ein sonstiger nicht störender Gewerbebetrieb nach § 31 Abs. 1 BauGB vom Beklagten zugelassen wurde und diese Zulassung nicht zu beanstanden ist.
18
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Nachbar im Plangebiet sich gegen die Zulässigkeit einer gebietswidrigen Nutzung im Plangebiet wenden, auch wenn er durch sie selbst nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. Der Nachbar hat also bereits dann einen Abwehranspruch, wenn das baugebietswidrige Vorhaben im jeweiligen Einzelfall noch nicht zu einer tatsächlich spürbaren und nachweisbaren Beeinträchtigung führt. Der Abwehranspruch wird grundsätzlich bereits durch die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens ausgelöst. Begründet wird dies damit, dass im Rahmen des nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnisses jeder Planbetroffene das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets verhindern können soll (vgl. BVerwG, B.v. 2.2.2000 - 4 B 87/99 - NVwZ 2000, 679; U.v. 16.9.1993 - 4 C 28/91 - BVerwGE 94, 151).
19
Die Voraussetzungen der ausnahmsweisen Zulässigkeit des Vorhabens in einem allgemeinen Wohngebiet sind vorliegend gegeben, weil es sich bei dem streitgegenständlichen gewerblichen Büro zweifellos um einen nicht störenden Gewerbebetrieb i.S.v. § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO handelt.
20
Ein Betrieb stört und kann nicht nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO zugelassen werden, wenn er nach seiner typischen Nutzungsweise nicht gebietsverträglich ist. Für die Art der baulichen Nutzung gilt die so genannte „typisierende Betrachtungsweise“. Bei der Prüfung, ob ein Betrieb nicht zu den wesentlich störenden, wohnverträglichen Gewerbebetrieben i.S.v. § 4 Abs. 1 BauNVO zählt, ist in der Regel nicht auf die konkreten Verhältnisse des jeweiligen Vorhabens abzustellen, sondern von einer typisierenden Betrachtungsweise auszugehen (vgl. BayVGH, B.v. 13.12.2006 - 1 ZB 04.3549 - NVwZ-RR 2007, 659, m.w.N. zur Rspr.). Demnach ist für die planungsrechtliche Beurteilung der Zulässigkeit schwergewichtig auf den Betriebstyp des Vorhabens abzustellen, nicht aber auf die Einzelheiten der Betriebsgestaltung unter Berücksichtigung einzelner Lärmschutzauflagen (BayVGH, B.v. 15.6.1998 - 2 CS 96.3687 - juris). Es kommt also darauf an, ob das Vorhaben des Beigeladenen seinem Typ nach wohngebietsverträglich ist. Hierbei ist es unerheblich, ob (auch) § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO entgegensteht, ob also von dem Vorhaben Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind.
21
Bei der Beantwortung der Frage, ob ein Gewerbebetrieb in diesem Sinne nichtstörend ist, sind alle mit der Zulassung des Betriebs nach dessen Gegenstand, Struktur und Arbeitsweise typischerweise verbundenen Auswirkungen auf die nähere Umgebung zu berücksichtigen. Wie auch in den übrigen Baugebieten der BauNVO ist hinsichtlich der zulässigen Anlagen und des zulässigen Störgrads der festgesetzte Gebietstyp maßgebend (vgl. Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand 138. EL Mai 2020, § 4 BauNVO Rn. 8; Fickert/Fieseler, § 2 BauNVO Rn. 25.13).
22
Nach § 4 Abs. 1 BauNVO dienen allgemeine Wohngebiete vorwiegend dem Wohnen. Das von dem Beigeladenen geplante gewerbliche Büro ist typischerweise nicht geeignet, das Wohnen wesentlich zu stören. Substantiierte Einwendungen werden klägerseits diesbezüglich auch nicht vorgetragen. Damit stellt das streitgegenständliche Vorhaben einen in einem allgemeinen Wohngebiet ausnahmsweise zulässigen nicht störenden Gewerbebetrieb i.S.d. § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO dar, so dass die Kläger keine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs geltend machen können.
