Titel:
Rücknahme von Verspätungszuschlägen
Normenketten:
UStG § 2, § 13b, § 18 Abs. 2 S. 3
AO § 149, § 152 Abs. 2,§ 168 S. 2
FGO § 90, § 101, § 115 Abs. 2 Nr. 2, § 136 Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
Die Unanfechtbarkeit des Steuerverwaltungsaktes steht einer Korrektur nicht entgegen (vgl. BFH-Urteil vom 14. Juni 2000 X R 56/98, BeckRS 2000, 24000376, BStBl II 2001, 60). (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Verspätungszuschlag
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstellen:
EFG 2023, 456
DStRE 2023, 671
LSK 2022, 40894
BeckRS 2022, 40894
Tenor
1. Der Bescheid vom 17. Mai 2019 und die Einspruchsentscheidung vom 17. Februar 2020 werden aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten jeweils zur Hälfte.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
Entscheidungsgründe
1
Streitig ist, ob der Beklagte (das Finanzamt - FA) einen Antrag der Klägerin auf Rücknahme bestandskräftig festgesetzter Verspätungszuschläge zu Recht abgelehnt hat.
2
Die Klägerin ist eine mit Vertrag vom (…) gegründete Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH). Seit Januar 2010 ist wesentlicher Gegenstand ihres Unternehmens die Durchführung von Bauvorhaben im eigenen Namen und für eigene Rechnung sowie die Baubetreuung im fremden Namen für fremde Rechnung sowie der Vertrieb und die Vermittlung, der Kauf und der Verkauf von Immobilien. Die Umsätze der Klägerin waren in den Streitjahren überwiegend steuerfrei. Bei einem steuerpflichtigen Verkauf berechnete sie die Vorsteuer anteilig aus den Gesamtkosten. Im Jahr 2011 wendete sie die Regelung in § 13b des Umsatzsteuergesetzes in der für die Streitjahre geltenden Fassung (UStG) - aus Unkenntnis - nicht an. Auch in der am 11. April 2012 beim FA eingegangenen Umsatzsteuer-Voranmeldung für das erste Kalendervierteljahr 2012 waren nur Umsätze zum allgemeinen Steuersatz in Höhe von (…) € und Vorsteuerbeträge von (…) € angemeldet. Die Klägerin errechnete daraus eine Vorauszahlung von (…) €.
3
Mit Schreiben des FA vom 5. Juni 2012 wurde dem damaligen Bevollmächtigten der Klägerin mitgeteilt, dass der für die Klägerin geltende Voranmeldungszeitraum das Kalendervierteljahr sei und die Umsatzsteuer-Voranmeldung binnen zehn Tagen nach Ablauf des Voranmeldungszeitraums abgegeben werden müsse.
4
Am 1. August 2012 wurde die Klägerin nochmals an die Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldung für das zweite Kalendervierteljahr 2012 erinnert. Die Steueranmeldung ging am 13. August 2012 beim FA ein. Darin waren erstmals und ausschließlich Umsätze nach § 13b Abs. 2 Nr. 4 UStG (im Folgenden: „§ 13b -Umsätze“) in Höhe von (…) € angegeben. Die Klägerin errechnete daraus eine Vorauszahlung von (…) €.
5
Mit Bescheid vom 30. August 2012 setzte das FA einen Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer-Vorauszahlung für das zweite Kalendervierteljahr 2012 in Höhe von (…) € fest. Auf Antrag der Klägerin vom 2. November 2012 wurde der Betrag auf (…) € herabgesetzt (Bescheid vom 27. November 2012).
6
Am 12. Oktober 2012 ging die Umsatzsteuer-Voranmeldung für das dritte Kalendervierteljahr 2012 beim FA ein. Darin waren (ausschließlich) § 13b-Umsätze in Höhe von (…) € angemeldet und eine Vorauszahlung von (…) € errechnet.
7
Mit Bescheid vom 30. Oktober 2012 setzte das FA einen Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer-Vorauszahlung für das dritte Kalendervierteljahr 2012 in Höhe von (…) € fest. Auf Antrag der Klägerin vom 2. November 2012 wurde der Betrag auf (…) € herabgesetzt (Bescheid vom 27. November 2012).
8
Am 9. Januar 2013 ging eine berichtigte Anmeldung für das dritte Kalendervierteljahr 2012 beim FA ein. Darin meldete die Klägerin (ausschließlich) „§ 13b-Umsätze“ von (…) € an und errechnete eine Umsatzsteuer-Vorauszahlung von (…) €. Der Verspätungszuschlag blieb mit (…) € unverändert bestehen.
9
Ab Oktober 2012 verlängerte das FA der Klägerin die Frist für die Abgabe der Voranmeldungen und für die Entrichtung der Vorauszahlungen um einen Monat. Mit Schreiben vom 1. Februar 2013 wies es die Klägerin darauf hin, dass sie ihre Umsatzsteuer-Voranmeldungen ab April 2013 monatlich abzugeben habe und dass die gewährte Dauerfristverlängerung weiterhin gelte. Sie sei jedoch verpflichtet, die Sondervorauszahlung bis zum 10. Mai 2013 anzumelden und zu entrichten.
10
Am 29. Mai 2013 ging die Anmeldung der Umsatzsteuer-Vorauszahlung für das erste Kalendervierteljahr 2013 beim FA ein. Darin meldete die Klägerin Leistungen eines im Ausland ansässigen Unternehmers in Höhe von (…) € und „13b-Umsätze“ in Höhe von (…) € an. Ausgehend von diesen Beträgen errechnete sie eine Vorauszahlung von (…) €.
