Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 09.11.2022 – AN 11 K 22.01241
Titel:

Verlustfeststellung Freizügigkeitsrecht EU, Drogenproblematik, Wiederholungsgefahr, Strafaussetzung zur Bewährung

Normenketten:
FreizügG/EU § 6 Abs. 1
FreizügG/EU § 7
Schlagworte:
Verlustfeststellung Freizügigkeitsrecht EU, Drogenproblematik, Wiederholungsgefahr, Strafaussetzung zur Bewährung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 40161

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Der Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Freizügigkeit.
2
Der 1977 geborene Kläger ist tschechischer Staatsangehöriger, im Februar 2019 erstmals in die Bundesrepublik eingereist und sogleich vorläufig festgenommen worden, sodass er sich zunächst in Untersuchungs-, dann in Strafhaft und ab 20. Mai 2020 im Maßregelvollzug befand. Er wuchs - nach den Angaben im Strafverfahren - gemeinsam mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder bei seinen Eltern in … auf. Seine Eltern trennten sich als der Kläger zwölf Jahre alt war, er blieb bei seiner Mutter. Nach dem Besuch der Mittelschule absolvierte er eine Ausbildung zum Elektriker und arbeitete anschließend ein Jahr in seinem Beruf, dann leistete er den Militärdienst (ein Jahr) ab. Anschließend war er erneut als Elektriker tätig. Von 1997 bis 2004 lebte er in N. Y. Im Jahr 2004 kehrte er in die Tschechische Republik zurück und lebte für sechs Monate bei seiner Mutter in …, dann verzog er nach Irland und lebte bis 2010 in … Nach seiner Rückkehr ins Heimatland lebte er mit seiner Lebensgefährtin, der gemeinsamen (am …2014 geborenen) Tochter und der volljährigen Tochter seiner Lebensgefährtin in … Er arbeitete als Elektriker im Unternehmen seines Bruders, zeitweise war er auch selbständig. Zudem hat er im Heimatland etwa 30.000,00 bis 40.000,00 EUR Bankschulden.
3
Strafrechtlich ist der Kläger im Bundesgebiet wie folgt in Erscheinung getreten:
4
Landgericht …, 27. November 2019, Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten wegen unerlaubtem Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit Waffen in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte mit vorsätzlicher Körperverletzung in drei tateinheitlichen Fällen. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde angeordnet.
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Der Verurteilung durch das Landgericht lag zugrunde, dass der Kläger in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar 2019 gemeinsam mit zwei anderweitig Verfolgten in einem Pkw … von einem nicht näher bestimmbaren Ort in der Tschechischen Republik über einen nicht näher bestimmbaren Grenzübergang in die Bundesrepublik Deutschland nach … fuhr. Er war Beifahrer und transportierte während der Fahrt insgesamt 242 g Methamphetamin im Pkw mit sich, um dieses nach Ankunft in … gewinnbringend weiterzuveräußern, wobei nicht belegbar war, dass die anderweitig Verfolgten davon Kenntnis hatten. Während der Fahrt führte er in seiner Hosentasche ein Klappmesser mit einer Klingenlänge von etwa 7,5 cm mit sich und konnte sich - wie er wusste - jederzeit des sich in unmittelbarer Nähe der Betäubungsmittel befindlichen Messers ohne nennenswerten Zeitverlust bedienen. Das Messer war von ihm auch dazu bestimmt, im Bedarfsfalle gegen andere Personen zur Verteidigung des Rauschgifts eingesetzt zu werden. Am 13. Februar 2019 gegen 2:45 Uhr wurden der Kläger und die anderweitig Verfolgten in … einer polizeilichen