Titel:
Scheinehe zur Begründung eines Rechts auf Aufenthalt
Normenkette:
FreizügG/EU § 2 Abs. 7
Leitsätze:
1. Scheinehen sind Ehen, die lediglich zum Zweck der Inanspruchnahme des Freizügigkeitsrechts geschlossen wurden. Anhaltspunkte für eine Scheinehe können ua widersprüchliche Angaben des Paares über wichtige, sie betreffende Umstände sein. Auch das Fehlen einer gemeinsamen Sprache kann einen entsprechenden Anhaltspunkt bieten. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Ermessen nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU stellt einen Fall intendierten Ermessens dar, sodass die Ausländerbehörde nur in besonderen Ausnahmefällen von der Feststellung des Nichtbestehens des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU absehen darf. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Scheinehe, Freizügigkeitsrecht, eheliche Lebensgemeinschaft, intendiertes Ermessen
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 10.01.2023 – 10 ZB 22.1550
Fundstelle:
BeckRS 2022, 40256
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Nichtbestehens des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) und begehrt die Erteilung einer Aufenthaltskarte für EU-Familienangehörige.
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Der am ... 1985 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste am 4. Juli 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag, der mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. Mai 2017 vollumfänglich abgelehnt wurde. Der Bescheid ist bestandskräftig.
3
Mit Schreiben vom 13. Juli 2020 beantragte der Kläger bei der zuständigen Ausländerbehörde die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG bzw. einer Duldung zum Zweck der Eheschließung. Am 31. Juli 2020 wurde dem Kläger für den beantragten Zweck eine Duldung erteilt mit Gültigkeit bis zum 12. November 2020.
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Am ... 2020 schloss der Kläger die Ehe mit einer am ... geborenen bulgarischen Staatsangehörigen, die im Bundesgebiet lebt.
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Mit Schreiben vom 6. November 2020 beantragte der Kläger bei der zuständigen Ausländerbehörde die Erteilung einer Aufenthaltskarte für EU-Familienangehörige nach dem FreizügG/EU zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft. Hilfsweise wurde beantragt, dem Kläger bis zur Erteilung der Aufenthaltskarte eine Antragsbescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU auszustellen und die Erwerbstätigkeit zu gestatten.
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Am 3. Dezember 2020 ging bei der Ausländerbehörde ein Schreiben der Polizeiinspektion ... ein, wonach ein Zeuge am 17. September 2020 der Polizei telefonisch mitgeteilt habe, zwei seiner Bekannten wollten eine Scheinehe mit bulgarischen Staatsangehörigen eingehen bzw. seien sie bereits eingegangen. Bei einer Befragung durch die Polizei am 12. Oktober 2020 habe der Zeuge diese Angaben bestätigt und ausgeführt, der Kläger habe in seiner Anwesenheit mit einer Person aus ... telefoniert, die Scheinehen mit bulgarischen Staatsangehörigen organisiere.
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Mit Schreiben vom 5. Januar 2021 teilte die Ausländerbehörde dem Kläger mit, dass sich der Verdacht einer Scheinehe inzwischen bestätigt habe, weshalb eine kostenpflichtige Ablehnung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltskarte für EU-Familienangehörige sowie der Erlass einer Abschiebungsandrohung beabsichtigt seien.
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Der Kläger äußerte sich mit Schreiben vom 22. Januar 2021 und führte im Wesentlichen aus, der Verdacht einer Scheinehe sei nicht begründet. Die Zeugenaussage stamme offenkundig von einer enttäuschten Freundin, die schon lange Zeit vor der Eheschließung keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt habe und ihm schaden wolle.
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Am 18. Februar 2021 fand eine getrennte Befragung des Klägers und seiner Ehefrau bei der Ausländerbehörde statt.