11
Weil die Klägerin die Sondervorauszahlung für 2013 nicht beim FA angemeldet hatte, setzte das FA die Umsatzsteuer-Sondervorauszahlung für das Kalenderjahr 2013 mit (…) € und einen Verspätungszuschlag dazu von (…) € fest (Bescheid vom 12. Juni 2013).
12
Mit Bescheid vom 19. Juni 2013 setzte das FA außerdem einen Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer-Vorauszahlung für das erste Kalendervierteljahr 2013 in Höhe von (…) € fest. Der Betrag wurde mit Bescheid vom 11. Juli 2013 auf (…) € herabgesetzt.
13
Am 12. Juni 2013 ging die Umsatzsteuer-Voranmeldung für April 2013 beim FA ein. Die Klägerin meldete ausschließlich „13b-Umsätze“ in Höhe von (…) € an und errechnete eine Vorauszahlung von (…) €. Mit Bescheid vom 4. Juli 2013 setze das FA dazu einen Verspätungszuschlag von (…) € fest.
14
Die Umsatzsteuer-Voranmeldung für September 2013 ging am 12. November 2013 beim FA ein. Darin waren ausschließlich „13b-Umsätze“ von (…) € angemeldet. Die Klägerin errechnete daraus eine Vorauszahlung von (…) €. Mit Bescheid vom 10. Dezember 2013 setzte das FA einen Verspätungszuschlag dazu in Höhe von (…) € fest.
15
Nachdem das FA die Klägerin am 2. Januar 2014 erfolglos an die Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldung für Oktober 2013 erinnert hatte, schätzte es mit Bescheiden vom 11. Februar 2014 die Besteuerungsgrundlagen und setzte die Umsatzsteuer-Vorauszahlung für Oktober und November 2013 jeweils ausgehend von „13b-Umsätzen“ in Höhe von (…) € mit (…) € fest. In diesen Bescheiden wurden außerdem ein Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer-Vorauszahlung für Oktober 2013 von (…) € und ein Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer-Vorauszahlung für November 2013 von (…) € festgesetzt.
16
In der am 25. Februar 2014 beim FA eingegangenen Umsatzsteuer-Jahreserklärung für 2012 sind Umsätze zum allgemeinen Steuersatz von (…) € und abziehbare Vorsteuerbeträge von (…) € erklärt. Außerdem gab die Klägerin Leistungen eines im Ausland ansässigen Unternehmers von (…) € und „§ 13b-Umsätze“ in Höhe von (…) € an. Sie errechnete eine Umsatzsteuer von (…) €. Ein Steuerbescheid wurde nicht erteilt. Mit Bescheid vom 15. Mai 2015 wurde der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben.
17
Nach Eingang der Umsatzsteuer-Voranmeldungen für Oktober und November 2013 am 13. März 2014 änderte das FA die Festsetzungen jeweils mit Bescheid vom 9. April 2014 auf (…) € (Oktober 2013) und (…) € (November 2013). Die Verspätungszuschläge blieben jeweils unverändert bestehen.
18
Mit Bescheid vom 11. März 2014 wurde die der Klägerin gewährte Dauerfristverlängerung mit Wirkung ab April 2014 widerrufen.
19
Am 4. Juni 2014 gingen die Umsatzsteuer-Voranmeldungen für die Monate Januar bis März 2014 beim FA ein, denen das FA folgte.
20
Mit Bescheid vom 23. Juni 2014 setzte das FA einen Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer-Vorauszahlung für den Monat März 2014 in Höhe von (…) € fest.
21
Die streitgegenständlichen Verspätungszuschläge setzen sich damit wie folgt zusammen:
Verspätungszuschlag für
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Betrag in €
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2. Quartal 2012
|
…
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3. Quartal 2012
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…
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Sondervorauszahlung 2013
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…
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1. Quartal 2013
|
…
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April 2013
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…
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September 2013
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…
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Oktober 2013
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…
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November 2013
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…
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März 2014
|
…
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Gesamt
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…
|
22
In der am 25. März 2015 beim FA eingegangenen Umsatzsteuer-Jahreserklärung für 2013 errechnete die Klägerin eine Umsatzsteuer von (…) €. Abzüglich der angemeldeten Vorauszahlungen von (…) € ergab sich ein Erstattungsanspruch in entsprechender Höhe. Die nach § 168 Satz 2 der Abgabenordnung (AO) erforderliche Zustimmung wurde zunächst nicht erteilt.
23
Unter Berufung auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22. August 2013 V R 37/10 beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 24. März 2015 (eingegangen beim FA am 2. April 2015) u.a. die Erstattung der nach § 13b UStG entrichteten Umsatzsteuerbeträge und der festgesetzten Verspätungszuschläge von insgesamt (…) €.
24
Die Entscheidung im Revisionsverfahren V R 37/10 war am 14. Februar 2014 im Bundessteuerblatt (BStBl) Teil II (Seite 128) veröffentlicht worden. Das BMF hatte bereits mit Schreiben vom 5. Februar 2014 (BStBl I 2014, 233) angeordnet, dass das BFH-Urteil vom 22. August 2013 (V R 37/10) in allen noch offenen Fällen anzuwenden ist. Solange sich der Leistungsempfänger allerdings nicht auf das BFH-Urteil berufe, werde es nicht beanstandet, wenn die bisherige Handhabung fortgesetzt werde.
25
Die Umsatzsteuer-Jahreserklärung für 2014 ging am 16. Dezember 2015 beim FA ein. Darin errechnete die Klägerin eine Umsatzsteuer von (…) €. Abzüglich der angemeldeten Vorauszahlungen ergab sich eine Überzahlung von (…) €. Die Zustimmung wurde zunächst nicht erteilt.
