Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 22.12.2022 – W 4 K 22.30250
Titel:

Asyl, Somalia: Hinsichtlich Abschiebungsverboten erfolgreicher Eilantrag eines Mannes, der bisher kaum Somalia gelebt hat

Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5, § 75 Nr. 12
EMRK Art. 3
AsylG § 34 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5
Leitsatz:
Unter Berücksichtigung der besonderen persönlichen Umstände des Klägers und der aktuell äußerst prekären humanitären Lage in Somalia ist das Gericht der Überzeugung, dass es dem Kläger, selbst wenn man hinsichtlich der insoweit anzustellenden Rückkehrprognose auf ihn alleine und nicht auf seine Familie hier in Deutschland samt zweier Kleinkinder abstellt, nicht gelingt, seinen existenziellen Lebensunterhalt zu sichern und innerhalb kürzester Zeit der Verelendung anheimfallen würde. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Somalia, Abschiebungsverbot bei Mann der bislang kaum in Somalia gelebt hat und dort über kein tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk verfügt, Abschiebungsverbot
Fundstelle:
BeckRS 2022, 40431

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10. März 2022 (Gz.: …) verpflichtet, festzustellen, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Somalia vorliegt.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1.
1
Der Kläger ist somalischer Staatsangehöriger, reiste am 30. Dezember 2019 ins Bundesgebiet ein und stellte hier am 17. Januar 2020 einen Asylantrag. Die persönliche Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) erfolgte am 6. Februar 2020. Dabei gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er als uneheliches Kind geboren sei, seinen Vater nie kennen gelernt habe und seit seinem dritten Lebensjahr bei seinem Onkel in Äthiopien gelebt habe. In Somalia habe er sich seitdem lediglich 2014 für rund ein Jahr aufgehalten, um seine Mutter in B., in der Region H., zu suchen. Er sei als uneheliches Kind unklarer Clanzugehörigkeit immer wieder erheblichen Diskriminierungen ausgesetzt gewesen. Außer seinem Onkel und dessen Kinder in Äthiopien/J. habe er keine Verwandten. Auf die im Übrigen gemachten Angaben des Klägers wird Bezug genommen.
2
Mit Bescheid vom 10. März 2022 stellte das Bundesamt fest, dass dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird (Ziffer 1). Ebenso wurde der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt (Ziffer 2). Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (Ziffer 3) und es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Sollte der Kläger die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er nach Somalia abgeschoben. Der Kläger könne auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei. Die durch die Bekanntgabe dieser Entscheidung in Lauf gesetzte Ausreisefrist werde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6).
3
Wegen der Begründung wird auf den vorgenannten Bescheid des Bundesamts Bezug genommen. Der Bescheid wurde dem Kläger ausweislich der bei den Behördenakten befindlichen Postzustellungsurkunde am 16. März 2022 zugestellt.
2.
4
Gegen den Bescheid des Bundesamts ließ der Kläger mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 29. März 2022, eingegangen bei Gericht am 30. März 2022, Klage erheben und zuletzt beantragen,
5
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. März 2022 verpflichtet, festzustellen, dass beim Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
6
Wegen der Begründung wurde im Wesentlichen auf die Angaben des Klägers im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt verwiesen. Ergänzend wurde ausgeführt, dass der Kläger mittlerweile Vater zweier in Deutschland geborener Kinder sei. Diesen und der Kindsmutter, alle ebenfalls somalische Staatsangehörige, sei subsidiärer Schutz zuerkannt worden. Der Kläger und die Kindsmutter hätten im Jahr 2020 nach muslimischen Ritus geheiratet.
3.
7
Mit Schriftsatz des Bundesamts vom 4. April 2022 beantragt die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
8
Zur Begründung wurde auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
4.
9
Mit Beschluss vom 17. Oktober 2022 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter übertragen.