23
5. Sollten sich die Kläger auch auf den sog. Gebietsprägungserhaltungsanspruch berufen, so wäre auch dieser Einwand unbehelflich. Denn auch dieser Anspruch, sofern man diesen überhaupt für denkbar hält (vgl. hierzu etwa BayVGH, B.v. 22.6.2021 - 9 ZB 21.466 - juris Rn. 8), bezieht sich alleine auf die Art der baulichen Nutzung. Demnach müsste durch das Bauvorhaben ein „Umschlagen von Quantität in Qualität“ die Art der baulichen Nutzung derart erfassen, dass bei typisierender Betrachtungsweise im Ergebnis ein Widerspruch zur Eigenart des Baugebiets angenommen werden müsste (vgl. hierzu nur BayVGH, B.v. 22.6.2021 - 9 ZB 21.466 - juris Rn. 8). Diese Voraussetzungen liegen bei der streitgegenständlichen Genehmigung zweifelsfrei nicht vor.
24
6. Soweit der Beklagte in Ziffer I.2 des streitgegenständlichen Bescheids von den Festsetzungen des Bebauungsplans wegen der Überschreitung der Baugrenze durch den Balkon und durch den Carport eine Befreiung erteilt hat, ist eine Rechtsverletzung der Kläger ebenso nicht gegeben, da der Festsetzung der Baugrenze im Bebauungsplan kein nachbarschützender Charakter zukommt.
25
Eine unmittelbar nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen eines Bebauungsplans ist im Regelfall nur dann anzunehmen, wenn diese die Art der baulichen Nutzung betreffen (BVerwG, B.v. 27.8.2013 - 4 B 39.13 - BauR 2013, 2011). Andere Festsetzungen, insbesondere solche zum Maß der baulichen Nutzung und der Bauweise, haben dagegen grundsätzlich keine nachbarschützende Funktion (BayVGH, B.v. 1.12.2016 - 1 ZB 15.1841 - juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 8.11.2016 - 1 CS 16.1864 - juris Rn. 4; aus der Literatur vgl. nur Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: Februar 2019, § 31 Rn. 68 f.), sondern können Nachbarschutz nur dann vermitteln, wenn ihnen nach dem Planungswillen der Gemeinde diese Funktion ausnahmsweise zukommen soll. Der planenden Gemeinde steht es dabei frei, eine Festsetzung ausschließlich aus städtebaulichen Gründen, etwa aus Gründen der Gestaltung des Ortsbildes, oder auch zum Schutze eines bestimmbaren und von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreises zu erlassen (BVerwG, B.v. 19.10.1995 - 4 B 215/95 - NVwZ 1996, 888). Nachbarschutz besteht somit hinsichtlich solcher Festsetzungen nur dann, wenn die Gemeinde einer entsprechenden Festsetzung im Bebauungsplan gezielt eine solche Schutzfunktion zukommen lassen will. Ob dies der Fall ist und wie weit eine eventuell drittschützende Wirkung einer Festsetzung reicht, muss sich jedoch mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Inhalt der erlassenen Vorschrift oder aus den übrigen, objektiv erkennbaren Umständen, also aus dem Bebauungsplan selbst, seiner Begründung oder aus sonstigen, die Planung betreffenden Unterlagen der Gemeinde ergeben (BayVGH, B.v. 23.11.2015 - 1 CS 15.2207 - juris Rn. 8). Lässt sich daraus eine solche Zweckbestimmung nicht hinreichend erkennen, ist eine nachbarschützende Wirkung abzulehnen.
26
Vorliegend bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die planende Gemeinde der von ihr getroffenen Festsetzungen im einschlägigen Bebauungsplans betreffend die Baugrenze über ihre städtebauliche Funktion hinaus auch eine Schutzfunktion zu Gunsten benachbarter Grundstückseigentümer im Plangebiet beimessen wollte. Allein der Umstand, dass alle Baugrundstücke im betroffenen Baugebiet denselben Festsetzungen unterworfen sind, genügt nicht, um eine nachbarschützende Funktion annehmen zu können, sondern ist schlicht Folge des Geltungsbereichs des Bebauungsplans. Für die Annahme einer nachbarschützenden Funktion der hier streitigen Festsetzung wären daher weitergehende Anhaltspunkte erforderlich, die vorliegend jedoch nicht erkennbar sind und von den Klägern auch nicht vorgetragen wurden.