26
In der Folge wurden die Umsatzsteuer-Jahresbescheide für 2012 bis 2014 mehrfach geändert. Zuletzt wurden die Umsatzsteuern mit Bescheiden vom 17. April 2019 wie folgt festgesetzt:
Jahr
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Festgesetzte Umsatzsteuer
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Restguthaben
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2012
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- … €
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… €
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2013
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…€
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… €
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2014
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… €
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… €
|
27
Die für 2013 zuletzt festgesetzte (positive) Steuer beruht auf Leistungen eines im Ausland ansässigen Unternehmers, die die Klägerin im ersten Kalendervierteljahr 2013 in Höhe von (…) €, im Juni 2013 in Höhe von (…) € und im Dezember 2013 in Höhe von (…) € (insgesamt also … €) vorangemeldet hatte.
28
Den Antrag auf Erstattung der festgesetzten Verspätungszuschläge lehnte das FA mit Schreiben vom 17. Mai 2019 ab. Der hiergegen am 3. Juni 2019 eingelegte Einspruch, mit dem die Klägerin zugleich den Erlass der Verspätungszuschläge wegen Unbilligkeit beantragte, blieb erfolglos. Auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung vom 17. Februar 2020 wird verwiesen.
29
Ihre am 16. März 2020 beim Finanzgericht eingegangene Klage begründet die Klägerin im Wesentlichen damit, dass sie ausschließlich aufgrund der mit dem geltenden Umsatzsteuerrecht nicht übereinstimmenden Verwaltungsauffassung, wonach Bauträger als Bauleistende Umsatzsteuer nach § 13b UStG anzumelden und an das Finanzamt abzuführen hätten, zur Abgabe von Umsatzsteuer-Voranmeldungen aufgefordert worden sei. Das Voranmeldungs- und das Jahressteuerfestsetzungsverfahren seien zwar grundsätzlich selbständige Verfahren, so dass in beiden Verfahren ein Verspätungszuschlag festgesetzt werden könne. Ergäbe aber die Jahresfestsetzung, dass erheblich zu hohe Umsätze vorangemeldet worden seien, könne der Verspätungszuschlag gemäß § 130 Abs. 1 AO aufgehoben oder geändert werden. Der festgesetzte Verspätungszuschlag dürfe zehn Prozent der festgesetzten Steuer nicht überschreiten. Wären zum Zeitpunkt der Änderung der Steuerfestsetzungen noch keine Bescheide zu den Umsatzsteuer-Jahreserklärungen ergangen gewesen, hätten die jeweiligen Vorauszahlungsbescheide geändert werden müssen. Die dann festzusetzenden Steuerbeträge hätten jeweils 0 € betragen müssen. Folglich hätte das FA auch keine Verspätungszuschläge festsetzen dürfen. Beim FA sei auch ein Erlass der Verspätungszuschläge aus Billigkeitsgründen gestellt. Es habe die Ablehnung dieses Antrags nicht begründet.
30
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
- den Bescheid vom 17. Mai 2019 über die Ablehnung des Antrags auf Erstattung festgesetzten Verspätungszuschläge und die Einspruchsentscheidung vom 17. Februar 2020 aufzuheben und
- das Finanzamt zu verpflichten, die festgesetzten Verspätungszuschläge zu den Umsatzsteuer-Vorauszahlungen für das 2. und das 3. Quartal 2012, zur Umsatzsteuer-Sondervorauszahlung für 2013 und zu den Umsatzsteuer-Vorauszahlungen für das 1. Quartal 2013, für April 2013, für September 2013, für Oktober 2013, für November 2013 und für März 2014 zurückzunehmen.
31
Das FA beantragt unter Verweis auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung vom 17. Februar 2020,
die Klage abzuweisen und hilfsweise die Zulassung der Revision.
32
Es weist ergänzend darauf hin, dass über den Antrag der Klägerin auf Erlass der Verspätungszuschläge aus Billigkeitsgründen in einem gesonderten Verfahren zu entscheiden sei.
33
Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet (Schriftsatz des FA vom 6. April 2020 und Erklärung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 20. April 2020).
34
Die Klage ist mit der Maßgabe begründet, dass das FA unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides vom 17. Mai 2019 und der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 17. Februar 2020 verpflichtet wird, über den Antrag der Klägerin auf Rücknahme der Verspätungszuschläge nach pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden (§ 101 der Finanzgerichtsordnung - FGO). Die von der Klägerin beantragte Verpflichtung des FA, die festgesetzten Verspätungszuschläge (vollständig) zurückzunehmen, kommt allerdings nicht in Betracht.
35
1. Das FA hätte den Antrag der Klägerin auf „Erstattung“ der festgesetzten Verspätungszuschläge als Antrag auf Rücknahme der Bescheide über die Festsetzung der streitgegenständlichen Verspätungszuschläge auslegen müssen.
36
Die Klägerin hat mit ihrem Schreiben vom 24. März 2015 sinngemäß einen Antrag auf Rücknahme der festgesetzten Verspätungszuschläge gestellt, auch wenn dieser seinem Wortlaut nach lediglich auf eine Erstattung der geleisteten Beträge gerichtet war.
37
Anträge im Verwaltungsverfahren sind in entsprechender Anwendung des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) auszulegen. Danach ist nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften, sondern der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei dürfen auch außerhalb der Erklärung liegende Umstände berücksichtigt werden. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der Betroffenen denjenigen Antrag stellen wollte, der seinem materiell-rechtlichen Anliegen am ehesten zum Erfolg verhilft (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 1. April 2009 IX R 5/08, BFH/NV 2009, 1081).