10
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, auf die beigezogenen Behördenakten sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

11
Das Gericht konnte im vorliegenden Fall über die Klage entscheiden, ohne dass ein Vertreter der Beklagten an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Die Beklagte wurde ausweislich der Gerichtsakte ordnungsgemäß geladen. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten in der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 VwGO).
12
Die Klage ist zulässig und begründet.
13
Der Bescheid des Bundesamts vom 10. März 2022 ist, soweit er zuletzt noch angefochten wurde, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Denn dieser hat zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbot sind in der Folge rechtswidrig und als belastende Verwaltungsakte aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1.
14
Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
1.1.
15
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Verbürgt sind insoweit u.a. das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK), das Verbot der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (Art. 3 EMRK) sowie das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK). § 60 Abs. 5 AufenthG erfasst dabei nur zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse (vgl. etwa BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris Rn. 35).
16
Für den Begriff der Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, B.v. 18.7.2001 - 1 B 71/01 - juris Rn. 2). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Art. 3 EMRKwidrige Behandlung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Ein gewisser Grad an Mutmaßung ist dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent, sodass ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis dafür, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, nicht verlangt werden kann (EGMR, U.v. 9.1.2018 - Nr. 36417/16, X./Schweden - Rn. 50; BVerwG, U.v. 21.4.2022 - 1 C 10/21 - juris Rn. 14).
17
Zugleich entspricht es der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass in besonderen Ausnahmefällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen können. Hierfür sind allerdings strengere Maßstäbe anzulegen, sofern es an einem verantwortlichen (staatlichen) Akteur fehlt: Schlechte humanitäre Bedingungen, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf das Fehlen staatlicher Mittel zum Umgang mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten zurückzuführen sind, können eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nur in ganz außergewöhnlichen Fällen („very exceptional cases“) begründen, in denen humanitäre Gründe zwingend („compelling“) gegen eine Abschiebung sprechen. Solche ganz außergewöhnlichen Umstände können auch solche sein, die eine Person mit anderen Personen teilt, welche Träger des gleichen Merkmals sind oder sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 - 1 C 10/21 - juris Rn. 15 unter Bezug auf EGMR, U.v. 13.12.2016 - Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien - NVwZ 2017, 1187 Rn. 183).
18
In einem solchen Fall kann ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausnahmsweise etwa dann vorliegen, wenn die Abschiebung, wenngleich nicht unmittelbar zum Tod des Betroffenen, so doch zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung („serious, rapid and irreversible decline“) seines Gesundheitszustands führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere“ („minimum level of severity“) aufweisen; dies kann erreicht sein, wenn der Ausländer seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (BVerwG, U.v. 21.4.2022 - 1 C 10/21 - juris Rn. 15; U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - BVerwGE 166, 113, Rn. 12 m.w.N.).
19
Diese Erheblichkeitsschwelle kann in Bezug auf vulnerable Personen schneller erreicht sein als etwa in Bezug auf gesunde und erwerbsfähige erwachsene Personen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 90 ff.; BVerwG, U.v. 21.4.2022 - 1 C 10/21 - juris Rn. 16). Für die Erfüllung der vorbezeichneten Grundbedürfnisse gelten - gerade bei nicht vulnerablen Personen - nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten zählen auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ angesiedelt sind (BVerwG, U.v. 21.4.2022 - 1 C 10/21 - juris Rn. 17; B.v. 9.1.1998 - 9 B 1130.97 - juris Rn. 5; B.v. 17.5.2006 - 1 B 100.05; EuGH, U.v. 2.10.2019 - juris Rn. 48).
20
Können extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK begründen, somit durch eigene Handlungen (z.B. den Einsatz der eigenen Arbeitskraft) oder die Inanspruchnahme der Hilfe- oder Unterstützungsleistungen Dritter (seien es private Dritte, seien es nichtstaatliche Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen) abgewendet werden, besteht schon nicht mehr die ernsthafte Gefahr einer Situation extremer materieller Not (BVerwG, U.v. 21.4.2022 - 1 C 10/21 - juris Rn. 17; vgl. zur Berücksichtigung von nichtstaatlichen Unterstützungsleistungen in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union: BVerwG, U.v. 7.9.2021 - 1 C 3.21 - juris Rn. 25 ff.).