27
7. Auch die in Ziffer I.3. des streitgegenständlichen Bescheids zugelassene Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans wegen Überschreitung der maximal zulässigen Höhe der Stützmauer gemäß § 31 Abs. 2 BauGB führt nicht zu einer Rechtsverletzung der Kläger. Gemäß Ziffer 6. des Bebauungsplans „I. K. …-P. …“ sind Einfriedungen an der Straße maximal 1 m und erforderlich werdende Stützmauern höchstens 1,30 m hoch auszuführen. Nachdem diesbezüglich weitere Ausführungen im Bebauungsplan fehlen, liegt eine ausdrückliche Regelung, dass der getroffenen Festsetzung zur Höhe der Einfriedungen eine nachbarschützende Bedeutung zukommen soll, textlich jedenfalls nicht vor. Auch die zeichnerischen Festsetzungen des Bebauungsplans ergeben kein anderes Bild. Schließlich lässt sich eine nachbarschützende Funktion der streitgegenständlichen Festsetzung auch nicht aus der Bewertung des Zusammenhangs, in dem diese Festsetzung steht, ableiten. Es gibt jedenfalls im Bebauungsplan keine hinreichenden Anhaltspunkte für ein wechselseitiges Austauschverhältnis i.S. einer „Schicksalsgemeinschaft“ dahingehend, dass die Festsetzungen zu den Einfriedungen und den Stützmauern eine allen Grundstücken zu Gute kommende, nachbarschützende Funktion innehaben.
28
8. Die Klage hat allerdings Erfolg, da die streitgegenständliche Baugenehmigung gegen drittschützendes Abstandsflächenrecht verstößt.
29
Vorliegend hat der Beklagte von den Vorschriften des Art. 6 BayBO über die Abstandsflächen wegen der Überschreitung der mittleren Wandhöhe von maximal 3 m durch die Stützmauern und den Carport eine Abweichung zugelassen, ebenso zum Grundstück der Kläger hin wegen Stützmauern über 2 m Höhe (I.4. und I.5. des streitgegenständlichen Bescheids v. 23.9.2021).
30
Der Beklagte ging demnach offenbar davon aus, klar lässt sich das weder dem streitgegenständlichen Bescheid noch den sonstigen Ausführungen des Beklagten entnehmen, dass das streitgegenständliche Bauvorhaben die in Art. 6 Abs. 7 Nrn. 1 und 3 BayBO geregelten Abweichungen von den Geboten des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO nicht einhält. Dies ist seitens der Kammer zunächst nicht zu beanstanden. Nach Art. 6 Abs. 7 Nr.1 BayBO sind Garagen und damit auch Carports ohne eigene Abstandsflächen nur mit einer mittleren Wandhöhe bis zu 3 m zulässig, was vorliegend eindeutig nicht der Fall ist, da das Carport auf einer Stützmauer aufsetzt, die nicht das natürliche, sondern ein aufgeschüttetes Gelände sichert (vgl. OVG Münster, B.v. 16.6.2004 - 3 UE 2041/01, BauR 05, 1310 = BRS 67, 598). Art. 6 Abs. 7 Nr. 3 BayBO normiert, dass Stützmauern ohne eigene Abstandsflächen nicht höher als 2 m sein dürfen, was vorliegend, wie auch der Augenschein ergeben hat, zum Grundstück der Kläger hin eindeutig überschritten ist.
31
Zu Recht ging der Beklagte deshalb davon aus, dass gemäß § 63 Abs. 1 BayBO eine Abweichung von den Vorschriften des Abstandsflächenrechts erforderlich ist. Bei der Zulassung einer solchen Abweichung von einer dem Nachbarschutz dienenden Vorschrift des Bauordnungsrechts kann der Nachbar jedoch nicht nur eine ausreichende Berücksichtigung seiner Interessen beanspruchen, sondern er ist auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Abweichung aus einem anderen Grunde objektiv rechtswidrig ist (vgl. BayVGH, B.v. 17.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris Rn. 17). Die Vorschriften des Abstandsflächenrechts dienen in ihrer Gesamtheit dem Schutz der Nachbarn (vgl. BayVGH v. 14.10.1985 - 14 B 85 A.1224 - BayVBl 1986, 143, 145 - juris LS 3).