38
Ausgehend davon hat die Klägerin nicht nur eine Erstattung der geleisteten Beträge geltend gemacht, sondern zugleich auch eine Rücknahme der bestandskräftigen Bescheide über die Festsetzung der Verspätungszuschläge beantragt, aufgrund derer ihre Zahlungen erfolgt sind. Denn ein Erstattungsanspruch kann sich nur dann ergeben, wenn zuvor der Rechtsgrund für die Zahlung beseitigt worden ist. Auf die die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte regelnde Vorschrift des § 130 Abs. 1 AO hat der Bevollmächtigte der Klägerin im Schreiben vom 3. Juni 2019 auch ausdrücklich hingewiesen.
39
2. Das FA hat es zu Unrecht abgelehnt, eine ggf. teilweise Rücknahme der festgesetzten Verspätungszuschläge zu erwägen. Es hätte das ihm nach § 130 Abs. 1 AO eingeräumte Ermessen ausüben müssen.
40
Nach § 130 Abs. 1 AO kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
41
a) Die Festsetzung eines Verspätungszuschlages ist ein Verwaltungsakt, auf den § 130 Abs. 1 AO anwendbar ist. Die Unanfechtbarkeit des Steuerverwaltungsaktes steht dabei einer Korrektur nicht entgegen (BFH-Urteil vom 14. Juni 2000 X R 56/98, BStBl II 2001, 60).
42
b) Die streitgegenständlichen Festsetzungen von Verspätungszuschlägen sind rechtswidrig. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Festsetzung von Verspätungszuschlägen liegen zwar vor; die Bemessung der Verspätungszuschläge erweist sich aber als ermessensfehlerhaft.
43
Nach § 152 Abs. 1 AO in der für den Streitfall geltenden Fassung (a.F.) kann gegen denjenigen, der seiner Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung nicht oder nicht fristgemäß nachkommt, ein Verspätungszuschlag festgesetzt werden (Satz 1). Von der Festsetzung eines Verspätungszuschlags ist abzusehen, wenn die Versäumnis entschuldbar erscheint (Satz 2). Der Verspätungszuschlag darf gemäß § 152 Abs. 2 Satz 1 AO a.F. zehn Prozent der festgesetzten Steuer oder des festgesetzten Messbetrags nicht übersteigen und höchstens 25.000 € betragen. Bei der Bemessung des Verspätungszuschlags sind neben seinem Zweck, den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Abgabe der Steuererklärung anzuhalten, die Dauer der Fristüberschreitung, die Höhe des sich aus der Steuerfestsetzung ergebenden Zahlungsanspruchs, die aus der verspäteten Abgabe der Steuererklärung gezogenen Vorteile sowie das Verschulden und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen (§ 152 Abs. 2 Satz 2 AO a.F.).
44
aa) Die Festsetzung von Verspätungszuschlägen zu den streitgegenständlichen Voranmeldungen und zur Sondervorauszahlung waren dem Grunde nach gerechtfertigt.
45
Steuererklärung i.S.d. § 152 Abs. 1 Satz 1 AO a.F. ist auch eine Steueranmeldung, in der der Steuerpflichtige die Steuer selbst berechnen muss (§ 150 Abs. 1 Satz 3 AO). Auch die Anmeldung der Sondervorauszahlung ist eine Steueranmeldung i.S.v. § 150 Abs. 1 Satz 3 AO (BFH-Urteil vom 7. Juli 2005 V R 63/03, BStBl II 2005, 813).
46
Die Klägerin war als Unternehmerin i.S.v. § 2 UStG nach § 149 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG verpflichtet, bis zum zehnten Tag nach Ablauf jedes Voranmeldungszeitraums eine Voranmeldung abzugeben, in der sie die Steuer für den Voranmeldungszeitraum (Vorauszahlung) selbst zu berechnen hatte. Sie war im streitgegenständlichen Zeitraum (zweites Kalendervierteljahr 2012 bis März 2014) nicht gemäß § 18 Abs. 2 Satz 3 UStG von der Verpflichtung zur Abgabe der Voranmeldungen befreit.
47
Nach § 18 Abs. 2 Satz 3 UStG kann das Finanzamt den Unternehmer von der Verpflichtung zur Abgabe der Voranmeldungen und Entrichtung der Vorauszahlungen befreien, wenn die Steuer für das vorangegangene Kalenderjahr nicht mehr als 1.000 € betragen hat.
48
Nach Aktenlage war die Klägerin zwar im Jahr 2011 noch von der Verpflichtung zur Abgabe von Voranmeldungen befreit; diese Befreiung galt jedoch ab dem Jahr 2012 nicht mehr. In Erfüllung ihrer Pflicht gab die Klägerin am 11. April 2012 eine Voranmeldung für das erste Kalendervierteljahr 2012 ab. Mit Schreiben des FA vom 5. Juni 2012 wurde sie unter dem Betreff „Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldungen ab 01.01.2012“ auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der für ihr Unternehmen geltende Voranmeldungszeitraum das Kalendervierteljahr ist.
49
Ab April 2013 war die Klägerin zur Abgabe monatlicher Voranmeldungen verpflichtet. Voranmeldungszeitraum ist nach § 18 Abs. 2 Satz 1 UStG zwar grundsätzlich das Kalendervierteljahr. Beträgt die Steuer für das vorangegangene Kalenderjahr jedoch mehr als 7.500 €, ist der Kalendermonat Voranmeldungszeitraum (§ 18 Abs. 2 Satz 2 UStG).
