Inhalt

VG München, Beschluss v. 06.12.2022 – M 5 S 22.5538
Titel:

Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer Anfechtungsklage, Rückforderung von Beiträgen, fiskalische Interessen, sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse (verneint), Realisierung einer öffentlich-rechtlichen Geldforderung ohne den Sofortvollzug ernstlich gefährdet (verneint)

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4
Schlagworte:
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer Anfechtungsklage, Rückforderung von Beiträgen, fiskalische Interessen, sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse (verneint), Realisierung einer öffentlich-rechtlichen Geldforderung ohne den Sofortvollzug ernstlich gefährdet (verneint)
Fundstelle:
BeckRS 2022, 40507

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom … Juli 2022 gegen den Rückforderungsbescheid des Antragsgegners vom … Juni 2022 wird wiederhergestellt.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.494,15 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt mit ihrem Antrag, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den mit Schreiben vom … Juli 2022 für sofort vollziehbar erklärten Bescheid des Antragsgegners vom … Juni 2022 wiederherzustellen.
2
Die 1969 geborene Antragstellerin ist seit dem … Januar 2007 Mitglied im Versorgungswerk des Antragsgegners. Im März 2016 wurde bei der Antragstellerin ein nichtkleinzelliges Lungenkazinom im linken Oberlappen Stadium IV entdeckt. In Folge bezog sie seit Juni 2016 bis … Juni 2022 eine Berufsunfähigkeitsrente.
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Gutachter W. kam in seinem Gutachten vom … Dezember 2021 zu dem Ergebnis, dass sich der Gesundheitszustand zwischenzeitlich stabilisiert und leicht gebessert habe und die Antragstellerin mit Unterstützung Dritter voraussichtlich ab Februar 2022 drei Stunden täglich als Wirtschaftsprüferin/Steuerberaterin arbeiten könne.
4
Die Antragstellerin brachte im Rahmen einer Stellungnahme vor, dass in einer gutachterlichen Stellungnahme des Facharztes für Innere Medizin K., dieser Arzt ausgeführt habe, dass die Erkrankung der Antragstellerin nicht in das Fachgebiet der Inneren Medizin falle, weshalb die Antragstellerin gegenüber dem Antragsgegner mit Schreiben vom … März 2022 (Blatt 681 f. der Behördenakte) angeregt habe, ein Gutachten auf psychiatrisch neurologischem Gebiet und ein orthopädisches Gutachten einzuholen. In einer ergänzenden Stellungnahme des Gutachters W. vom … März 2022 (Blatt 688 der Behördenakte) führte dieser aus, dass er auf Grund seiner sechsjährigen Facharztausbildung zum Arzt für Innere Medizin und seiner neunundzwanzigjährigen Tätigkeit als Internist und Sozialmediziner das Krankheitsbild der Antragstellerin beurteilen könne.
5
Der Vorstand des Antragsgegners befasste sich in seiner Sitzung am ... Mai 2022 mit dem Vorgang und gelangte unter Auswertung aller Unterlagen zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin über den … Januar 2022 hinaus nicht berufsunfähig im Sinn der Versorgungssatzung sei.
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Mit Bescheid vom … Juni 2022 hat der Antragsgegner festgestellt, dass der Anspruch auf Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente mit Ablauf des … Januar 2022 geendet hat. Zugleich wurde die unter Vorbehalt der Rückforderung gezahlte Rente in Höhe von 9.976,60 EUR für die Monate Februar 2022 bis Juni 2022 zurückgefordert. Weiter wurde festgestellt, dass die Mitgliedschaft der Antragstellerin bei dem Antragsgegner fortbesteht und deshalb ab ... Februar 2022 ein Beitragsrückstand in Höhe von 665,65 EUR entstanden sei, welcher ebenfalls eingefordert wurde.
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Mit Bescheid vom … Juli 2022 wurden die Regelungen hinsichtlich der Feststellung der Mitgliedschaft und der Beitragsfestsetzung aufgehoben.
