Inhalt

AG Augsburg, Beschluss v. 07.11.2022 – 402 F 2355/22
Titel:

Vorläufige Entscheidungen zum Sorgerecht

Normenkette:
BGB § 1666, § 1666a, § 1671, § 1909
Leitsätze:
1. Nach Anhörung der im ersten Termin nicht erschienenen Kindesmutter verbleibt es bei der vorläufigen vollständigen Übertragung der elterlichen Sorge auf den Kindsvater, wenn sich die Lage weiterhin als instabil erweist; dann muss der Kindsvater auch bei einem Zwischenfall vollständig handlungsfähig bleiben. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ist das Vertrauensverhältnis zwischen Vater und Mutter nachhaltig gestört, sind dem allein sorgeberechtigten Vater die aus der Entscheidung ersichtlichen Teilbereiche der elterlichen Sorge zur Abwendung der bestehenden Gefahr für das Kind M. zu entziehen und die Organisation der Umgänge auf eine neutrale Person zu übertragen. (Rn. 36 – 37) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sorgerecht, einstweilige Anordnung, Ergänzungpflegschaft, Sorgerechtsentzug, Vertrauensverhältnis
Vorinstanz:
AG Augsburg, Beschluss vom 05.10.2022 – 402 F 2355/22
Rechtsmittelinstanzen:
OLG München, Beschluss vom 08.12.2022 – 4 UF 1160/22
BVerfG Karlsruhe, Beschluss vom 26.12.2022 – 1 BvR 2333/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 40219

Tenor

1. Der Beschluss vom 5.10.2022 wird in Ziffer 1 wie folgt geändert:
Die elterliche Sorge für das gemeinsame minderjährige Kind M., wird vorläufig dem Kindsvater übertragen.
2. Dem allein sorgeberechtigten Vater wird das Recht zur Regelung des Umgangs des Kindes M. zur Kindsmutter vorläufig entzogen.
3. Soweit die Rechte dem Vater entzogen wurden, wird die Ergänzungspflegschaft angeordnet und die entzogenen Rechte übertragen auf Frau S.
Die Ergänzungspflegschaft wird berufsmäßig geführt.
4. Von der Erhebung der Gerichtskosten des Verfahrens wird abgesehen. Die weiteren außergerichtlichen Kosten werden nicht erstattet.