50
Weil über die Frage des Voranmeldungszeitraums zu Beginn des Jahres entschieden werden muss, zu diesem Zeitpunkt die Umsatzsteuer-Jahreserklärung für das Vorjahr jedoch noch nicht vorlag, musste die Steuer für das vorangegangene Kalenderjahr hochgerechnet werden. Dabei konnte die Finanzverwaltung insbesondere auf die Summe der vorangemeldeten Steuer des Vorjahres zurückgreifen (Hildesheim in Offerhaus/Söhn/Lange, Umsatzsteuer, 335. Lieferung, 7/2021, § 18 Rn. 15 und Pflaum in Wäger, UStG, § 18 Rn. 33).
51
Die Summe der vorangemeldeten Steuer des Vorjahres betrug (…) €. Das FA durfte die Klägerin deshalb mit Schreiben vom 1. Februar 2013 auffordern, ab April 2013 monatliche Voranmeldungen abzugeben. Zur Abgabe einer Steuererklärung/Steueranmeldung ist nach § 149 Abs. 1 Satz 2 AO auch verpflichtet, wer hierzu von der Finanzbehörde aufgefordert wird. Stellt sich im Nachhinein heraus, dass die Hochrechnung des FA falsch war und die Steuer des Vorjahres tatsächlich weniger als 7.500 € betrug, muss dies nach Möglichkeit im laufenden Jahr berücksichtigt werden. Änderungen der Steuer des vergangenen Jahres, die erst nach Ablauf des Jahres bekannt werden, wirken sich dagegen nicht auf die Anmeldeverpflichtung aus (Hildesheim in Offerhaus/Söhn/Lange, aaO.).
52
Die Klägerin war auch verpflichtet, die Sondervorauszahlung für das Jahr 2013 anzumelden.
53
Zur Vermeidung von Härten kann das Bundesministerium der Finanzen (BMF) mit Zustimmung des Bundesrates gemäß § 18 Abs. 6 Satz 1 UStG durch Rechtsverordnung die Fristen für die Voranmeldungen und Vorauszahlungen um einen Monat verlängern und das Verfahren näher bestimmen. Dabei kann angeordnet werden, dass der Unternehmer eine Sondervorauszahlung auf die Steuer für das Kalenderjahr zu entrichten hat (§ 18 Abs. 6 Satz 2 UStG).
54
Nach § 46 Satz 1 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung in der für die Streitjahre geltenden Fassung (UStDV) hat das Finanzamt dem Unternehmer auf Antrag die Fristen für die Abgabe der Voranmeldungen und für die Entrichtung der Vorauszahlungen (§ 18 Abs. 1, 2 und 2 a UStG) um einen Monat zu verlängern. Die Fristverlängerung ist bei einem Unternehmer, der die Voranmeldungen monatlich abzugeben hat, unter der Auflage zu gewähren, dass dieser eine Sondervorauszahlung auf die Steuer eines jeden Kalenderjahres entrichtet (§ 47 Abs. 1 Satz 1 UStDV).
55
Während der Geltungsdauer der Fristverlängerung hat der Unternehmer, der die Voranmeldungen monatlich abzugeben hat, die Sondervorauszahlung für das jeweilige Kalenderjahr bis zum gesetzlichen Zeitpunkt der Abgabe der ersten Voranmeldung zu berechnen, anzumelden und zu entrichten (§ 48 Abs. 2 Satz 1 UStDV).
56
Die Klägerin war ab April 2013 verpflichtet, monatliche Voranmeldungen abzugeben. Die ihr bereits zuvor gewährte Fristverlängerung galt zwar fort; dies aber unter der Auflage, dass die Klägerin die Sondervorauszahlung bis zum 10. Mai 2013 anmeldet (vgl. Schreiben des FA vom 1. Februar 2013).
57
Die Klägerin ist ihrer Verpflichtung zur Abgabe der streitgegenständlichen Voranmeldungen und der Anmeldung der Sondervorauszahlung 2013 nicht fristgerecht nachgekommen.
58
Die Umsatzsteuer-Voranmeldung für das zweite Kalendervierteljahr 2012 war gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG bis zum 10. Juli 2012 abzugeben. Sie ist erst am 13. August 2012 und damit verspätet beim FA eingegangen.
59
Die Umsatzsteuer-Voranmeldung für das dritte Kalendervierteljahr 2012 war bis zum 10. Oktober 2012 abzugeben. Sie ging erst am 12. Oktober 2012 und damit verspätet beim FA ein.
60
Bis zum 10. Mai 2013 hätte die Klägerin die Umsatzsteuer-Voranmeldung für das erste Kalendervierteljahr 2013 abgeben und die Sondervorauszahlung für 2013 anmelden müssen. Sie hat die Anmeldung für das erste Kalendervierteljahr 2013 erst am 29. Mai 2013 abgegeben und die Sondervorauszahlung gar nicht angemeldet.
61
Die bis zum 10. Juni 2013 abzugebende Umsatzsteuer-Voranmeldung für April 2013 hat die Klägerin erst am 12. Juni 2013 und damit verspätet abgegeben.
62
Die bis zum 10. November 2013 abzugebende Umsatzsteuer-Voranmeldung für September 2013 hat die Klägerin erst am 12. November 2013 und damit verspätet abgegeben.
63
Die am 10. Dezember 2013 abzugebende Umsatzsteuer-Voranmeldung für Oktober 2013 und die am 10. Januar 2014 abzugebende Umsatzsteuer-Voranmeldung für November 2013 gingen erst am 13. März 2013 beim FA ein.
64
Die Umsatzsteuer-Voranmeldung für März 2014 hätte die Klägerin bis zum 10. Mai 2014 abgeben müssen. Auch sie ging verspätet am 4. Juni 2014 beim FA ein.
