Inhalt

OLG München, Beschluss v. 08.12.2022 – 4 UF 1160/22
Titel:

Vorläufige Übertragung des Sorgerechts für einen Säugling auf den Kindesvater

Normenketten:
BGB § 1671
FamFG § § 49 Abs. 1
Leitsätze:
1. Der Erlass einer dahingehenden einstweiligen Anordnung setzt ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden voraus und erfordert eine Gesamtabwägung unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren.  (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Abänderung einer einstweiligen Anordnung des Amtsgerichts, die zu einem wiederholten Aufenthaltswechsel eines Kindes führt, entspricht in der Regel nicht dem Kindeswohl.  (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
einstweilige Anordnung, Kindeswohlgefährdung, Sorgerecht, Abwägung, Kindeswohl, dringendes Bedürfnis, Säugling, Stillen, Eltern-Kind-Einrichtung
Vorinstanzen:
AG Augsburg, Beschluss vom 07.11.2022 – 402 F 2355/22
AG Augsburg, Beschluss vom 05.10.2022 – 402 F 2355/22
Rechtsmittelinstanz:
BVerfG Karlsruhe, Beschluss vom 26.12.2022 – 1 BvR 2333/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 40218

Tenor

1. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Augsburg vom 07.11.2022 wird zurückgewiesen.
2. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
3. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.000 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Das Verfahren betrifft die elterliche Sorge für das gemeinsame minderjährige Kind … geboren am …. Für ein weiteres (Geschwister-) Kind ist unter 402 F 866/22 Amtsgericht – Familiengericht – Augsburg, dessen Akten der Senat beizog, ein Hauptsacheverfahren anhängig, in dem ein familien-psychologisches Sachverständigengutachten erholt wurde.
2
Das Amtsgericht übertrug mit Beschluss vom 05.10.2022, ergänzt durch Beschluss vom 12.10.2022, die elterliche Sorge für das hier betroffene Kind im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig dem Kindsvater, nachdem die Antragsgegnerin zu einem vom Amtsgericht anberaumten Anhörungstermin, der nach Anregung des Jugendamtes wegen einer (möglichen) Kindeswohlgefährdung bestimmt worden war, nicht erschienen und deren und der Aufenthalt des Kindes nicht mitgeteilt worden war, die Kindesmutter dem Kindsvater damit das Kind vorenthalte und weder überprüft werden könne, in welchem Zustand sich die Kindesmutter noch das Kind befänden.
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Mit Beschluss vom gleichen Tage bestellte das Amtsgericht dem Kind einen Verfahrensbeistand.
4
Das Kind wurde vom Jugendamt … in Obhut genommen, als dessen und der Aufenthalt der Antragsgegnerin bekannt geworden war.
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Nach Anhörung der Antragsgegnerin änderte das Amtsgericht mit Beschluss vom 07.11.2022 den Beschluss vom 05.10.2022 dahin, dass die elterliche Sorge für das Kind vorläufig dem Kindesvater übertragen werde, diesem aber das Recht zur Regelung des Umgangs des Kindes zur Kindesmutter vorläufig entzogen, Ergänzungspflegschaft angeordnet und die entzogenen Rechte auf eine Ergänzungspflegerin übertragen wurde.
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Dabei hielt das Amtsgericht dafür, dass die Befürchtung des Kindsvaters, der sich in jeder Hinsicht in der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt kooperativ zeigte, während die Mutter jede Möglichkeit eines Hilfebedarfs abgestritten hatte, diese werde bei unbegleiteten Umgängen mit dem Kind wieder abtauchen, nachvollziehbar sei. Dass die Kindeseltern Hilfe in der Erziehung benötigten, habe sich in einem (einstweiligen Anordnungs-) Verfahren, das das Amtsgericht unter 402 F 547/22 geführt habe und in welchem den sorgeberechtigten Eltern mit Beschluss vom 25.04.2022 das Recht zur Aufenthaltsbestimmung, das Recht zur Gesundheitsfürsorge, das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen nach §§ 27 ff. SGB VIII und das Recht zur Regelung des Umgangs für das (Geschwister-) Kind vorläufig entzogen worden sei, gezeigt.
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Getrennt davon, dass der Kindesvater in der derzeit noch instabilen Lage auch bei einem Zwischenfall vollständig handlungsfähig bleiben müsse, sei das Umgangsrecht der Kindesmutter mit dem Säugling zu sehen. Da das Vertrauensverhältnis zwischen Vater und Mutter nachhaltig gestört sei, sei die Organisation dieser Umgänge auf eine neutrale Person zu übertragen. Dem (nunmehr) allein sorgeberechtigten Vater sei deshalb die elterliche Sorge insoweit zu entziehen.