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Mit Bescheid vom 16. März 2021 stellte das Landratsamt ... das Nichtbestehen des Rechts des Klägers nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU fest und lehnte seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltskarte für EU-Familienangehörige vom 6. November 2020 ab (Ziffer 1). Der Kläger wurde aufgefordert, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Zustellung des Bescheids zu verlassen (Ziffer 2). In Ziffer 3 wurde dem Kläger die Abschiebung in die Türkei angedroht und in Ziffer 4 das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Zur Begründung wird ausgeführt, das Nichtbestehen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU könne festgestellt werden, wenn feststehe, dass die betreffende Person das Vorliegen einer Voraussetzung für dieses Recht durch die Verwendung gefälschter oder verfälschter Dokumente oder Vorspiegelung falscher Tatsachen vorgetäuscht habe. Das Nichtbestehen eines Rechts nach Absatz 1 könne bei einem Familienangehörigen, der nicht Unionsbürger sei, außerdem festgestellt werden, wenn feststehe, dass er dem Unionsbürger nicht zur Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft nachziehe oder ihn nicht zu diesem Zweck begleite. Einem Familienangehörigen, der nicht Unionsbürger sei, könne in diesen Fällen die Erteilung der Aufenthaltskarte oder des Visums versagt oder seine Aufenthaltskarte eingezogen werden. Die Vorschrift umfasse solche Fälle, in denen das Freizügigkeitsrecht missbräuchlich erlangt werden solle. Hierzu zählten unter anderem Scheinehen. Dem Landratsamt lägen Tatsachen bzw. Beweise vor, die belegten, dass der Kläger die Ehe mit seiner Frau nicht zum Zweck der Herstellung einer familiären Lebensgemeinschaft geschlossen habe, sondern vielmehr, um ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu erhalten. Der Kläger sei seit dem ... 2020 wirksam mit seiner bulgarischen Ehefrau verheiratet. Folglich sei er Familienangehöriger einer Unionsbürgerin. Der Ausländerbehörde lägen Zeugenaussagen eines Bekannten des Klägers vor, der gegenüber der Polizei versichert habe, dass der Kläger bereits im Jahr 2019 versucht habe, über eine Vermittlung in ... eine bulgarische Ehefrau zu finden mit dem Ziel, ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu erlangen. Zur abschließenden Prüfung, ob zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau tatsächlich eine familiäre Lebensgemeinschaft beabsichtigt sei, sei am 18. Februar 2021 eine getrennte Ehegattenbefragung bei der Ausländerbehörde durchgeführt worden. Die Antworten der beiden Personen auf dieselben Fragen seien größtenteils nicht übereinstimmend gewesen. Sofern die tatsächliche Herstellung einer familiären Lebensgemeinschaft beabsichtigt sei, könne fest davon ausgegangen werden, dass Fragen über das Kennenlernen, die Vorbereitung der Eheschließung bzw. Feier danach und über das familiäre Umfeld des jeweiligen Partners bis auf kleinere Abweichungen übereinstimmend beantwortet werden könnten. Jedoch würden sich fast alle Antworten der Ehepartner, insbesondere in Bezug auf das Kennenlernen, so grundlegend unterscheiden, dass eine eheliche Lebensgemeinschaft offensichtlich nicht beabsichtigt sei. Vielmehr ergebe sich aufgrund der widersprüchlichen Angaben der begründete Verdacht, dass die Ehe vermittelt worden sei. Gerade angesichts der frischen Beziehung, die erst im Jahr 2019 eingegangen worden sei, könne von den Partnern grundsätzlich erwartet werden, dass diese den Zeitpunkt und die Umstände des Kennenlernens und des Heiratsantrags sowie den Ablauf der Hochzeitsfeier noch wüssten. Zu erwähnen sei auch, dass die Eheleute nach eigenen Aussagen keine gemeinsame Sprache sprächen. Laut eigenen Angaben erfolge die Konversation vorwiegend über den Google-Übersetzer. Zweifel an der Schutzwürdigkeit der Ehe ergäben sich auch aufgrund des Asylhintergrunds des Klägers. Die Eheschließung sei erst nach rechtskräftiger Ablehnung des Asylantrags erfolgt, als dem Kläger bereits klar gewesen sei, dass er Deutschland verlassen müsse. Die angeordnete Maßnahme sei erforderlich, um einen Missbrauch des Freizügigkeitsgesetzes durch Betrug, zum Beispiel mittels der Schließung von Scheinehen, zu unterbinden. Die Maßnahme sei verhältnismäßig. Der Kläger spreche die türkische Sprache und sei mit der Kultur seines Heimatlandes vertraut. Des Weiteren befinde sich der Großteil seiner Familie in der Türkei. Es bestünden folglich familiäre Bindungen in seinem Heimatland. Bei seiner Ausreise würde der Kläger demnach nicht in die Obdachlosigkeit fallen. Mit wirksamer Bekanntgabe der Feststellung des Nichtbestehens oder Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt sei der Betroffene nach § 7 Abs. 1 FreizügG/EU ausreisepflichtig. Deshalb sei die Abschiebung unter Bestimmung einer Ausreisefrist anzuordnen gewesen. Die festgesetzte Ausreisefrist erscheine in Anbetracht der bisherigen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet als angemessen. Abschiebungshindernisse seien nicht erkennbar. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 30 Monaten sei unter Berücksichtigung des konkreten Einzelfalls angemessen.