65
Gründe, die die Versäumnisse entschuldbar erscheinen ließen, sind weder geltend gemacht noch aus den Akten ersichtlich.
66
bb) Die Bescheide über die Festsetzung der Verspätungszuschläge sind jedoch ermessensfehlerhaft ergangen.
67
Ob und inwieweit bei Erfüllung der Voraussetzungen und im Rahmen der gesetzlichen Grenzen im Einzelfall ein Verspätungszuschlag festgesetzt wird, hat die zuständige Finanzbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei muss die Finanzbehörde alle in § 152 Abs. 2 Satz 2 AO a.F. ausdrücklich und abschließend aufgezählten Kriterien beachten und das Für und Wider ihrer Berücksichtigung gegeneinander abwägen und die für die Bemessung des Verspätungszuschlags maßgebenden Überlegungen in dem Festsetzungsbescheid, spätestens aber in der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf begründen (§ 121 Abs. 1, § 126 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO; BFH in BStBl II 2001, 60).
68
Im Streitfall fehlt es an der gebotenen Begründung der Ermessensentscheidungen. Zum Teil findet sich in den Erläuterungen zu den Bescheiden lediglich der Hinweis: „Der Verspätungszuschlag wurde wegen Nichtabgabe/verspäteter Abgabe der Steuererklärung/Steueranmeldung festgesetzt.“ Diese Bemerkungen zu den gesetzlichen Voraussetzungen für die Festsetzung eines Verspätungszuschlags lassen nicht erkennen, ob das FA überhaupt in eine Ermessensprüfung eingetreten ist. Die Ausführungen in einem Teil der Bescheide: „Ihre Steueranmeldung ist erst am … und somit verspätet eingegangen. Sie haben bereits wiederholt Anmeldungen verspätet abgegeben. Dies wurde bei der Festsetzung des Verspätungszuschlags berücksichtigt.“ lassen zwar auf die Ausübung behördlichen Ermessens schließen, es ist aber nicht erkennbar, welche Ermessenserwägungen das FA im Einzelnen angestellt hat und welche Kriterien mit welcher Gewichtung in die Bemessung der Verspätungszuschläge eingeflossen sind.
69
Weil die Bescheide über die Festsetzung der Verspätungszuschläge nicht erkennen lassen, ob das FA überhaupt in eine Ermessensprüfung eingetreten ist bzw. ob es alle gebotenen Erwägungen angestellt hat, sind sie ermessensfehlerhaft ergangen und waren damit schon im Zeitpunkt ihres Erlasses rechtswidrig. Die fehlenden Ermessenserwägungen hätte das FA zwar in einem Rechtsbehelfsverfahren noch bis zum Erlass der Einspruchsentscheidung nachholen können (Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rn. 31); dies ist aber im Streitfall nicht erfolgt, weil keine Rechtsbehelfsverfahren durchgeführt wurden.
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cc) Im Streitfall erweisen sich die festgesetzten Verspätungszuschläge auch deshalb als von Anfang an (objektiv) rechtswidrig, weil das FA seinen Entscheidungen über die Bemessung der Verspätungszuschläge nach materiellem Recht nicht geschuldete Vorauszahlungen zugrunde gelegt hat.
71
Die (unzutreffend) angemeldeten bzw. festgesetzten Vorauszahlungen beruhten auf einer Verwaltungsanweisung zur Steuerschuld bei Bauleistungen, die mit dem geltenden Recht nicht in Einklang stand. Eine höchstrichterliche Klärung der Rechtsfragen ist mit dem am 14. Februar 2014 im BStBl (Teil II, S. 128) veröffentlichten Urteil des BFH vom 22. August 2013 (V R 37/10) erfolgt.
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Im Streitfall hat sich die Klägerin erst nach Ergehen der streitgegenständlichen Bescheide über Verspätungszuschläge mit Schreiben vom 24. März 2015 auf das BFH-Urteil vom 22. August 2013 berufen und die Erstattung der überzahlten Umsatzsteuer verlangt. Zu diesem Zeitpunkt waren die Vorauszahlungsbescheide für das zweite und das dritte Kalendervierteljahr 2012 bereits „auf andere Weise“ i.S.v. § 124 Abs. 2 AO erledigt, weil am 25. Februar 2014 die Jahreserklärung für 2012 eingegangen war. Dagegen wären die Festsetzungen der Sondervorauszahlung für 2013 und der Vorauszahlungen für das erste Kalendervierteljahr 2013, für April 2013, für September bis November 2013 und für März 2014 zum Zeitpunkt der Antragstellung im März 2015 noch nach § 164 Abs. 2 AO änderbar gewesen. Sie haben sich erst mit Ergehen der Jahressteuerbescheide für 2013 und 2014 am 23. Dezember 2016 erledigt.
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Die Klägerin konnte ihren Anspruch auf Erstattung der überzahlten Vorauszahlungen zwar erst verwirklichen als sich die Vorauszahlungsbescheide durch die (geänderten) Jahressteuerfestsetzungen erledigt hatten. Materiellrechtlich waren die Vorauszahlungen aber von Anfang an nicht geschuldet. Dieser Umstand kann sich insofern auf die Bemessung der Verspätungszuschläge auswirken als die Klägerin aus der verspäteten Abgabe der Voranmeldungen tatsächlich keine Vorteile, sondern vielmehr Nachteile gezogen hat und ihr Verschulden geringeres Gewicht haben kann, wenn tatsächlich keine bzw. erheblich geringere Vorauszahlungen geschuldet waren (BFH-Urteil vom 18. August 2015 V R 2/15, Rn. 18, BFH/NV 2015, 1665).