32
Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von bauaufsichtlichen Anforderungen zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Während bei bautechnischen Anforderungen der Zweck der Vorschriften vielfach auch durch eine andere als die gesetzlich vorgesehene Bauausführung gewahrt werden kann (die dann im Wege der Abweichung zuzulassen ist), wird der Zweck des Abstandsflächenrechts, der vor allem darin besteht, eine ausreichende Belichtung und Lüftung der Gebäude zu gewährleisten und die für Nebenanlagen erforderlichen Freiflächen zu sichern, regelmäßig nur dann erreicht, wenn die Abstandsflächen in dem gesetzlich festgelegten Umfang eingehalten werden. Da somit jede Abweichung von den Anforderungen des Art. 6 BayBO zur Folge hat, dass die Ziele des Abstandsflächenrechts nur unvollkommen verwirklicht werden, setzt die Zulassung einer Abweichung Gründe von ausreichendem Gewicht voraus, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die die Einbuße an Belichtung und Lüftung (sowie eine Verringerung der freien Flächen des Baugrundstücks) im konkreten Fall als vertretbar erscheinen lassen. Es muss sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln (BayVGH, B. v. 13.2.2002 - 2 CS 01.1506 - juris Rn. 16; B. v. 23.5.2005 - 25 ZB 03.881 - juris Rn. 8; B. v. 15.11.2005 - 2 CS 05.2817 - juris Rn. 2; B. v. 29.11.2006 - 1 CS 06.2717 - juris Rn. 24; B. v. 11.1.2007 - 14 B 03.572 - juris Rn. 22; B. v. 17.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris Rn. 16; B. v. 4.8.2011 - 2 CS 11.997 - juris Rn. 23; B. v. 5.12.2011 - 2 CS 11.1902 - juris Rn. 3; U. v. 22.12.2011 - 2 B 11.2231, BayVBl. 2012, 535 - juris Rn. 16). Diese kann sich etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern, ergeben. In solchen Lagen kann auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren, eine Verkürzung der Abstandsflächen durch Zulassung einer Abweichung rechtfertigen. Weitere Voraussetzung ist die Vereinbarkeit der Abweichung mit den öffentlichen Belangen unter Würdigung nachbarlicher Interessen. Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz - wie bei dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme - eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn (BayVGH, B. v. 17.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris Rn. 17). Ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, beurteilt sich dabei nicht allein danach, wie stark die Interessen des betroffenen Nachbarn beeinträchtigt werden. Es ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung der nachbarlichen Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (BayVGH, B. v. 17.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris Rn. 20).
33
Von Bedeutung ist bei der Beurteilung des Vorliegens der erforderlichen Atypik insbesondere, ob eine sinnvolle Ausnutzung des Baugrundstücks unter Beachtung der Anforderungen des Art. 6 Abs. 5 BayBO unmöglich oder unzumutbar ist (BayVGH, B. v. 30.8.2011 - 15 CS 11.1640 - juris Rn. 16). Demgegenüber ist in dicht bebauten innerstädtischen Bereichen eine atypische Situation dann anzunehmen, wenn jedwede bauliche Veränderung der historischen Bausubstanz geeignet ist, eine Abstandsflächenüberschreitung auszulösen (vgl. BayVGH, B. v. 4.8.2011 - 2 CS 11.997 - juris Rn. 23). Zu berücksichtigen ist schließlich, dass tatsächlich vorhandene abstandsflächenwidrige Bebauungsverhältnisse nach Möglichkeit bereinigt und nicht verewigt werden sollen (vgl. BayVGH, U. v. 22.11.2006 - 25 B 05.1714 - BayVBl. 2007, 276 - juris Rn. 20), weshalb eine Abstandsflächenüberschreitung durch einen Altbestand als solche und für sich allein nicht geeignet ist, die erforderliche Atypik zu begründen.
34
Die Verweisung in Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO auf Art. 63 BayBO, wonach Art. 63 BayBO unberührt bleibt, ändert an dem Erfordernis der Atypik nichts. Die Begründung des Gesetzgebers (LT-Drs. 17-21574, S. 13), die Atypik solle hierdurch entfallen, verkennt, dass dem Schutzzweck der Abstandsflächenvorschriften regelmäßig gerade nicht auf andere Weise entsprochen werden kann und die Atypik insoweit notwendiges Rechtfertigungselement für die Erteilung einer Abweichung ist (vgl. BayVGH, B.v. 9.2.2015 - 15 ZB 12.1152 - BeckRS 2015, 42448; ebenso Laser in Schwarzer/König, BayBO, Kommentar 5. Aufl. 2022, Art. 63 Rn. 11).