21
Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG müssen zudem grundsätzlich landesweit drohen, um ein Abschiebungsverbot zu begründen; etwas Anderes gilt nur, soweit der Betroffene bei lediglich in Gebietsteilen drohenden Gefahren das sichere Gebiet in seinem Heimatstaat nicht erreichen kann (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris Rn. 26; B.v. 15.9.2006 - 1 B 116.06 - juris Rn. 4). Es darf also für den Betroffenen keine interne/innerstaatliche Fluchtalternative („internal flight alternative“) bestehen. Für die Annahme einer solchen internen Fluchtalternative im Rahmen des Art. 3 EMRK müssen jedoch gewisse, dem internen Schutz nach § 3e AsylG durchaus ähnliche Voraussetzungen erfüllt sein: Die abzuschiebende Person muss in der Lage sein, sicher in das betroffene Gebiet zu reisen, Zutritt zu diesem zu erhalten und sich dort niederzulassen. Ein anderer Ort im Zielstaat kann dem Betroffenen nicht zugemutet werden, wenn dort keine hinreichenden sozialen Bedingungen herrschen, die ein menschenwürdiges Dasein einschließlich des Zugangs zu einer Grundversorgung sowie der erforderlichen sanitären Einrichtungen für die individuell betroffene Person ermöglichen. Erforderlich ist (wiederum) eine Gesamtschau und auf den konkreten Einzelfall bezogene Prüfung unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte, darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ankunftsort sowie an dem Ort, an den der Betroffene letztlich dauerhaft zurückkehren soll, und persönlicher und familiärer Umstände. Relevant kann dabei sein, ob die Person in der fraglichen Region eine familiäre Anbindung hat (vgl. hierzu etwa VGH BW, U.v. 3.11.2017 - A 11 S 1704/17 - juris Rn. 194 ff. unter Verweis insbesondere auf EGMR, U.v. 28.6.2011 „Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich“, Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681 Rn. 266 und 294 f.).
1.2.
22
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben, der aktuellen Lage in Somalia und seiner persönlichen Umstände steht dem Kläger zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu.
1.2.1.
23
Die humanitäre Lage in Somalia ist aktuell aufgrund der schwersten Dürreperiode seit Jahren, der globalen Lieferkettenprobleme sowie der auch durch den Ukraine-Krieg mitverursachten deutlichen Preissteigerungen besonders prekär. Geschätzt 6,7 Millionen Menschen, also rund 45 Prozent der Bevölkerung Somalias, sehen sich mit akuter Ernährungsunsicherheit konfrontiert (UN Security Council, Situation in Somalia, 1.9.2022, S. 6 f.). In einigen Teilen des Landes, insbesondere in den Regionen B. und B1. (vgl. WFP, Somalia - Famine Prevention Response Situation Report, 12.10.22, S. 1), droht sogar erneut eine Hungersnot, wenn die nächste Ernte schlecht ausfällt, die Nahrungsmittelpreise weiter steigen und die humanitäre Hilfe nicht schnell weiter aufgestockt wird (BAMF, Briefing Notes, 19.12.2022, S. 10; BFA, LIS Somalia, 27.7.2022, S. 209 f.; UN Security Council, Situation in Somalia, 1.9.2022, S. 6 f.). Seit Jahresbeginn sollen zudem bereits über 750 Kinder an Unterernährung gestorben sein (UN Security Council, Situation in Somalia, 1.9.2022, S. 7; BAMF Briefing Notes vom 12.9.2022, S. 10). Geschätzt über 6 Millionen Einwohner Somalias haben aktuell auch keinen adäquaten Zugang zu sauberem Trinkwasser (UN Security Council, Situation in Somalia, 1.9.2022, S. 7).