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Ob das FA die unzutreffende Anwendung des Gesetzes und deren Auswirkungen auf die Bemessung der Verspätungszuschläge im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung über die Verspätungszuschläge erkannt hat oder erkennen hätte können, ist für die Beurteilung der Frage, ob ein Verwaltungsakt i.S.v. § 130 Abs. 1 AO rechtswidrig ist, nicht entscheidend (Klein/Rüsken, AO, Kommentar, 16. Aufl., § 130 Rn. 22).
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c) Das FA ist im Rahmen seiner Entscheidung über den Antrag der Klägerin auf Rücknahme der festgesetzten Verspätungszuschläge zu Unrecht nicht in eine Ermessensprüfung eingetreten. Die Klägerin hat ein subjektives Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Rücknahme (Klein/Rüsken, aaO., Rn. 26).
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Die Rücknahme rechtswidrig festgesetzter Verspätungszuschläge steht nach § 130 Abs. 1 AO im Ermessen der zuständigen Behörde, das entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben ist (§ 5 AO). Daraus folgt nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, in die Ermessensprüfung einzutreten, wenn - wie hier - ein rechtliches Interesse des Einzelnen an der Ermessensentscheidung besteht (Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rn. 42).
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Zweck der Ermessensermächtigung in § 130 Abs. 1 AO ist es, zwischen der materiellen Gerechtigkeit einerseits und dem durch die Bestandskraft eingetretenen Rechtsfrieden andererseits eine Abwägung zu treffen. Eine solche Abwägung hat das FA bisher ermessensfehlerhaft nicht vorgenommen. Es liegt ein Fall der Ermessensunterschreitung vor.
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Das FA durfte die Ermessensprüfung insbesondere nicht mit der Begründung ablehnen, dass die von der Klägerin im Rücknahmeverfahren geltend gemachte Herabsetzung der Jahressteuerschulden keine Bedeutung bei der Bemessung der im Voranmeldungsverfahren festgesetzten Verspätungszuschläge habe, weil es sich bei den Umsatzsteuervoranmeldungen und der Jahressteuererklärung - auch für die Festsetzung von Verspätungszuschlägen - um eigenständige Verfahren handele.
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Das FA weist zwar zu Recht darauf hin, dass die Umsatzsteuer-Voranmeldungen, die Anmeldung der Sondervorauszahlung und die Jahreserklärung jeweils eigenständige Verfahren einleiten und in jedem dieser eigenständigen Verfahren ein Verspätungszuschlag festgesetzt werden kann (BFH-Urteil vom 16. Mai 1995 XI R 73/94, BStBl II 1996, 259). Richtig ist auch, dass die auf die einzelnen Voranmeldungszeiträume entfallenden Steuern maßgeblich für die Festsetzung von Verspätungszuschlägen zu den Vorauszahlungen sind (BFH in BStBl II 1996, 259). Die Möglichkeit der mehrfachen Festsetzung eines Verspätungszuschlags für denselben Besteuerungszeitraum schließt aber nicht aus, die im Voranmeldungsverfahren festgesetzten Verspätungszuschläge auch noch nach dem Ergehen des Jahressteuerbescheides nach § 130 Abs. 1 AO zu korrigieren. Einer Änderung der Vorauszahlungsbescheide bedarf es dafür nicht.
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Werden - wie hier - nach Eintritt der Bestandskraft einer Ermessensentscheidung Gesichtspunkte bekannt, die für die Ausübung des Ermessens maßgebend sind, muss das FA auf einen entsprechenden Antrag in eine Ermessensprüfung nach § 130 Abs. 1 AO eintreten.
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Im Streitfall ist nach Eintritt der Bestandskraft der Bescheide über die Verspätungszuschläge bekannt geworden, dass den Verspätungszuschlägen zu hohe (materiell-rechtlich nicht geschuldete) Vorauszahlungen zugrunde gelegt worden sind. Beträgt die geschuldete Vorauszahlung tatsächlich 0 € (hier: Vorauszahlungen für das zweite und das dritte Kalendervierteljahr 2012 sowie für April 2013, September bis November 2013 und März 2014) oder wäre nach materiellem Recht eine „negative Vorauszahlung“ festzusetzen, kann grundsätzlich kein Verspätungszuschlag festgesetzt werden (BFH-Urteile vom 27. Juni 1989 VIII R 73/84, BStBl II 1989, 955 und in BStBl II 1996, 259).
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d) Bei der Prüfung, ob einem Begehren auf Rücknahme eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entsprechen ist, hat die Verwaltung im konkreten Fall abzuwägen, ob dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Gerechtigkeit im Einzelfall oder dem Interesse der Allgemeinheit am Eintritt von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit der Vorzug zu geben ist. Dabei kommt es auf die Schwere und Offensichtlichkeit des Rechtsverstoßes sowie darauf an, weshalb die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist vom Steuerpflichtigen geltend gemacht wird (BFH-Urteil vom 11. Dezember 2013 XI R 22/11, BStBl II 2014, 332, Rn. 31). Ob die zurückzunehmende Entscheidung an einem „offensichtlichen und schweren“ Rechtsmangel leidet, ist aus dem Erkenntnishorizont im Zeitpunkt der zurückzunehmenden, nicht der noch zu treffenden Rücknahmeentscheidung zu beurteilen (Klein/Rüsken, aaO., Rn. 29c).
83
Ausgehend davon kommt zwar die von der Klägerin beantragte Verpflichtung des FA zur (vollständigen) Rücknahme aller streitgegenständlichen Verspätungszuschläge nicht in Betracht; das FA muss aber die erforderliche Abwägung nachholen.