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Für weitere Einzelheiten wird auf den Inhalt des Bescheids vom 16. März 2021 Bezug genommen.
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Gegen den Bescheid erhob der Kläger am 14. April 2021 Klage. Die geringfügigen Abweichungen bei der Befragung der Ehegatten begründeten keine ernstlichen Zweifel an dem Bestehen einer schutzwürdigen Ehe. Die Eheleute hätten jeweils detaillierte Angaben zu den nächsten Verwandten und dem Kennenlernen gemacht. Etwaige Abweichungen resultierten aus den Missverständnissen und Übersetzungsfehlern der von den Eheleuten mitgebrachten Übersetzerin, da diese die Fragen sowohl in die türkische als auch in die bulgarische Sprache habe übersetzen müssen und der türkischen Sprache nicht vollständig mächtig gewesen sei. Zudem spiele es keine Rolle, ob Personen, die ein Freizügigkeitsrecht geltend machen, in häuslicher Gemeinschaft zusammenlebten. Die Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts und die Versagung der Erteilung einer Aufenthaltskarte für EU-Familienangehörige seien ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig.
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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 16. März 2021 zu verpflichten, dem Kläger eine Aufenthaltskarte für EU-Familienangehörige gemäß §§ 3, 5 FreizügG/EU zu erteilen, hilfsweise dem Kläger eine Antragsbescheinigung gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU auszustellen und die Erwerbstätigkeit zu gestatten.
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Der Beklagte beantragt,
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Mit Beschluss vom 12. August 2021 lehnte das Gericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mangels hinreichender Erfolgsaussichten der Klage ab.
19
Mit Schreiben vom 18. Februar 2022 teilte der Beklagte dem Gericht mit, der Kläger sei mit Datum 3. Februar 2022 als unbekannt verzogen abgemeldet worden. Dem aktuellen Auszug aus dem Ausländerzentralregister ist zu entnehmen, dass für den Kläger am 4. März 2022 die Meldung „Zuzug von unbekannt, am 22. Februar 2022“ eingetragen wurde. Als Adresse wird die bisherige Adresse genannt.
20
Mit Schriftsatz vom 21. April 2022 trug der Bevollmächtigte des Klägers ergänzend vor, dessen Ehefrau sei im 5. Monat schwanger, was durch Vorlage einer Kopie des Mutterpasses belegt werden könne. Der angekündigte Nachweis erfolgte allerdings nicht.
21
Am 3. Mai 2022 fand mündliche Verhandlung statt. Auf das dabei gefertigte Sitzungsprotokoll wird ergänzend ebenso Bezug genommen wie auf die Gerichtsakte und die vom Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte gemäß § 102 Abs. 2 VwGO trotz Ausbleibens des Klägers und seines Bevollmächtigten verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäß zugestellten Ladung auf diese Folge des Nichterscheinens hingewiesen wurde.