Kontrolle unterzogen. Nachdem die Polizeibeamten Amphetamingeruch im Fahrzeug festgestellt und das in der Hosentasche eines anderweitig Verfolgten sowie das im Fach des Lenkrads befindliche Methamphetamin des Klägers aufgefunden hatten, wurde der Kläger aufgefordert, das Fahrzeug zu verlassen. Er kam dieser Aufforderung zunächst nach, dabei ließ er eine Spritze vor sich auf den Boden fallen. Ein Polizeibeamter bemerkte dies und forderte ihn auf, seine Hände auf die Motorhaube zu legen und teilte ihm mit, dass er gefesselt werde. Der zur Unterstützung hinzugekommene Beamte bemerkte das sich in der Hosentasche des Klägers befindliche Messer und machte seine Kollegen darauf aufmerksam. Als der Kläger dies bemerkte, riss er sich los und versuchte, nach dem Messer zu greifen. Es kam zu einem Gerangel, bei dem der Kläger wiederholt mit den Fäusten in Richtung der drei Polizeibeamten schlug und mit seinen Füßen in deren Richtung trat. Dabei versuchte er immer wieder, an das Messer in seiner Hosentasche zu gelangen. Erst durch wiederholte Faustschläge ins Gesicht des Klägers und den Einsatz eines Schlagstocks gegen seine Beine gelang es, den Kläger zu Boden zu bringen. Dabei trat er weiter um sich, bis er schließlich gefesselt wurde. Bei diesen Handlungen nahm er jedenfalls billigend in Kauf, einen Polizeibeamten zu treffen und diesem dadurch Schmerzen zuzufügen oder in seiner Gesundheit zu schädigen. Dem Kläger sei dabei bewusst gewesen, dass die polizeilichen Maßnahmen rechtmäßig seien, jedenfalls nahm er dies billigend in Kauf. Die Polizeibeamten erlitten Abschürfungen am linken Knie bzw. Schmerzen, einer von ihnen wurde am linken Unterarm getroffen und erlitt hierdurch Abschürfungen und ebenfalls Schmerzen. Nach dem Urteil des Landgerichts wurde der Kläger in der Tschechischen Republik bereits sechsmal, auch zu Freiheitsstrafen, verurteilt. Ausweislich der Feststellungen des Strafurteils raucht der Kläger seit seinem 16. Lebensjahr, zuletzt konsumierte er bis zu 50 Zigaretten täglich. Alkohol konsumierte er erstmals mit 18 Jahren, Methamphetamin mit 19 Jahren während seiner Militärzeit. Dieses konsumierte er zunächst nur gelegentlich, seit der Rückkehr nach Tschechien im Jahr 2010 aber vermehrt, kurzzeitig auch intravenös, zeitweise bis zu fünf Gramm täglich bzw. pro Woche insgesamt deutlich mehr als zehn Gramm. Im Rahmen der Strafzumessung wertete das Landgericht zugunsten des Klägers sein von Schuldeinsicht und Reue getragenes Geständnis. Zudem wurde berücksichtigt, dass die Betäubungsmittel sichergestellt werden konnten und damit nicht in den Verkehr gelangten, ebenso, dass er aus einem gewissen Suchtdruck infolge seiner Betäubungsmittelabhängigkeit heraus handelte und die Veräußerung der Drogen der Finanzierung seines eigenen Betäubungsmittelkonsums dienen sollte. Es wurde u.a. berücksichtigt, dass die Verletzungen der geschädigten Polizeibeamten nicht erheblich gewesen seien, der Kläger selbst jedoch nicht unerhebliche Verletzungen davongetragen habe. Zu seinen Lasten wurde die Qualität und die große Menge Betäubungsmittel gewertet. Insbesondere wurde auch berücksichtigt, dass der Kläger tateinheitlich mehrere Straftatbestände verwirklichte und ebenso, dass er in der Tschechischen Republik bereits mehrfach vorbestraft ist.
6
Die Beklagte hörte den Kläger sowie seinen vormaligen Bevollmächtigten mit Schreiben vom 10. Februar 2020 bzw. 14. März 2020 insbesondere zur beabsichtigten Verlustfeststellung an.