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Mit weiterem Schreiben vom … Juli 2022 wurde hinsichtlich der Regelungen des Bescheids vom … Juni 2022 „1. Ihr Anspruch auf Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente hat mit Ablauf des …1.2022 geendet. 2. Die Rentenzahlungen von Februar 2022 bis einschließlich Juni 2022 in Höhe von insgesamt 9.976,60 EUR (5x 1.995,32 EUR) sind zurückzuzahlen“ der Sofortvollzug angeordnet.
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Der Antragsgegner begründete das Erfordernis der Anordnung damit, dass der Antragsgegner als Körperschaft des öffentlichen Rechts an den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gebunden sei und verhindert werden müsse, dass Rückforderungsansprüche bei unzulässigen Rentenzahlungen gegebenenfalls nicht mehr durchsetzbar seien. Eine Weitergewährung der Rente sowie ein Verzicht der Rückforderung bis zur gerichtlichen Entscheidung würde dem Versorgungsauftrag im Sinne einer Solidargemeinschaft des Antragsgegners widersprechen. Gewichtige private Interessen, die es rechtfertigen würden, eine sofortige Vollziehung zu unterlassen, seien nicht ersichtlich.
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Gegen den Rückforderungsbescheid vom … Juni 2022 hat die Antragstellerin am … Juli 2022 Klage erhoben (M 5 K 22.3381). Gegen den Beitragsbescheid vom … Juli 2022 wurde ebenfalls Klage erhoben (M 5 K 22.3750). Über diese Klagen ist noch nicht entschieden.
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Mit Schriftsatz vom 24. November 2022 hat die Antragstellerpartei zuletzt beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Rückforderungsbescheid vom … Juni 2022 wiederherzustellen.
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Der Rückforderungsbescheid sei rechtswidrig, da bereits der Aufhebungsbescheid offensichtlich rechtswidrig sei. Weiter habe der Antragsgegner keine ausreichenden Ermittlungen des Gesundheitszustandes der Antragstellerin unternommen. Darüber hinaus ergebe eine Interessensabwägung, dass die Rückforderung einer bereits verbrauchten Rente zurückstehen könne, bis in der Hauptsache entschieden sei.
14
Der Antragsgegner hat beantragt,
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den Antrag auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung der gegen den Bescheid vom 30. Juni 2022 erhobenen Klage kostenpflichtig abzuweisen.
16
Das Rückforderungsverlangen sei rechtmäßig. Weiter sei ein öffentliches Interesse am Sofortvollzug auf Grund der öffentlichen Interessen des Antragsgegners und dem Schutz der Solidargemeinschaft gegeben.
17
Bezüglich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegten Behördenakten in diesem Verfahren sowie den Verfahren M 5 K 22.3381 sowie M 5 K 22.3750 verwiesen.
II.
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Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist begründet.
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1. Der Antrag ist entsprechend dem erkennbaren Rechtsschutzziel (§ 88 VwGO) dahin auszulegen, dass die aufschiebende Wirkung der Klage vom … Juli 2022 gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheids vom … Juni 2022 hinsichtlich der Rückforderung in Höhe von 9.976,60 EUR wiederhergestellt wird.
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2. Gemäß § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Diese entfällt jedoch, wenn die Behörde nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten angeordnet hat.
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Gegen die behördlich angeordnete sofortige Vollziehung eines Verwaltungsakts kann der Betroffene gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO beim Gericht der Hauptsache die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung beantragen.
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Das Gericht der Hauptsache kann gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage ganz oder teilweise wiederherstellen, wenn die vorzunehmende, eigene Interessenabwägung ergibt, dass das Interesse der Antragsteller an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klagen das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsakts überwiegt.
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In allen Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 und denjenigen aus Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 3, bei denen schwerwiegende und bzw. oder unabänderliche Folgen drohen, ist - unabhängig von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache und einer Interessensabwägung - das Vorliegen des besonderen Vollzugsinteresses, das sich regelmäßig von dem Interesse am Erlass des Verwaltungsakts unterscheidet, zu prüfen (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 94).