24
Besonders betroffen von dieser prekären Situation sind vor allem diejenigen Menschen in Somalia, die von Vieh- und Landwirtschaft leben sowie Binnenflüchtlinge (vgl. hierzu BAMF, Briefing Notes, 19.12.2022, S. 10; BFA, LIS Somalia, 27.7.2022, S. 210; UN Security Council, Situation in Somalia, 1.9.2022, S. 6 f.; UN OCHA, Somalia Humanitarian Bulletin, March 2022, 12.4.2022; FEWS NET, Somalia Price Bulletin, March 2022). Daneben leben rund 70 Prozent der Bevölkerung Somalias von weniger als 1,9 US-Dollar pro Tag (BFA, LIS Somalia, 27.7.2022, S. 204).
25
Zwar ist die humanitäre Unterstützung für Somalia eine der am besten finanzierten weltweit. Humanitäre Organisationen erreichen viele Menschen vor Ort; dies gilt jedenfalls für städtische Gebiete und Gebiete, die nicht unter der Kontrolle von ..-S. stehen (vgl. BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 212 ff.). Demnach erhielten im Zeitraum von Januar bis Juli 2022 ca. 5,3 Millionen Somalier humanitäre Hilfe (UN Security Council, Situation in Somalia, 1.9.2022, S. 7). Landesweit ist die Nahrungsmittelhilfe derzeit aber gleichwohl nicht ausreichend, so dass eine (erneute) Verschlimmerung der Situation zu befürchten ist (BAMF, Briefing Notes, 19.12.2022, S. 10; BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 213).
26
Das eigentliche soziale Sicherungsnetz für Personen, deren Unterhalt und Überleben in Gefahr ist, bildet in der Regel allerdings die Familie und der jeweilige (Sub-)Clan (BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 214 f. u. 219 f.; AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, Januar 2020, S. 21). Während Krisenzeiten helfen neben Familie und Clan auch andere soziale Verbindungen - seien es Freunde, Bekannte, Berufsgruppen oder religiöse Bünde. Meist ist die Unterstützung wechselseitig. Über diese sozialen Netzwerke können auch Verbindungen zwischen Gemeinschaften und Instanzen aufgebaut werden, welche Nahrungsmittel, medizinische Versorgung oder andere Formen von Unterstützung bieten (BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 214 f.; 219 f.).
1.2.2.
27
Zur aktuellen wirtschaftlichen Lage Somalias sind valide Zahlen nicht zu erhalten bzw. nicht zu verifizieren (siehe hierzu etwa BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 193 ff.). Die somalische Wirtschaft hat sich trotz mehrerer Schocks (Covid-19-Pandemie, Heuschreckenplage, Überschwemmungen und Dürren) allerdings als resilienter erwiesen als zunächst angenommen: Ursprünglich war für 2020 ein Rückgang des BIP um 2,5 Prozent prognostiziert worden, tatsächlich sind es dann nur minus 0,4 Prozent geworden (BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 193 f.). Für 2021 wurde ein Wachstum von 2,4 Prozent prognostiziert, geworden sind es dann 2,9 Prozent (BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 194). Für das Jahr 2022 prognostiziert die Weltbank ein Wachstum von 3,2 Prozent (BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 194).