7
Mit Bescheid vom 29. März 2022 wurde der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik Deutschland festgestellt (Nr.1), die Wirkung der Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts auf die Dauer von acht Jahren ab Ausreise- bzw. Abschiebung befristet (Nr. 2) und der Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von einer Frist von einem Monat nach Eintritt der Unanfechtbarkeit dieser Entscheidung zu verlassen (Nr. 3). Sollte er der Ausreiseverpflichtung nach Nr. 3 nicht freiwillig nachkommen, werde die Abschiebung insbesondere in die Tschechische Republik angedroht (Nr. 4). Die Beklagte sei für den Erlass des Bescheides zuständig. Der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt könne gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden. Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU und die Rechtsstellung des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU seien nicht gegeben. Der Kläger halte sich erst seit dem 12. Februar 2019 auf Grund der vorläufigen Festnahme und Verurteilung durchgängig im Bundesgebiet auf. Seine Inhaftierung sei jedoch nicht als rechtmäßiger Aufenthalt zu werten. Zugunsten des Klägers gehe die Beklagte davon aus, dass er schon allein auf Grund der Staatsangehörigkeit Freizügigkeit genieße (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU). Aus dem bisher gezeigten Verhalten und dem gegen den Kläger ergangenen Strafurteil ergebe sich eine gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung und eine tatsächliche und schwerwiegende Gefährdung, welche Grundinteressen der Gesellschaft berührten. Er sei ausschließlich in das Bundesgebiet eingereist, um das Methamphetamin auf Grund eines gemeinschaftlichen Tatentschlusses in … gewinnbringend weiterzuverkaufen. Der illegale Drogenhandel zähle zu den Straftaten, die in Art. 83 Abs. 1 AEUV als Bereiche besonders schwerer Kriminalität genannt würden. Die Beklagte schließe sich den Ausführungen der Strafkammer zur Strafzumessung vollumfänglich an. Es müsse deutlich zum Ausdruck gebracht werden, dass der Kläger versucht habe, im Bundesgebiet mit großen Mengen von Methamphetamin Handel zu betreiben. Bei dieser Droge handele es sich um eine der gefährlichsten Drogen auf dem Markt. Der Konsum führe sehr rasch zu einer psychischen Abhängigkeit. Wer - wie der Kläger - mit Betäubungsmitteln handle, belege mit diesem Verhalten nicht nur die bei ihm vorherrschenden erheblichen charakterlichen Mängel und seine defizitäre Persönlichkeitsstruktur, sondern gefährde insbesondere die öffentliche Sicherheit und Ordnung in höchstem Maße. Beim Kläger sei daher mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass er weiterhin vergleichbare rechtswidrige Taten begehen werde. Zudem sei sein Verhalten gegenüber den Polizeibeamten bei der Kontrolle brutal und die Gefahr einer ernsthaften Verletzung der Beamten groß gewesen. Auch im Heimatland sei der Kläger mehrmals straffällig gewesen und mehrmals zu Freiheitsstrafen verurteilt worden. Er habe die Drogentherapie mit Maßregelvollzug am 20. Mai 2020 begonnen. Im Hinblick auf die bestehende Suchtproblematik und die wohl noch nicht abgeschlossene Therapie sei daher weiterhin von einer erheblichen Wiederholungsgefahr auszugehen. Der Sachverständige führe im Strafurteil aus, bei unbehandelter Entlassung bestehe auf Grund der Drogenproblematik ein hohes Risiko dafür, dass der Kläger frühere Verhaltensmuster und Konsumgewohnheiten fortsetze und zu deren Finanzierung weitere gleichartige rechtswidrige Taten begehe. Der Kläger habe im Bundesgebiet keinerlei familiäre Bindungen, seine Lebensgefährtin und Tochter lebten in der Tschechischen Republik. Die Beklagte gehe auf Grund der Gesamtpersönlichkeit, gemessen am bisherigen Verhalten und der unzweifelhaft vorliegenden charakterlichen Mängel davon aus, dass vom Kläger ungeachtet der Strafe oder des Maßregelvollzugs auch künftig weitere schwere Straftaten zu erwarten seien. Diese Gefährdung sei auch in Anbetracht des Umstandes, dass er inhaftiert bzw. im Maßregelvollzug sei, weiterhin gegenwärtig. Gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU seien bei der Entscheidung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts in Deutschland, das Alter des Betroffenen, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Der Kläger habe sich den überwiegenden Teil seines Lebens im Heimatland aufgehalten und sei offensichtlich nur zur Begehung von Straftaten in das Bundesgebiet eingereist. Eine wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Integration habe in keiner Weise stattgefunden und sei auch nie beabsichtigt gewesen. Seine gesamte Familie lebe in der Tschechischen Republik, schützenswerte Beziehungen im Bundesgebiet seien nicht bekannt und auch im Rahmen des Anhörungsverfahrens nicht geltend gemacht worden. Bei einer Rückkehr in das Heimatland sei mit keinen größeren Schwierigkeiten für den Kläger zu rechnen. Die Abwägung der öffentlichen Interessen mit dem Interesse, weiterhin im Bundesgebiet bleiben bzw. wieder einreisen zu können, müsse zugunsten des öffentlichen Interesses entschieden werden. Die Beklagte befriste - unter Berücksichtigung aller für und gegen den Kläger sprechenden bekannten Umstände - die Wirkung der Verlustfeststellung (Einreise- und Aufenthaltsverbot) auf die Dauer von acht Jahren ab Ausreise/Abschiebung. Auf den Bescheid im Einzelnen wird Bezug genommen.