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Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin, mit der sie sich auf ihre und die Grundrechte des betroffenen Säuglings auf Fürsorge durch seine Mutter sowie die originären Grundbedürfnisse eines Babys, das auf seine Mutter angewiesen sei, beruft. Insbesondere beinhalte das Elternrecht eine Schutzpflicht des Staates, Belastungen von Müttern während ihrer Schwangerschaft, der Geburt oder der Stillzeit zu unterbinden. Die Antragsgegnerin habe sich (unmittelbar nach der Geburt des Kindes und auch vor dessen Inobhutname) mit dem Jugendamt in Verbindung zu setzen versucht, ohne dass dieses darauf hin Kontakt mit ihr aufgenommen habe. Die angefochtene Entscheidung des Amtsgerichts, die mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht in Einklang stehe, vermittele den Eindruck, dass sie stark vom Gedanken der Sanktionierung der Kindesmutter beeinflusst sei. Der Säugling gehöre in die Obhut seiner Mutter. Diese sei bereit, Hilfe anzunehmen und habe dies auch im Vorfeld nicht abgelehnt, sondern lediglich ein Gespräch mit dem Jugendamt gewollt, worauf das Jugendamt nicht eingegangen sei.
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Die Antragsgegnerin möchte erreichen, dass die angefochtene Entscheidung des Amtsgerichts aufgehoben und ihr die elterliche Sorge, hilfsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig übertragen, darüber hinaus einstweilen angeordnet wird, dass das Kind unverzüglich an seine Mutter herauszugeben sei.
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Der Antragsteller möchte, dass die Beschwerde der Antragsgegnerin zurückgewiesen wird und verweist darauf, dass er ebenfalls das Elternrecht für sich beanspruchen könne. Zudem habe die Kindesmutter zwischenzeitlich täglichen Kontakt zu … und könne ihn sogar stillen. Der Junge, der sich bester Gesundheit erfreue und wachse und gedeihe, lebe mittlerweile genauso lange in der Obhut des Kindesvaters, wie er zuvor bei der Mutter war. Entsprechend sei das Kind nunmehr ebenso auf den Vater geprägt.
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… habe in den letzten Wochen eine liebevolle und vertraute Bindung zum Kindsvater aufgebaut. Die Kindesmutter habe in der Vergangenheit jegliche Kooperation verweigert und ab Geburt des Kindes dem mitsorgeberechtigten Vater das Kind entzogen. Dieser halte sich mit dem Kind nunmehr in einer Eltern-Kind-Einrichtung auf und es sei nicht ohne weiteres möglich, den Vater, dem Elternzeit gewährt worden sei, aus der Hilfe herauszunehmen und die Kindesmutter hinein zu nehmen. Des Kind solle nicht erneut aus seinem gewohnten Umfeld und vom Vater als Hauptbezugsperson entfernt werden. Dies gelte umso mehr, als die Kindesmutter täglich Kontakt zum Kind habe, was sie dem Kindesvater zuvor wochenlang verwehrt hätte.
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Der Verfahrensbeistand äußerte sich schriftlich und wandte sich dagegen, dass das Kind dort, wo es jetzt gut aufgehoben sei, wieder herausgerissen würde.
13
Mit Beschluss vom 09.11.2022 (454 F 2978/22) entließ das Amtsgericht die ursprünglich bestellte Ergänzungspflegerin und wählte als neuen Pfleger Rechtsanwalt … aus.
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Der Senat hörte die Kindeseltern persönlich an. Insoweit wird auf den Vermerk vom 06.12.2022 (Blatt 150/154 der Akten) Bezug genommen.
15
Im beim Amtsgericht anhängigen Hauptsacheverfahren ist (ebenfalls) ein familien-psychologisches Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben.
II.
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Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben, bleibt in der Sache aber ohne Erfolg.
17
Das Amtsgericht hat zu Recht die elterliche Sorge für das gemeinsame minderjährige Kind dem Antragsteller übertragen und ist diesem nunmehr auch zu belassen.
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1. Leben Eltern nicht nur vorübergehend getrennt und steht ihnen die elterliche Sorge gemeinsam zu, ist die elterliche Sorge (ganz oder teilweise) einem Elternteil allein zu übertragen, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf diesen Elternteil dem Kindeswohl am besten entspricht, § 1671 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nummer 2 BGB.
19