Gründe

1
Wegen des der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalts wird bezüglich Ziffer 1 auf die Gründe aus dem Beschluss vom 5.10.2022 Bezug genommen.
Im Termin vom 4.11.2022 stellte sich der weitere Sachverhalt wie folgt dar:
2
Nach Erlass des Beschlusses wurde das Gericht telefonisch vom Standesamt E. vom Geburtsdatum des Kindes in Kenntnis gesetzt, so dass der Beschluss vom 5.10.2022 mit Beschluss vom 12.10.2022 ergänzt werden konnte.
3
Mit Schriftsatz vom 7.10.2022 wurde von der bisherigen Verfahrensbevollmächtigten der Mutter das Mandat niedergelegt.
4
Mit Schriftsatz vom 12.10.2022 legte die Kindsmutter Beschwerde ein, gerichtet an das OLG M., von dem der Schriftsatz an das Amtsgericht zugeleitet wurde.
5
Mit Verfügung vom 13.10.2022 wurde Termin bestimmt auf 4.11.2022.
6
Mit Schriftsatz vom 24.10.2022 wurde erneut von der Kindsmutter Beschwerde eingelegt.
7
Mit Schriftsatz vom 2.11.2022 wurde vom gegenwärtigen Verfahrensbevollmächtigten der Kindsmutter beantragt den Beschluss vom 5.10.2022 aufzuheben und die elterliche Sorge hilfsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf die Kindsmutter zu übertragen.
8
Die Kindsmutter habe sich am 6.10.2022 in ein anerkanntes Mutter-Kind-Heim, die … begeben. Das Kind sei krankenversichert und die Kinderuntersuchungen hätten planmäßig stattgefunden. Auf Kontaktaufnahmen der Kindsmutter hätte das Jugendamt nicht reagiert.
9
Am 28.10.2022 wurde das Kind dem Kindsvater übergeben, nachdem es am 27.10.2022 in K. in Obhut genommen worden war.
10
Der Kindsvater beantragt Antragsabweisung unter Aufrechterhaltung des Beschlusses vom 5.10.2022.
11
Der Kindsvater befürchtet, dass die Kindsmutter nicht nur mit dem zweiten Kind B., sondern auch mit der Tochter M.-C. wieder untertauchen werde.
12
Der Kindsvater befindet sich mit dem Kind in einer Jugendhilfeeinrichtung und betreut und versorgt es.
13
Die Beteiligten wurden im Termin vom 4.11.2022 persönlich angehört. Nicht angehört bzw. angesehen wurde das Kind.
14
Hinsichtlich der weiteren Entscheidungsgründe wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die Sitzungsniederschrift vom 4.11.2022 und die übrigen Aktenbestandteile.
15
Es verbleibt bei der vorläufigen Übertragung der gesamten elterlichen Sorge auf den Kindsvater gemäß § 1671 BGB.
16
Der Verfahrensgegenstand des Verfahrens ist die elterliche Sorge. Auch die Eröffnung des Verfahrens aufgrund Anregung des Jugendamts nach § 8 a SGB VIII erlaubt dem Gericht jede sorgerechtliche Maßnahme nach §§ 1666, 1666 a, 1680 Abs. 3, 1671, 1697a BGB. Da der Kindsvater im Termin vom 5.10.2022 in Anwesenheit der Verfahrensbevollmächtigten der Kindsmutter den Antrag auf Übertragung stellte, das Gericht gegenüber dem Kindsvater keinen Grund zum Entzug oder Teilentzug erkennen konnte, § 1671 Abs. 4 BGB, erging die Entscheidung nach § 1671 BGB.
17
Die Kindsmutter hat bis zur Inobhutnahme des Kindes am 27.10.2022 den Aufenthaltsort des Kindes nicht nur gegenüber dem ab Geburt grundsätzlich mit sorgeberechtigten Kindsvater, sondern auch gegenüber sämtlichen anderen Beteiligten verschwiegen.
18
Es ist weder aus dem Verlauf des Verfahrens noch aus den Stellungnahmen der Beteiligten erkennbar, dass es zu einer „Hetzjagd“ gegenüber der Kindsmutter gekommen sei, die es gerechtfertigt habe die Informationen zurückzuhalten.
19
Das tatsächliche Geburtsdatum, der 13 Tage vor dem Termin am …war, wurde selbst an diesem Verhandlungstag nicht offenbart und auch nicht der gegenwärtige Aufenthaltsort des Kindes. Obwohl das persönliche Erscheinen der Kindsmutter angeordnet worden war und diese sich am 22.9.2022 selbst aus der Klinik entlassen hatte, erschien diese unentschuldigt nicht. Das Gericht hatte kein Ordnungsgeld verhängt, da zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt war, ob nicht gerade die Geburt stattfindet. Bis heute wurde die Verhinderung nicht durch Attest entschuldigt.
20
Da der Beschluss vom 5.10.2022 ohne vorherige persönliche Anhörung der Kindsmutter ergangen war, war auch die Beschwerde nicht vorgelegt, sondern Termin zur persönlichen Anhörung der Kindsmutter bestimmt worden.
21
Entgegen den Angaben der Kindsmutter hielt sich diese nach Recherche des Gerichts auch nicht in einem anerkannten Mutter-Kind-Heim auf. Der Schriftsatz der benannten Zeugin W. erfolgte nicht auf einem offiziellen Briefkopf des Jugenhilfeträgers. Im Internet wird …als Erziehungsstelle ausgewiesen, in der Kinder oder Jugendliche von 2 bis 14 Jahren aufgenommen werden können.
22