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3. Ausgehend davon ergibt die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmende summarische Prüfung, dass die Anordnung des Sofortvollzuges im Schreiben vom … Juli 2022 in einer den Erfordernissen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Weise begründet wurde, jedoch die Anordnung des Sofortvollzuges einer materiellen Überprüfung nicht standhält.
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a) Zu berücksichtigen ist hierbei im vorliegenden Fall, dass der Gesetzgeber mit der Regelung des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO den Grundsatz aufgestellt hat, dass Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung zukommt. Nur für einige Teilbereiche des Verwaltungsrechts hat der Gesetzgeber diesen Grundsatz durchbrochen und den regelmäßigen Eintritt der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 1 VwGO ausgeschlossen (§ 80 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO). § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO schließt den Eintritt der aufschiebenden Wirkung bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten aus. Öffentlichen Abgaben sind Leistungen, die ein Hoheitsträger zur Deckung seines Finanzbedarfs kraft seines Hoheitsrechts verlangt, also vor allem Steuern, Gebühren und Beiträge im Sinne der Abgabenordnung (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 28). Es handelt sich bei der streitgegenständlichen Rückforderung nicht um die Geltendmachung von Versorgungsbeiträgen (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 28). Da vorliegend keiner dieser abschließend aufgeführten Fälle vorliegt, bedarf es des Vorliegens besonderer Umstände in Gestalt eines überwiegenden öffentlichen Interesses, um abweichend vom eingangs dargestellten Grundsatz den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung zu rechtfertigen. Ein derartiges, das Suspensivinteresse der Antragstellerin überwiegendes öffentliches Interesse am Sofortvollzug des Bescheids vom … Juni 2022 vermag die Kammer vorliegend nicht zu erkennen.
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Zwar können fiskalische Interessen grundsätzlich ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes begründen. Diesem Umstand trägt der Gesetzgeber allerdings bereits mit der Regelung des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO - unter die die hier streitgegenständlichen Verwaltungsakte gerade nicht fallen (s.o.) - Rechnung. In allen anderen Fällen genügt aber im Umkehrschluss zu § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO das bloße Interesse an einer alsbaldigen Zahlung für ein überwiegendes öffentliches Vollzugsinteresse gerade nicht (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsverfahren, 7. Auflage 2017, Rn. 772). Fiskalische Belange können nur ausnahmsweise auf ein besonderes Vollzugsinteresse führen und zwar nur dann, wenn die Realisierung einer öffentlich-rechtlichen Geldforderung ohne den Sofortvollzug ernstlich gefährdet erscheint und die Gefährdungslage im Einzelfall festgestellt wurde (BayVGH, B.v. 26.5.1987 - 23 AS 87.00408 - BayVBl 1988, 182, juris; Schoch in Schoch/Schneider, Februar 2022 VwGO § 80 Rn. 217 f. mit weiteren Nachweisen). Dies ist der Fall, wenn ein Beiseite-Schaffen von Geldmitteln zu befürchten ist, der Adressat des Verwaltungsakts vor der Insolvenz steht, oder der Verwaltungsakt der Durchsetzung von EU-Recht dient (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsverfahren, 7. Auflage 2017, Rn. 773).
27
b) Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die Begründung des Antragsgegners, dass die Anordnung des Sofortvollzuges erforderlich sei, da der Antragsgegner als Körperschaft des öffentlichen Rechts an den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gebunden sei und verhindert werden müsse, dass die Rückforderungsansprüche gegebenenfalls nicht mehr durchsetzbar seien und dem Versorgungsauftrag im Sinne einer Solidargemeinschaft des Antragsgegners widersprechen würden, stellen keine fiskalischen Belange dar, welche den Sofortvollzug rechtfertigen. Es sind durch den Antragsgegner keine Anhaltspunkte festgestellt noch ist durch das Gericht erkennbar, dass die Realisierung der öffentlich-rechtlichen Geldforderung ohne den Sofortvollzug ernstlich gefährdet sein könnte.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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5. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 3 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. den Empfehlungen in der Nrn. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (ein Viertel der Rückforderungssumme).