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Der Kläger ließ hiergegen am 29. April 2022 Klage erheben und beantragen,
Der Bescheid der Beklagten vom 29. März 2022 wird aufgehoben.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei tschechischer Staatsangehöriger und lebe in der Bundesrepublik. Der Bescheid sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten.
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Die Beklagte beantragte,
Klageabweisung.
11
Zur Begründung wurde auf den Bescheid verwiesen. Die Entscheidung sei rechtmäßig.
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Ergänzend wurde im Wesentlichen mitgeteilt, der Kläger sei nach telefonischer Auskunft des BKH … aufgrund des Beschlusses des LG … (Az. …*) über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung aus dem Maßregelvollzug entlassen worden. Das nunmehr zuständige Landratsamt … habe der Beklagten am 7. November 2022 das Einvernehmen zur Fortführung des Verfahrens erteilt (Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG). Gleichwohl liege weiterhin eine Wiederholungsgefahr vor. Aufgrund der dargelegten Wiederholungsgefahr und unzureichender Integrationsbindung des Klägers im Bundesgebiet sei die Ermessensentscheidung auch im Hinblick auf das besondere öffentliche Interesse der Gefahrenabwehr künftiger Straftaten und dem Schutz der Bevölkerung zu Lasten des Klägers ergangen. Auf den Schriftsatz vom 7. November 2022 im Einzelnen wird Bezug genommen.
13
Die Regierung von M. beteiligte sich als Vertretung des öffentlichen Interesses am Verfahren.
14
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid vom 29. März 2022 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten; der Kläger hat derzeit auch noch keinen Anspruch auf Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
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Die in Nummer 1 des Bescheids verfügte Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik ist derzeit ebenso wenig zu beanstanden wie die in Nummer 3 und 4 verfügten Annexentscheidungen. Auch begegnet die unter Nummer 2 verfügte Befristung der Wirkungen der Verlustfeststellung auf die Dauer von acht Jahren ab Ausreise bzw. Abschiebung derzeit keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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1. Die nach pflichtgemäßem Ermessen ausgesprochene Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 1 und Abs. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als rechtmäßig. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid, denen das Gericht folgt, Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO). Ergänzend wird hierzu Folgendes ausgeführt:
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a) Gegen die formelle Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids bestehen - insbesondere auch hinsichtlich der Zuständigkeit der Beklagten - keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Insoweit ist § 6 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3 Nr. 1 Zuständigkeitsverordnung Ausländerrecht (ZustVAuslR) maßgeblich, weil der Kläger im Gebiet der Beklagten aufgegriffen/festgenommen wurde und die danach begründete örtliche Zuständigkeit fortbestand, solange er sich auf richterliche Anordnung in Haft oder in sonstigem öffentlichen Gewahrsam befand; daher ist eine melderechtliche „Wohnsitznahme“ in der Justizvollzugsanstalt bzw. während des Gewahrsams unerheblich (vgl. BayVGH, B.v. 18.7.2019 - 10 ZB 19.776 - juris Rn. 7). Nach Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG kann die Beklagte als bisher zuständige Behörde das Verwaltungsverfahren fortführen, wenn dies unter Wahrung der Interessen der Beteiligten der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens dient und die nunmehr zuständige Behörde zustimmt. Dies ist hier der Fall. Die Zustimmung ist gemäß Art. 45 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. Abs. 2 BayVwVfG auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren möglich (vgl. BayVGH B.v. 22.2.2012 - 10 ZB 11.969 - juris Rn. 19 m.w.N.). Gründe dafür, dass die Fortführung des Verfahrens durch die Beklagte nicht der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens diente und die Interessen des Klägers nicht gewahrt wurden, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Allein die theoretische Möglichkeit, dass die nunmehr zuständige Behörde die Verlustfeststellung nicht bzw. eine kürzere Frist verfügt hätte, genügt insoweit nicht, eine Rechtsverletzung des Klägers zu begründen (vgl. VG Ansbach, U.v. 9.1.2019 - AN 11 K 17.00258, nachfolgend BayVGH, B.v. 12.12.2019 - 19 ZB 19.326).