28
Eine der Triebfedern der wirtschaftlichen Erholung sind Remissen und anhaltende Investitionen. Ein robuster Privatsektor und starke Remissen aus der Diaspora bleiben die Grundlage für weiteren Optimismus. Zudem gibt es unentwickelte Möglichkeiten aufgrund der Urbanisierung sowie auf den Gebieten neuer Technologien, Bildung und Gesundheit. Die Geldrückflüsse nach Somalia sind 2021 im Vergleich zu 2020 noch einmal gestiegen, von 30,8 Prozent des BIP auf 31,3 Prozent. Neben der Diaspora sind auch zahlreiche Agenturen der UN (etwa UN-Habitat, UNICEF, UNHCR) tatkräftig dabei, das Land wiederaufzubauen. Das Maß an privaten Investitionen bleibt konstant. Die Inflation lag 2021 bei 4,6 Prozent, für 2022 wurden aufgrund höherer Nahrungsmittel- und Treibstoffpreise sowie der herrschenden Dürre allerdings 9,4 Prozent prognostiziert (vgl. zum Vorstehenden BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 194 m.w.N.). Weiterer Inflationstreiber ist zudem der Ukraine-Krieg, der auch in Somalia zu weiteren Preissteigerungen geführt hat (UN OCHA, Somalia, Situation Report, 18.10.2022, S. 4).
29
Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln wird aber auch deutlich, dass Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge, Rückkehrer und andere vulnerable Personengruppen limitiert sind. Zugezogene tun sich oft schwer, eine geregelte Arbeit bzw. überhaupt Arbeit zu finden. Verfügbare Jobs werden vor allem über Clan-Netzwerke vergeben (BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 195). Für kleinere oder mittelgroße Berufsaktivitäten ist ein Netzwerk allerdings nicht zwingend nötig (BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 220). Die Arbeitslosenquote ist gleichwohl landesweit hoch. Dementsprechend sind viele Haushalte in Somalia auf Remissen von Verwandten aus dem Ausland angewiesen (BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 227).
30
In Somalia und insbesondere in M. gibt es derzeit vor allem Arbeitsmöglichkeiten am Bau, in Restaurants und Teehäusern. Auch leben viele Menschen vom Kleinhandel (vgl. BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 195 f). Die Mehrheitsbevölkerung ist derartigen Arbeiten wegen des geringen Ansehens jedoch abgeneigt, so dass vor allem marginalisierte Gruppen in diesen Bereichen Arbeit finden (BFA, LIS - Somalia, vom 27.7.2022, S. 196). So kann beispielsweise ein Hilfsarbeiter am Bau rund 100 US-Dollar im Monat verdienen, Transporteure mit Eselskarre verdienen 10-12 US-Dollar pro Tag. (BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 196; FIS, Somalia, Security situation und humanitarian conditions in M., 7.8.2020, S. 33). Unter Tagelöhner sind Jobs auf Baustellen aufgrund der dort höheren Verdienstmöglichkeiten daher am begehrtesten, zumal 77 Prozent der Bevölkerung Somalias mit weniger als 1,9 US-Dollar pro Tag auskommen müssen (vgl. BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 200 u. 204). Frauen sind in Somalia in mittlerweile fast der Hälfte aller Haushalte die Hauptverdiener (BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 199 f.). Frauen ohne besondere (Berufs-) Bildung arbeiten beispielsweise als Hausangestellte, Köchin, Straßenverkäuferin oder Kleinhändlerin (BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 199 f.). Eine Fleischverkäuferin kann dabei zwischen 4 bis 8 US-Dollar am Tag verdienen, eine Tagelöhnerin 4 US-Dollar/Tag (BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 196).
1.2.3.
31
Der Kläger hat nach seinen übereinstimmenden und auch im Übrigen glaubhaften Angaben bislang kaum in Somalia gelebt, da er im Alter von drei Jahren zu seinem Onkel nach J. in Äthiopien gebracht worden war. Hintergrund hierzu war nach Aussage des Klägers der Umstand, dass der Kläger ein uneheliches Kind ist und ihn seine Mutter deswegen zu seinem Onkel nach Äthiopien brachte (vgl. 7 der Anhörungsniederschrift sowie S. 3 des Sitzungsprotokolls). Auch diese Angaben sind angesichts der Tatsache, dass uneheliche Kinder in Somalia als Schande angesehen werden und in einem solchen Fall sowohl das Kind als auch die Mutter dort deswegen stigmatisiert werden (vgl. BFA, LIS - Somalia, 27.7.2022, S. 147), nachvollziehbar. Bislang hat der Kläger nur rund ein Jahr (2014) in Somalia verbracht. Mit den Verhältnissen in Somalia ist der Kläger daher wenig vertraut, insbesondere hat er dort auch noch nie gearbeitet.