23
Gegenstand der Klage ist die Verpflichtung des Beklagten zur Ausstellung einer Aufenthaltskarte für EU-Familienangehörige bzw. einer entsprechenden Antragsbescheinigung. Daneben wendet sich der Kläger gegen die Androhung seiner Abschiebung in die Türkei sowie die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots.
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Die Klage ist zulässig. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger derzeit über eine ladungsfähige Anschrift verfügt. Ausweislich des aktuellen Auszugs aus dem Ausländerzentralregister ist der am 4. Februar 2022 erfolgte Eintrag eines Fortzugs nach unbekannt seit dem 22. Februar 2022 durch die Eintragung eines Zuzugs des Klägers an die bisherige Adresse überholt.
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Die zulässige Klage ist unbegründet, da der Bescheid des Beklagten vom 16. März 2021 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt. Er hat keinen Anspruch auf die Ausstellung einer Aufenthaltskarte als Ehemann einer freizügigkeitsberechtigten EU-Bürgerin oder einer entsprechenden Antragsbescheinigung (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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1. Die Feststellung des Nichtbestehens des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids ist rechtmäßig.
27
a) Nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet. Das Nichtbestehen dieses Rechts kann gemäß § 2 Abs. 7 Satz 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn feststeht, dass die betreffende Person das Vorliegen einer Voraussetzung für dieses Recht durch die Verwendung von gefälschten oder verfälschten Dokumenten oder durch Vorspiegelung falscher Tatsachen vorgetäuscht hat. Gemäß § 2 Abs. 7 Satz 2 FreizügG/EU kann das Nichtbestehen eines Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU bei einem Familienangehörigen, der nicht Unionsbürger ist, außerdem festgestellt werden, wenn feststeht, dass er dem Unionsbürger nicht zur Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft nachzieht oder ihn nicht zu diesem Zweck begleitet.
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Die Vorschrift des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU dient der Umsetzung von Art. 35 der RL 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie - UnionsRL). Danach können die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um das Freizügigkeitsrecht im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug - wie z.B. durch Eingehung von Scheinehen - verweigern oder entziehen zu können (BR-Drs. 461/12 S. 12; Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 2 FreizügG/EU Rn. 165). Scheinehen werden in der Kommissionsmitteilung für die Auslegung der UnionsRL als Ehen definiert, die lediglich zum Zweck der Inanspruchnahme des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts geschlossen wurden, auf das anderenfalls kein Anspruch bestanden hätte (vgl. Erwägungsgrund Ziffer 28 der UnionsRL; Hailbronner, AuslR, Stand: Mai 2021, § 2 FreizügG/EU Rn. 186; Hessischer VGH, U.v. 27.2.2018 - 6 A 2148/16 - juris Rn. 26). Anhaltspunkte für die missbräuchliche Berufung auf ein EU-Freizügigkeitsrecht durch Begründung einer Scheinehe können u.a. widersprüchliche Angaben des Paares über wichtige, das Paar betreffende Informationen sein. Auch das Fehlen einer gemeinsamen Sprache, die beide Partner verstehen, kann einen entsprechenden Anhaltspunkt bieten (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand: Mai 2021, § 2 FreizügG/EU Rn.189). Bei der Prüfung des Verdachts müssen alle Umstände des betreffenden Falles berücksichtigt werden.
29
b) Ausgehend von diesem Maßstab konnte vorliegend das Nichtbestehen des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet festgestellt werden. Nach Aktenlage hat der Kläger den Tatbestand des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU erfüllt.