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b) Die angefochtene Verlustfeststellung findet ihre Rechtsgrundlage in § 6 Abs. 1 und Abs. 2 FreizügG/EU.
20
Maßgeblicher Zeitpunkt für die rechtliche Beurteilung der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 16.7.2015 - 1 C 22/14 - juris Rn. 11; U.v. 3.8.2004 - 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 für Ausweisungen von Unionsbürgern nach altem Recht). Dies gilt nur dann nicht, wenn und soweit aus Gründen des materiellen Rechts ausnahmsweise ein anderer Zeitpunkt maßgeblich ist (vgl. BVerwG, B.v. 7.12.2017 - 1 B 142/17 - juris Rn. 5).
21
aa) Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU unbeschadet des § 2 Abs. 7 und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden. Gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich alleine nicht, um die Verlustfeststellung zu begründen. Es dürfen nach § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU nur im Bundeszentralregister nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss gemäß § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Bei der Entscheidung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (§ 6 Abs. 3 FreizügG/EU).
22
Gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU darf eine Feststellung nach Abs. 1 nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden; diese Regelung dient der Umsetzung des Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG und erhöht die Anforderungen an die Verlustfeststellung (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, 14. Aufl. 2022, § 6 FreizügG/EU Rn. 67 f.). Darüber hinaus darf nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU die Verlustfeststellung bei Unionsbürgern, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, und bei Minderjährigen nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können u.a. nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt wurde.
23
Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben nach ständiger Rechtsprechung bei der Prüfung, ob im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch ein persönliches Verhalten des Betroffenen zu erkennen ist, ebenso wie bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung, eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BVerwG, B.v. 11.9.2015 - 1 B 39/15 -InfAuslR 2016, 1; BayVGH, B.v. 15.10.2019 - 19 ZB 19.914 - juris Rn. 9 m.w.N.). Nach dem Gefahrenmaßstab des § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Dieser Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizeirecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das berührt sein muss (vgl. NdsOVG, B.v. 5.9.2019 - 13 ME 278/19 - juris Rn. 6). Eine strafrechtliche Verurteilung kann eine Verlustfeststellung nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 - C-316/16 und C-424/16 - juris Rn. 92; U.v. 29.4.2004 - C-482/01 und C-493/01 - DVBl. 2004, 876, Rn. 67 m.w.N.). Es besteht keine dahingehende Regel, dass bei schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten allein die hinreichende Besorgnis neuer Verfehlungen begründet (vgl. BVerwG, B.v. 30.6.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Ob die Begehung einer Straftat nach deren Art und Schwere (vgl. EuGH, U.v. 29.4.2004, a.a.O., Rn. 99) ein persönliches Verhalten erkennen lässt, welches ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, kann nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilt werden.
24
Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und die Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu berücksichtigen. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens zu differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (vgl. BayVGH, B.v. 15.10.2019 - 19 ZB 19.914 - juris Rn. 9). Was die Prognose der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts im Hinblick auf Drogenstraftaten angeht, ist zudem festzuhalten, dass Betäubungsmitteldelikte zu den schweren, Grundinteressen der Gesellschaft berührenden und schwer zu bekämpfenden Straftaten gehören (vgl. Art. 83 Abs. 1 Unterabschnitt 2 AEUV).
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Einer Straf- bzw. ggf. Maßregelaussetzungsentscheidung kommt zwar eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Die Ausländerbehörde und die Verwaltungsgerichte sind für die Frage der Wiederholungsgefahr daran aber nicht gebunden; es bedarf einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung abgewichen wird (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 21; BayVGH, B.v. 22.6.2021 - 19 ZB 18.104 - juris Rn. 31 zur Unterschiedlichkeit der Prognosen bei Strafrestaussetzungen und Ausweisungsentscheidungen bzw. Verlustfeststellungsentscheidungen; B.v. 14.1.2019 - 10 ZB 18.1413 - juris Rn. 10 m.w.N.). Bei Straftaten, die - wie hier - auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Verlustfeststellung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 11.10.2022 - 19 ZB 20.2139 - juris Rn. 52; B.v. 29.5.2018 - 10 ZB 17.1739 - juris Rn. 9; B.v. 16.2.2018 - 10 ZB 17.2063 - juris Rn. 10; B.v. 7.2.2018 - 10 ZB 17.1386 - juris Rn. 10; U.v. 3.2.2015 - 10 B 14.1613 - juris Rn. 32 m.w.N.). Solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (vgl. BayVGH, B.v. 13.10.2017 - 10 ZB 17.1469 - juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 6.5.2015 - 10 ZB 15.231 - juris Rn. 11).