32
Zwar hat der Kläger in Äthiopien in einer Privatschule gelernt, Somalisch zu lesen und zu schreiben, eine besondere Schulbildung kann er allerdings nicht aufweisen. Auch kann der Kläger nach seinen glaubhaften Angaben auf kein tragfähiges familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk in Somalia zurückgreifen, das ihn in Somalia finanziell oder rein tatsächlich unterstützen könnte. Dementsprechend hat der Kläger die Kosten seiner Flucht nach Europa auch nicht bezahlt, sondern abgearbeitet. Auch dieser Umstand ist mit Blick auf eine Reisezeit von rund einem Jahr von Somalia bzw. Äthiopien bis in die Schweiz glaubhaft (vgl. hierzu die Angaben des Klägers in seiner Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrages am 6.2.2020, S. 2 sowie in seiner Anhörung gem. § 25 AsylG am 6.2.2020, S. 4).
33
Die Einschätzung, dass der Kläger in Somalia auf kein tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk zurückgreifen kann, wird auch nicht durch den Umstand in Frage gestellt, dass das Adressbuch des klägerischen Handys im Januar 2020 (vgl. Blatt 104 BA) 41 Kontakte nach Somalia aufwies. Denn der Kläger hat insoweit nachvollziehbar angegeben, dass diese Nummern vor allem auf F.-Bekanntschaften zurückgehen (vgl. S. 5 der Anhörungsniederschrift). Auch ist die Anzahl von 41 Kontakten nicht sehr groß und der Kläger hatte zu diesem Zeitpunkt selbst nach Äthiopien mehr Kontakte (53, nach Deutschland 63 und in der Schweiz 196), was das Vorbringen des Klägers eher untermauert als in Zweifel zieht. Zudem hatte der ganz überwiegende Teil der Nachrichten auf dem Handy des Klägers die Schweiz als Zielort (ca. 96 Prozent) bzw. die Nachrichten kamen von dort (ca. 95 Prozent, vgl. S. 105 BA). Ein reger bzw. enger Kontakt des Klägers nach Somalia ist auch insoweit nicht erkennbar. Darüber hinaus besagen Kontaktdaten nichts darüber aus, in welchem Verhältnis der Kläger zu den einzelnen Kontaktpersonen steht und wo diese im Einzelnen in Somalia leben. Dementsprechend hat auch das Bundesamt die Angaben des Klägers, insbesondere auch zu seiner ungeklärten Clanidentität, nicht als unglaubhaft eingestuft, sondern in seiner Entscheidung im streitgegenständlichen Bescheid vom 10. März 2022 zentral auf M. als interne Fluchtalternative für den Kläger abgestellt (vgl. hierzu S. 5 und insbesondere S. 6, vierter Absatz des Bescheids).
1.2.4.
34
Unter Berücksichtigung dieser besonderen persönlichen Umstände des Klägers und der aktuell äußerst prekären humanitären Lage in Somalia ist das Gericht der Überzeugung, dass es dem Kläger, selbst wenn man hinsichtlich der insoweit anzustellenden Rückkehrprognose auf ihn alleine und nicht auf seine Familie hier in Deutschland samt zweier Kleinkinder abstellt (vgl. zur Rückkehrprognose zu § 60 Abs. 5 AufenthG beim Familienverband im Bundesgebiet BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris), in Somalia derzeit (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht gelingt, seinen existenziellen Lebensunterhalt zu sichern und innerhalb kürzester Zeit der Verelendung anheimfallen würde.