35
Unter Beachtung dieser allgemeinen Ausführungen ist vorliegend eine derartige Sondersituation nicht gegeben. Insbesondere besteht aufgrund der topographischen Verhältnisse und der Lage des Grundstücks des Beigeladenen im Raum keine atypische Grundstückssituation, wie insbesondere auch der Augenscheinstermin ergeben hat. Es ist demnach kein Grund ersichtlich, ein solcher wurde im Übrigen auch von der Beklagtenseite weder im streitgegenständlichen Bescheid noch in weiteren Schreiben vorgetragen, warum sich das vorliegende Verfahren vom Regelfall unterscheidet, so dass die Einbuße an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar wäre. Der Beklagte trägt im streitgegenständlichen Bescheid lediglich vor, dass die Abweichung von den Vorschriften des Art. 6 BayBO über die Abstandsflächen zu dem Grundstück der Kläger hin wegen Stützmauern über 2 m Höhe erteilt werde, weil dies wegen der hängigen Lage (natürliche Gegebenheit) erforderlich sei. Das Grundstück der Kläger sei zudem durch einen Zaun zusätzlich abgeschirmt.
36
Damit verkennt der Beklagte allerdings das Wesen der Atypik, denn im Rahmen der Frage, ob eine Sondersituation vorliegt, spielt es keine Rolle, ob das Nachbargrundstück bebaut ist, in welchem Abstand die benachbarte Wohnbebauung liegt oder ob das Grundstück durch einen Zaun abgeschirmt ist. Entscheidend ist vielmehr, wie dargestellt, ob es Gründe gibt, die es rechtfertigen, dass die Anforderung zwar berücksichtigt, ihrem Zweck in dem konkreten Einzelfall aber nur unvollkommen entsprochen wird (vgl. Laser, a.a.O., Art. 63 Rn. 10).
37
Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des OVG Nordrhein-Westfalen vom 29. Oktober 2012 (OVG NRW, U.v. 29.10.2012 - 2 A 723/11 - BeckRS 2012, 60651). Das OVG hat in dem genannten Urteil entschieden, dass grundsätzlich eine starke Hanglage es rechtfertigt, von den Vorgaben des Abstandsflächenrechts abzuweichen. Der vom OVG NRW entschiedene Fall ist mit dem vorliegenden jedoch schon deshalb nicht vergleichbar, da dort die Atypik damit begründet wurde, dass sonst kein Zugang zu dem Grundstück gewährleistet sei und auf dem Grundstück selbst auch keine Fläche zur Verfügung stehe, um einen Stellplatz anzulegen. Wie der Augenschein vorliegend allerdings gezeigt hat, ist das Grundstück des Beigeladenen von der W. … unproblematisch erschlossen. Auch gibt es von dort genügend Platz für Stellplätze. Dem Beigeladenen ging es vorliegend, wie er auch im Rahmen des Augenscheins ausgeführt hat, darum, sein Grundstück besser zu nutzen und insbesondere auch seine Terrasse zu vergrößern. Diese Gründe rechtfertigen allerdings kein Abweichen von der Regel.
38
Mangels atypischer Fallgestaltung sind somit die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO nicht gegeben. Der Bescheid des Beklagten verstößt demnach gegen die bauordnungsrechtlichen Vorschriften des Abstandsflächenrechts und insbesondere gegen Art. 6 Abs. 7 Nrn. 3 BayBO.
39
9. Da nach alldem die bereits fehlende Atypik zur Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheids vom 23. September 2021 führt, bedurfte es keiner Ausführungen mehr, ob vorliegend das Gebot der Rücksichtnahme verletzt ist.
40
10. Die Klage war demgemäß mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO abzuweisen. Da der Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich damit auch nicht dem Kostenrisiko ausgesetzt hat, waren seine außergerichtlichen Kosten nicht für erstattungsfähig zu erklären.
41
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.