84
Behördliche Ermessensentscheidungen - wie hier die Entscheidung über den Antrag nach § 130 Abs. 1 AO - unterliegen gemäß § 102 FGO nur insoweit der gerichtlichen Nachprüfung, als es um die Frage geht, ob die Behörde nach den tatsächlichen Verhältnissen zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung den entscheidungserheblichen Sachverhalt einwandfrei und erschöpfend ermittelt, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Bei der Ermessensprüfung darf das Gericht vor allem die für die Ausübung des Ermessens maßgeblichen Erwägungen nicht durch eigene ersetzen. Es darf ferner wegen der bei Ermessensentscheidungen nach § 102 Satz 1 FGO eingeschränkten Prüfungs- und Entscheidungskompetenz das FA nur dann nach § 101 Satz 1 FGO zum Erlass einer bestimmten Entscheidung verpflichten, wenn der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeengt ist, dass nur eine Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (sog. Ermessensreduzierung auf Null; BFH-Urteil vom 23. September 2009 XI R 56/07, BFH/NV 2010, 12).
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Im Streitfall ist das Ermessen nicht auf Null reduziert. Insbesondere besteht keine Pflicht für das FA, bestandskräftige Bescheide (allein) aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurückzunehmen (BFH-Beschluss vom 4. Juni 2008 I R 9/07, Rn. 14, BFH/NV 2008, 1647). Eine Ermessensreduzierung auf Null nimmt die Rechtsprechung vielmehr in Fällen an, in denen die Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Bescheids schlechthin unerträglich wäre oder ein Beharren auf dessen Bestandskraft als ein Verstoß gegen die guten Sitten oder Treu und Glauben erschiene (Klein/Rüsken, aaO., Rz. 29b).
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Ein solcher Ausnahmefall liegt aus Sicht des Senats nicht vor. Die Bescheide über die Verspätungszuschläge sind zwar offensichtlich ermessensfehlerhaft ergangen, weil es an der gebotenen Begründung der Entscheidungen mangelte (s.o. II. 2. b) bb)); dies hätte die Klägerin aber im Rahmen von Rechtsbehelfsverfahren geltend machen können. Den weiteren für die Bemessung der Verspätungszuschläge erheblichen Umstand, dass die zugrundeliegenden Vorauszahlungen materiell-rechtlich gar nicht bzw. nicht in der angemeldeten/festgesetzten Höhe (erstes Kalendervierteljahr 2013) geschuldet waren, hat zunächst keiner der Beteiligten erkannt. Insoweit ist zwar von einem schwerwiegenden, nicht aber von einem - im maßgeblichen Zeitpunkt - offensichtlichen Gesetzesverstoß auszugehen. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass das FA die im Frühjahr 2015 beantragte Herabsetzung der Umsatzsteuer im Wege einer Änderung der (im Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht erledigten) Vorauszahlungsbescheide aus den Jahren 2013 und 2014 umsetzen hätte können und die dazu festgesetzten Verspätungszuschläge in der Folge anzupassen gewesen wären. Entscheidet sich das FA - wie hier - dazu, die beantragte Herabsetzung der Umsatzsteuer nicht in den noch änderbaren Vorauszahlungsbescheiden, sondern stattdessen in erst zu erlassenden Jahressteuerbescheiden umzusetzen, liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben nahe, wenn das FA im Anschluss auf der Bestandskraft der Bescheide über die Verspätungszuschläge zu den Umsatzsteuer-Vorauszahlungen beharrt. Dieser Aspekt wird in die gebotene Abwägung einzubeziehen sein; sie führt aber nicht zu einer Ermessensreduzierung auf Null.
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Soweit das FA in der Einspruchsentscheidung auf Seite 6 darauf hinweist, dass für 2013 letztlich eine (positive) Umsatzsteuer festgesetzt sei, wird zu berücksichtigen sein, dass die diesem Steuerbetrag zugrundeliegenden Umsätze zum weit überwiegenden Teil (… €) für den hier nicht streitgegenständlichen Monat Dezember 2013 vorangemeldet wurden. Im ersten Kalendervierteljahr 2013 entfällt auf diese Umsätze lediglich ein Steuerbetrag von (…) €. Auf die übrigen streitgegenständlichen Voranmeldungszeiträume, zu denen Verspätungszuschläge festgesetzt wurden, entfallen keine solchen Umsätze.
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3. Der Senat konnte ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden (§ 90 Abs. 2 FGO).
89
4. Die Kosten des Klageverfahrens werden der Klägerin und dem FA gemäß § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO je zur Hälfte auferlegt. Hat ein Kläger - wie im Streitfall - mit seinem Verpflichtungsantrag (hier: das FA zur vollständigen Rücknahme der Verspätungszuschläge zu verpflichten) letztlich nur ein Bescheidungsurteil erstritten, ist, wenn - wie hier - keine besonderen Umstände vorliegen, regelmäßig eine Kostenteilung angebracht (BFH-Urteil vom 6. Dezember 2012 V R 1/12, Rn. 18, BFH/NV 2013, 906).
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5. Die Revision wird nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen. Die Frage, ob das FA verpflichtet ist, bestandskräftig festgesetzte Verspätungszuschläge zu Umsatzsteuervorauszahlungen zu überprüfen, nachdem Jahressteuerbescheide ergangen sind, erscheint vor dem Hintergrund, dass die Verwaltung der Auffassung des BFH im Urteil vom 16. Mai 1995 XI R 73/94 (BStBl II 1996, 259) ausdrücklich nicht folgt (vgl. Nichtanwendungserlass vom 25. April 1996, BStBl I 1996, 582), klärungsbedürftig.