Zunächst ist anzumerken, dass der Kläger und seine Ehefrau über keine gemeinsame Sprache verfügen und nach eigenen Angaben unter Zuhilfenahme des Google-Übersetzers in türkischer Sprache kommunizieren. Die Frau des Klägers spreche nach den Angaben des Klägers etwas Türkisch. Jedoch finde die Kommunikation wohnortbedingt vorwiegend über F.-Messenger statt, was die Verständigung der Ehegatten zusätzlich erschweren dürfte. Unter diesen Umständen erscheint es fraglich, auf welcher gemeinsamen Basis die eheliche Lebensgemeinschaft des Klägers und seiner Ehefrau gründet. Unabhängig davon liegt es aufgrund der in wesentlichen Punkten widersprüchlichen Angaben der Ehegatten im Rahmen der Ehegattenbefragung am 18. Februar 2021 auf der Hand, dass eine eheliche Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau weder besteht noch beabsichtigt ist. Insbesondere die Angaben bezüglich des Kennenlernens im Jahr 2019 und der Hochzeitsfeier im November 2020 weichen gravierend voneinander ab. Der Kläger gab an, seine künftige Ehefrau auf einer Hochzeitsfeier kennengelernt zu haben. Seine Frau erklärte jedoch, den Kläger erstmals zuhause bei ihrer Tante getroffen zu haben, als der Kläger den Mann der Tante besucht habe. Bezüglich der eigenen Hochzeitsfeier erklärte die Frau des Klägers, sie hätten nach der Eheschließung in ... Fotos gemacht, seien danach zu dem Onkel des Klägers in die Nähe von ... gefahren und hätten gemeinsam gegessen. Nach Angaben des Klägers hätten er, seine Ehefrau und zwei Trauzeugen nach der Eheschließung Fotos gemacht und gemeinsam im Auto gegessen. Seine Ehefrau hätte in ... übernachtet und sei am Tag nach der Eheschließung zurück nach ... gefahren. Damit stehen die Angaben des Klägers in einem deutlichen Widerspruch zu dem Vorbringen seiner Ehefrau. Insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es sich bei solchen Lebensereignissen in der Regel um besonders eindrückliche Momente handelt, die im vorliegenden Fall noch nicht lange zurückliegen, wäre zu erwarten gewesen, dass die Angaben der Ehegatten bis auf wenige kleine Details übereinstimmen. Insoweit überzeugt auch der Einwand des Bevollmächtigten des Klägers nicht, die Abweichungen beruhten auf Übersetzungsfehlern der von den Ehegatten mitgebrachten bulgarischen Übersetzerin, die der türkischen Sprache nicht mächtig gewesen sei. Aus den Befragungsprotokollen des Landratsamtes (Bl. 372 und 386 der Behördenakte) ist ersichtlich, dass bei der Befragung des Klägers und seiner Frau jeweils ein anderer Sprachmittler mitwirkte, da die Dolmetscherunterschriften offensichtlich nicht identisch sind. In der Gesamtschau sind die Anhaltpunkte für das Vorliegen einer Ehe, die nur zum Zwecke der Inanspruchnahme des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts geschlossen wurde, so gravierend, dass von einer Scheinehe ausgegangen werden muss.
Soweit der Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 21. April 2022 vortrug, die Ehefrau sei schwanger, wurde dies entgegen der Ankündigung bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht nachgewiesen. Selbst wenn es allerdings zuträfe, wäre dies nur ein Indiz für das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft, welches allerdings das erhebliche Gewicht der nach Aktenlage dagegensprechenden Umstände nur unwesentlich mindern kann. Wenn zuträfe, dass die Ehe tatsächlich geführt und sogar ein gemeinsames Kind erwartet würde, ist es gänzlich unverständlich, dass weder der Kläger noch seine als Zeugin geladene Ehefrau zur mündlichen Verhandlung erschienen sind, um die im streitgegenständlichen Bescheid sowie im ablehnenden Beschluss über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ausführlich dargestellten Unstimmigkeiten und Widersprüchlichkeiten aufzuklären. Die Ehefrau hat ihr Desinteresse an dem vorliegenden Verfahren und damit im Ergebnis am weiteren Verbleib ihres Ehemannes im Bundesgebiet darüber hinaus dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die ordnungsgemäß zugestellte Zeugenladung unkommentiert in den Bereich der Deutschen Post zurückgegeben wurde.