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bb) Nach Überzeugung des Gerichts liegt auch im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine vom Kläger ausgehende gegenwärtige tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Die Beklagte geht zutreffend davon aus, dass sich der Kläger - zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Feststellung - auf den Schutz nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU (mangels Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU) bzw. nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU mangels zehnjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet nicht berufen kann. Gemessen an den vorgenannten Grundsätzen geht die Kammer mit der Beklagten davon aus, dass nach der gebotenen Prüfung des vorliegenden Einzelfalls aufgrund des persönlichen Verhaltens des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden muss, dass von ihm auch künftig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zumal es sich bei der Verhinderung von Drogenhandel zudem um einen zwingenden Grund der öffentlichen Sicherheit handeln kann (vgl. EuGH, U. v. 23.11.2010 - C-145/09 - juris Rn. 39 ff.).
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Die Gefahrenprognose wird konkret durch das Verhalten des Klägers im Bundesgebiet getragen. Zutreffend hat die Beklagtenseite darauf verwiesen, dass der Kläger erstmals in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar 2019 zur Begehung einer Straftat in das Bundesgebiet eingereist und sogleich vorläufig festgenommen worden sei. Anknüpfungspunkt für eine Verlustfeststellung können Straftaten sein, die unter die Kriminalitätsbereiche des Art. 83 AEUV fallen, namentlich Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel (vgl. BayVGH, B.v. 16.12.2021 - 10 ZB 21.1491 - juris Rn. 21). Der Europäische Gerichtshof hat festgestellt, dass der illegale Drogenhandel eine Bedrohung der Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität der Unionsbürger sowie der legalen Wirtschaftstätigkeit der Stabilität und der Sicherheit der Mitgliedstaaten darstellt (vgl. EuGH, U.v. 23.11.2010 - C-145/09 - juris Rn. 46). Da die Rauschgiftsucht ein großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit sei, könnte der Handel mit Betäubungsmitteln ein Maß an Intensität erreichen, durch das die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung insgesamt oder eines großen Teils derselben unmittelbar bedroht werden (vgl. EuGH, U. v. 23.11.2010 - C-145/09 - juris Rn. 47). Der vom Kläger betriebene Handel mit Methamphetamin gefährdet letztlich auch andere Personen in ihrer Gesundheit und trägt dazu bei, dass diese süchtig werden, aufgrund ihrer Rauschmittelsucht erkranken oder sogar zu Tode kommen. Der Kläger wurde mit dem o.g. Urteil des Landgerichts … vom 27. November 2019 zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten wegen unerlaubtem Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit Waffen in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte mit vorsätzlicher Körperverletzung in drei tateinheitlichen Fällen verurteilt. Dabei ist insbesondere zu sehen, dass beim Kläger nach Aktenlage von einer mehr als 20-jährigen - und ausgehend vom Jahr 2019 davon seit mindestens neun Jahren schwer verlaufenden - Abhängigkeitserkrankung auszugehen ist (s. forensisch-psychiatrisches Gutachten vom 17.6.2019, Bl. 10 ff. der Behördenakte). Der Kläger begann im Alter von 19 Jahren mit dem Konsum von Methamphetamin. Weder seine Erwerbstätigkeit noch sein familiäres Umfeld nach seiner Rückkehr in die Tschechische Republik, auch nicht die Geburt der gemeinsamen Tochter (mit seiner Lebensgefährtin) im … 2014, konnten ihn demnach vom Drogenkonsum abhalten. Trotz Vorstrafen und vorheriger Hafterfahrung im Heimatland beging er die o.g. Straftat - bei der er tateinheitlich mehrere Straftatbestände verwirklichte -, die nunmehr den Anlass der Verlustfeststellung bildet. Dabei handelte er zwar aus einem gewissen Suchtdruck infolge seiner Betäubungsmittelabhängigkeit heraus, aber auch zur Finanzierung seines eigenen Betäubungsmittelkonsums, um sich eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von erheblichem Umfang zu erschließen; zudem handelte es sich um eine große Menge Betäubungsmittel. Darüber hinaus verwirklichte der Kläger tateinheitlich mehrere Straftatbestände; dabei lassen die der Tat zugrundeliegenden Umstände, insbesondere die Tatbegehung mit Waffen (Klappmesser) und der tätliche Angriff auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB) mit Körperverletzung, ein persönliches Verhalten erkennen, das die schädlichen Neigungen des Klägers zum Ausdruck bringt. Gerade bei einem tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte handelt es sich um ein zunehmend häufig auftretendes Delikt (vgl. BayGH, U.v. 12.10.2020 - 10 B 20.1795 - juris Rn. 34 m.w.N.), dessen Begehung nicht nur die körperliche Integrität der betroffenen Beamtinnen und Beamten, sondern auch staatliche Vollstreckungsinteressen beeinträchtigt (vgl. Eser in Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB, § 114 Rn. 1); tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte beeinträchtigen deshalb in erheblichem Maße die öffentliche Sicherheit und Ordnung.