35
Denn weder nach M. noch nach B., wo der Kläger für lediglich rund ein Jahr lebte, hat der Kläger verwandtschaftliche oder clanmäßige Beziehungen. Der Kläger wäre in Somalia zur Überzeugung des Gerichts vielmehr auf sich alleine gestellt und dies, obwohl er bisher fast nur im Ausland gelebt hat und daher damit mit den somalischen Verhältnissen kaum vertraut ist. Erschwerend kommt die durch anhaltende Dürreperioden aktuell äußert prekäre humanitäre Lage in Somalia hinzu, die durch die Folgen des UkraineKrieges und den damit verbundenen Preissteigerungen, die die Lebenshaltungskosten in Somalia noch weiter in die Höhe getrieben haben, zusätzlich verschärft wird (vgl. hierzu etwa UN OCHA, Somalia, Situation Report, 18.10.2022, S. 4).
36
Zwar geht das Bundesamt in seinem ablehnenden Bescheid vom 10. März 2022 davon aus, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Somalia ein Leben am Rande des Existenzminimums gelingen würde und stellt dabei zentral auf M. als interne Fluchtalternative für den Kläger ab (vgl. Bescheid S. 6 und 8 f.). Aber die Lage hat sich seit Bescheiderlass auch in M. deutlich verschlechtert. Nach den übereinstimmenden Einschätzungen von UNHCR und EUAA kommt selbst M. als interne Fluchtalternative nur noch in Ausnahmefällen in Betracht, etwa wenn der Betroffene keiner vulnerablen Gruppe zuzuordnen ist und über ausreichend finanzielle Mittel oder clanmäßigen oder familiären Anschluss vor Ort verfügt (vgl. UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing Somalia 9/2022; S. 132; EUAA, Country Guidance: Somalia, 6/2022, S. 203). All dies ist beim Kläger gerade nicht der Fall.
37
Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger sein Existenzminimum aktuell in B. sichern könnte, wo er sich im Jahr 2014 bereits für rund ein Jahr aufgehalten hat, sind ebenfalls nicht ersichtlich, zumal die Arbeitsmöglichkeiten dort schlechter sind und sich die humanitäre Lage dort derzeit noch gravierender darstellt als in M. (vgl. hierzu etwa UN OCHA, Somalia, Situation Report, 18.10.2022, S. 1). Unter Berücksichtigung dieser Gesamtumstände ist das Gericht der Überzeugung, dass es dem Kläger in Somalia derzeit nicht möglich wäre, seinen existenziellen Lebensunterhalt zu sichern und innerhalb kürzester Zeit der Verelendung anheimfallen würde.
38
Dies gilt selbst dann, wenn der Kläger im Falle seiner Rückkehr tatsächlich auf Rückkehrhilfen zugreifen könnten (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/ countries/somalia/, zuletzt abgerufen am 20.12.2022). Denn bei der aktuellen humanitären Lage in Somalia, die sich nach derzeitigem Erkenntnisstand jedenfalls in Teilen des Landes noch weiter verschlimmern könnte (UN OCHA, Somalia, Situation Report, 18.10.2022, S. 1 ff.), und der besonderen, oben dargestellten besonderen persönlichen Umstände ist davon auszugehen, dass dem Kläger jedenfalls in kürzester Zeit nach Verbrauch der Rückkehrhilfen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verelendung droht (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 21.4.2022, 1 C 10.21 - juris Leitsatz 2).
39
Die Beklagte war dementsprechend unter Aufhebung der Ziffer 4 des Bescheids des Bundesamts vom 10. März 2022 zu verpflichten, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK festzustellen.
2.
40
In der Folge dessen sind auch die Abschiebungsandrohung unter Ziffer 5 sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids aufzuheben, da deren Voraussetzungen (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG sowie § 75 Nr. 12 AufenthG) aufgrund des Anspruchs des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vorliegen.
3.
41
Die Kostenentscheidung des gerichtskostenfreien Verfahrens (vgl. § 83b AsylG) ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Regelung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff. ZPO.