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c) Der Beklagte hat sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt (vgl. § 114 Satz 1 VwGO). Das Ermessen nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU stellt einen Fall intendierten Ermessens dar, sodass die Ausländerbehörde nur in besonderen Ausnahmefällen von der Feststellung des Nichtbestehens des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU absehen darf (Dienelt in Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 2 FreizügG/EU Rn. 174 m.w.N.). Außergewöhnliche Umstände, die vorliegend eine abweichende Entscheidung rechtfertigen könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
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2. Die auf der Grundlage des § 2 Abs. 7 Satz 3 FreizügG/EU erfolgte Ablehnung des Antrages auf Erteilung einer Aufenthaltskarte für EU-Familienangehörige ist ebenfalls nicht zu beanstanden, da ein Freizügigkeitsrecht des Klägers als Ehegatte einer EU-Bürgerin nicht besteht.
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3. Auch die in Ziffer 2 des Bescheids verfügte Ausreiseaufforderung sowie die Abschiebungsandrohung nach Ziffer 3 begegnen keinen rechtlichen Bedenken.
Die Ausreiseaufforderung findet ihre Grundlage in § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Sie ist ein unselbstständiger Teil der Abschiebungsandrohung (BVerwG, B.v. 20.1.1993 - 1 B 149/92 - juris Rn. 6; Hessischer VGH, B.v. 31.7.2019 - 7 B 1368/19 - juris Rn. 9). Rechtsgrundlage für die Abschiebungsandrohung ist § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU. Danach soll im Bescheid die Abschiebung angedroht werden. Die gesetzte Ausreisefrist von einem Monat entspricht der gesetzgeberischen Mindestfrist nach § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU. Die Frist ist auch angemessen, da kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich ist, dass der Kläger einen längeren Zeitraum zur Vorbereitung seiner Ausreise und der Regelung entsprechender Angelegenheiten benötigt.
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4. Das gegen den Kläger ausgesprochene Einreise- und Aufenthaltsverbot stützt der Beklagte ausweislich der Gründe des Bescheids auf § 7 Abs. 2 Sätze 2 und 3 FreizügG/EU. Zwar ist in Ziffer 4 des Bescheidstenors von einer Befristung des „gesetzlichen“ Einreise- und Aufenthaltsverbots die Rede. Den Gründen des Bescheids (S. 8) ist jedoch zu entnehmen, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens vom Beklagten angeordnet wurde. Die Formulierung im Tenor des Bescheids ist dabei unschädlich, da in einer behördlichen Befristungsentscheidung nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts regelmäßig der konstitutive Erlass eines befristeten Einreiseverbots gesehen werden kann (BVerwG, U.v. 27.7.2017 - 1 C 28.16 - juris Rn. 42; BVerwG, U.v. 21. 8.2018 - 1 C 21/17 - juris Rn. 25). Vor diesem Hintergrund sind Ermessensfehler nicht erkennbar und wurden vom Bevollmächtigten des Klägers auch nicht geltend gemacht.
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5. Schließlich bleibt die Klage auch im Hinblick auf den gestellten Hilfsantrag ohne Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Bescheinigung über die Einreichung eines Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte.
Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU ist dem Familienangehörigen eines Unionsbürgers unverzüglich eine Bescheinigung darüber auszustellen, dass die erforderlichen Angaben gemacht worden sind. Damit setzt die Ausstellung einer Bescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU nur voraus, dass ein Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers gestellt worden ist. Da diese Bescheinigung jedoch dem Nachweis eines rechtmäßigen Aufenthalts im Zeitraum zwischen der Antragstellung bzw. Anmeldung (§ 5 Abs. 2 Sätze 2 und 3 FreizügG/EU) und der Entscheidung über die Ausstellung einer Aufenthaltskarte dient (vgl. OVG NRW, B.v. 11.11.2020 - 18 B 544/19 - juris Rn. 3), kommt die Ausstellung einer Anmeldebescheinigung nach einer ablehnenden Entscheidung über die Ausstellung der EU-Aufenthaltskarte nicht mehr in Betracht.
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Die Kostenentscheidung basiert auf § 154 Abs. 1 VwGO. Als unterlegener Teil hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat seine Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff. ZPO.