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Der in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Beschluss des Landgerichts … (…) vom 7. September 2022 (rechtskräftig seit 17.9.2022), mit dem die Unterbringung und die Vollstreckung des Restes der mit vorgenanntem Urteil verhängten Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten ab dessen Rechtskraft - u.a. mit mehreren strafbewehrten Weisungen - zur Bewährung ausgesetzt sowie die Dauer der Führungsaufsicht und Bewährungszeit auf fünf Jahre festgesetzt wurde, führt vorliegend unter Berücksichtigung der gegebenen Einzelfallumstände zu keiner anderen Beurteilung. Von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr kann demnach vorliegend nicht ausgegangen werden. Nach anerkannten Auslegungsgrundsätzen ist zu berücksichtigen, dass die bei Strafaussetzungsentscheidungen und Verlustfeststellungen zu erstellenden Prognosen auf unterschiedlichen Rechtsvorschriften in einem jeweils eigenen Regelungskontext gründen und deshalb an unterschiedlichen Maßstäben zu orientieren sind (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 11.10.2022 - 19 ZB 20.2139 - juris Rn. 58 ff. m.w.N.). Ein Beschluss über die Aussetzung des Strafrests trifft zur ausländerrechtlichen Frage, ob der Ausländer (auch) in Zukunft eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit darstellt, keine unmittelbar verwertbare Aussage; ihm ist insbesondere nicht die Überzeugung zu entnehmen, dass der Ausländer nach der Beendigung strafvollstreckungsrechtlicher Einwirkungen keine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit mehr darstellen wird. Der Ausländer kann eine solche Bedrohung darstellen und die Strafrestaussetzung dennoch rechtmäßig sein. Die Strafaussetzung zur Bewährung ist Ausfluss des rechtsstaatlichen Übermaßverbots und des sozialstaatlichen Resozialisierungsanspruchs. Demgegenüber geht es bei der ausländerrechtlichen Gefahrenprognose um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat getragen werden muss. Insgesamt ist nach der dargestellten Rechtslage das erforderliche Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit für eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung und für eine entsprechende vorläufige Beendigung der Maßregel wesentlich kleiner als dasjenige für eine positive ausländerrechtliche Gefahrenprognose, weil aus der Sicht des Strafrechts auch die kleinste Resozialisierungschance genutzt werden muss.