Der Erlass einer dahingehenden einstweiligen Anordnung setzt darüber hinaus ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden voraus, § 49 Abs. 1 FamFG, und erfordert eine Gesamtabwägung unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren, wobei die Abänderung einer einstweiligen Anordnung des Amtsgerichts, die zu einem wiederholten Aufenthaltswechsel eines Kindes führt, in der Regel nicht dem Kindeswohl entspricht (in diesem Sinne auch BVerfG JAmt 2011, 107; FamRZ 2021, 595).
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2. Gemessen daran muss die angefochtene Entscheidung des Amtsgerichts Bestand haben.
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2.1. Sowohl der Antragsteller als auch die Antragsgegnerin können sich auf das Elternrecht, Art. 6 GG, berufen.
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Der Senat verkennt dabei nicht, dass nur die Antragsgegnerin das Kind stillen kann, was aber nunmehr für einen längeren Zeitraum, ohne dass dies der Antragsgegnerin vorgeworfen werden könnte, nicht der Fall war, wobei offen bleibt, ob das natürliche Stillen wieder aufgenommen werden könnte.
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2.2. Die Eltern-Kind-Einrichtung wird gegenwärtig vom Antragsteller zusammen mit dem Kind in Anspruch genommen.
24
Das Jugendamt erklärte insoweit, dass die Eltern-Kind-Einrichtung nicht bereit sei, die Antragsgegnerin anstelle des Antragstellers aufzunehmen. Die Antragsgegnerin vermochte nicht zu erklären, dass eine andere Eltern-Kind-Einrichtung zu ihrer Aufnahme bereit sei. Ob das Kind von der Mutter anderweitig ausreichend unter Inanspruchnahme notwendiger Hilfen betreut werden kann, vermag der Senat bei der im Verfahren der einstweiligen Anordnung allein möglichen summarischen Prüfung nicht abschließend zu beurteilen.
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2.3. Das im Verfahren betreffend das (Geschwister-) Kind erholte Sachverständigengutachten meldet im Hinblick auf die Erziehungsfähigkeit der Antragsgegnerin jedenfalls keine geringeren Bedenken als beim Antragsteller an. Dies gilt ungeachtet etwaiger von der Antragsgegnerin noch anzumeldender Bedenken gegen das Sachverständigengutachten, deren Überprüfung dem Amtsgericht im anderen Verfahren vorbehalten ist.
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Die Erfolgsaussichten der Antragsgegnerin im Hauptsacheverfahren wegen des hier betroffenen Kindes sind durch dieses Sachverständigengutachten damit derzeit nicht erhöht.
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2.4. Im Ergebnis ergibt die erforderliche Gesamtabwägung deshalb, dass es bei dem Grundsatz zu verbleiben hat, dass es einen wiederholten Aufenthaltswechsel, der bei einem nunmehrigen Wechsel des Kindes zur Antragsgegnerin erfolgen würde, wenn im Hauptsacheverfahren dem Antragsteller die alleinige elterliche Sorge übertragen würde, tunlichst zu vermeiden gilt.
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Dahinter muss auch zurückstehen, dass allein der Antragsgegnerin es möglich wäre, unter Umständen ihr Kind zu stillen.
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2.5. Das tiefgreifende Zerwürfnis zwischen Antragsteller und Antragsgegnerin, die sich über das auch unmittelbare künftige Schicksal des Kindes uneinig sind, was auch ein dringendes Regelungsbedürfnis eröffnet, ermöglicht es nicht, die gemeinsame elterliche Sorge aufrechtzuerhalten und ebenso wenig, dem Antragsteller diese im Wege der einstweiligen Anordnung nur teilweise allein zu übertragen.
30
Soweit das Amtsgericht dem Antragsteller das Recht zur Regelung des Umgangs des Kindes mit der Antragsgegnerin entzog, ist diese Entscheidung rechtskräftig und damit nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens.
III.
31
Über den Antrag der Antragstellerin, die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung des Amtsgerichts auszusetzen und das betroffene Kind unverzüglich in die Obhut der Kindesmutter zu geben, § 64 Abs. 3 FamFG, muss der Senat nicht mehr befinden, wobei die Kindesherausgabe ohnehin nicht im hiesigen Verfahren, sondern im Beschwerdeverfahren 4 UF 1228/22 beschwerdegegenständlich ist.
IV.
32
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG, der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren auf §§ 41, 45 Abs. 1 Nummer 1 FamGKG.
33
Gegen diesen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde nicht eröffnet, § 70 Abs. 4 FamFG.