Die Inobhutnahme des Kindes am 27.10.022 durch Polizeieinsatz hat dazu geführt, dass dieser Vorfall der Presse mitgeteilt wurde und auch am 4.11.2022 vor dem Gerichtsgebäude Presse anwesend war. Die Befürchtung des Kindsvaters daher u.U. bei unkontrolliertem Zusammentreffen Gegenstand öffentlicher Berichterstattung zu werden ist nachvollziehbar.
23
Ebenso nachvollziehbar ist die Befürchtung des Kindsvaters, dass die Kindsmutter - entgegen ihren Zusagen - bei unbegleiteten Umgängen mit dem Kind (wieder) abtaucht.
24
In einer Entscheidung des vorläufigen Rechtsschutzes AZ 4 UF 446/11 hat das OLG M. ausgeführt: „Wenn aber der Antragsgegner als Vater des Kindes das Kind der Mutter widerrechtlich vorenthält, so bestehen nach jetzigem Stand in dem summarischen Verfahren der einstweiligen Anordnung genügend Anhaltspunkte, dass die Erziehungsfähigkeit des Vaters im gravierenden Umfang eingeschränkt ist.“
25
Maßgeblich entscheidend sind insbesondere die im bisher kurzen Leben des Kindes Benedikt gezeigten Erziehungskompetenzen der Eltern. Der Kindsvater war bei sämtlichen Terminen anwesend und zeigte sich in der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt in jeder Hinsicht kooperativ. Er hatte aufgrund des verfahrenseinleitenden Berichts des Jugendamts vom 30.8.2022 die gleiche Ausgangslage wie die Kindsmutter gehabt. Im Bericht fehlt jeder Hinweis darauf, dass das Jugendamt den Kindsvater für erziehungsgeeignet hält. Wie auch im Termin vom 4.11.2022 wiederholt, zielte die Anregung des Jugendamts nicht auf Herausnahme des Kindes, sondern auf Annahme von Jugendhilfemaßnahmen durch die Mutter.
26
Dass die Kindseltern Hilfe in der Erziehung benötigen zeigte sich im Verfahren 402 F 547/22 in dem am 25.4.2022 beschlossen wurde: Den sorgeberechtigten Eltern wird das Recht zur Aufenthaltsbestimmung, das Recht zur Gesundheitsfürsorge, das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen nach §§ 27 ff. SGB VIII und das Recht zur Regelung des Umgangs für das Kind M.-C., vorläufig entzogen.
27
In den Schriftsätzen der Verfahrensbevollmächtigten der Mutter wird jede Möglichkeit eines Hilfebedarfs abgestritten und die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt verweigert, ausdrücklich auch von Rechtsanwältin A. im Termin vom 4.10.2022.
28
Nach den Grundsätzen von Kontinuität, Förderung, Wille des Kindes und Bindung kann bei einem eineinhalb Monat alten Säugling schwerlich entschieden werden.
29
Es verbleibt daher bei der vollständigen Übertragung der elterlichen Sorge auf den Kindsvater. In der derzeit noch instabilen Lage muss der Kindsvater auch bei einem Zwischenfall vollständig handlungsfähig bleiben. Eine abweichende Entscheidung in der Hauptsache bleibt vorbehalten.
30
Im Parallelverfahren 402 F 866/22 bezüglich der ersten Tochter M.-C. wird ein familienpsychologisches Gutachten eingeholt, das in den nächsten Wochen fertig gestellt wird.
31
Bezüglich dem Kind B. haben sich die Beteiligten im Termin vom 4.11.2022 einverstanden erklärt, auch insoweit ein Gutachten einzuholen.
32
In beiden Gutachten ist insbesondere die Erziehungsfähigkeit beider Eltern zu überprüfen.
33
Vollständig getrennt davon ist zu sehen das Umgangsrecht der Kindsmutter mit dem Säugling.
34
Im Termin vom 4.11.2022 musste festgestellt werden, dass seit der Inobhutnahme am 27.10.2022 die Kindsmutter weder Kontakt mit dem Kind hatte noch wusste wo es sich befindet. Die Kindsmutter hatte das Kind bis zu diesem Zeitpunkt gestillt.
35
Nach deutlichem Hinweis des Gerichts wurde mittlerweile organisiert, dass die Kindsmutter seit 5.11.2022 jeden Tag Umgang hat und auch wieder stillen kann.
36
Da das Vertrauensverhältnis zwischen Vater und Mutter aber nachhaltig gestört ist, ist die Organisation dieser Umgänge auf eine neutrale Person zu übertragen.
37
Dem allein sorgeberechtigten Vater sind daher die aus der Entscheidung ersichtlichen Teilbereiche der elterlichen Sorge zur Abwendung der bestehenden Gefahr für das Kind M. zu entziehen, §§ 1666, 1666a BGB.
38
Ob die vorläufige Maßnahme als endgültige Maßnahme bestätigt wird, richtet sich nach den weiteren Ermittlungen.
39
Eine persönliche Anhörung bzw. Inaugenscheinnahme des Kindes, § 159 FamFG, erfolgte nicht. Aufgrund des Verfahrensverlaufs und der Beunruhigung des Säuglings durch die gesamten Vorfälle steht eine gerichtliche Inaugenscheinnahme und die dadurch hervorgerufene Aufregung außer Verhältnis zum Erkenntnisgewinn.
40
Die Anordnung der Ergänzungspflegschaft beruht auf § 1909 BGB.
41
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 51 Abs. 4, 81 Abs. 1 Satz 1 und 2 FamFG. Für die Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung gelten die allgemeinen Vorschriften.