29
Gemessen hieran ist die Therapie des Klägers zwar nunmehr abgeschlossen, jedoch fehlt es an der Glaubhaftmachung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende. Mit Blick auf die in der mündlichen Verhandlung vorgetragene Lockerungsstufe der Therapie und einen bereits seit Oktober 2021 faktisch offenen Vollzug sowie die in Vollzeit aufgenommene Beschäftigung als Verputzer auf dem Bau ist festzuhalten, dass der Kläger ausweislich des o.g. Beschlusses der Strafvollstreckungskammer selbst während dieser Therapiephase mehrere Rückfälle hatte, obwohl er das geltend gemachte stützende berufliche Umfeld im Bundesgebiet und weiterhin familiäre Bindungen zu seiner Lebensgefährtin sowie seiner Tochter hatte, die nach wie vor in der Tschechischen Republik leben. Konkret meldete er zunächst zwei Rückfälle, nachdem das BKH (am 23.3.2022) die bedingte Entlassung aus dem Maßregelvollzug angeregt hatte, zudem ergab eine Urinprobe (vom 28.4.2022) ein positives Ergebnis hinsichtlich Amphetamin und Methamphetamin. Nach dem Beschluss vom 7. September 2022 nahm das BKH dazu (mit Schreiben vom 25.7.2022) insoweit Stellung, dass sich der Kläger während seiner vierwöchigen Lockerungsaussetzung mit diesem positiven Befund intensiv auseinandergesetzt und von einem aktiven Konsum distanziert, jedoch die Einnahme eines nicht verschriebenen und nicht verordneten Medikaments (…) aus der Tschechischen Republik eingeräumt habe; am 6. Juni 2022 wurde er erneut zum Zwecke des Probewohnen serienbeurlaubt. Dabei ist mit Blick auf den vorgenannten Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 7. September 2022 zu berücksichtigen, dass die Beendigung der Unterbringung nach § 67d Abs. 5 Satz 1 StGB, „wenn die Voraussetzungen des § 64 Satz 2 nicht mehr vorliegen“, bereits dann vorzunehmen ist, wenn für eine - im Vergleich zum ausländerrechtlichen Prognosehorizont - relativ kurze Zeitspanne die konkrete Aussicht (unter Eingehung eines vertretbaren Risikos) auf das Unterbleiben rechtswidriger Taten besteht; nichts Anderes gilt für die - vorliegend erfolgte - Beendigung der Unterbringung nach § 67d Abs. 2 StGB, denn auch bei dieser strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidung sowie bei der Erstellung eines Prognosegutachtens hierfür sind die begrenzte Zielsetzung der Unterbringung und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Zumal auch die Strafvollstreckungskammer vorliegend noch von einem geringen Rückfallrisiko ausging und das zugrundeliegende Sachverständigengutachten den Unterbringungsverlauf lediglich als „eher günstig“ wertete, auch wenn es zu Rückfällen kam, aber zugleich zu der Einschätzung gelangte, dass ein weiterer Vollzug der Unterbringung zu keiner wesentlichen Verbesserung der Delinquenzprognose mehr führe. Letztlich lebt der Kläger demnach nunmehr allein und ist wieder berufstätig, wobei sein früheres familiäres Umfeld nach seinen Angaben fortbesteht (wenngleich die Lebensgefährtin und Tochter in Tschechien leben), auch wenn der Kläger seit der Lockerungsphase der Therapie in Vollzeit arbeitet, kann eine Zäsur in seiner Lebensführung insoweit nicht festgestellt werden. Zwar ist dem Kläger zuzugeben, dass die positive Entwicklung seit der Aussetzung zur Bewährung (ab Rechtskraft des o.g. Beschlusses, demnach seit 17.9.2022) anhält, jedoch hat der Kläger nicht nach Abschluss der Therapie bzw. im Anschluss daran die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhältnis glaubhaft gemacht.
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In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die Bewährungszeit des Klägers nahezu noch fünf Jahre läuft. Bereits das laufende Verlustfeststellungsverfahren erzeugt einen großen „Legalbewährungsdruck“, insbesondere da aktuelle Entwicklungen zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, B.v. 6.11.2019 - 19 CS 19.1183 - juris Rn. 20). Durch die noch offene Strafaussetzung zur Bewährung und die zahlreichen (auch strafbewehrten) Weisungen, die eine kontinuierliche Kontrolle des Klägers bewirken, wird der Druck, sich legal zu verhalten, verstärkt, sodass zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mit der notwendigen Sicherheit von einem dauerhaften Einstellungswandel und einer innerlich gefestigten Verhaltensänderung des Klägers ausgegangen werden kann.
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Im Übrigen ist auch die Strafvollstreckungskammer trotz der (die Vollstreckung des Restes der Freiheitsstrafe aussetzenden) Entscheidung vom 7. September 2022 der Auffassung, dass beim Kläger die Gefahr der weiteren Begehung von Straftaten besteht und dieser Gefahr vorgebeugt werden muss. Dies lässt sich dem Umstand entnehmen, dass eine fünfjährige Bewährungszeit (die gesetzliche Maximaldauer) und Führungsaufsicht festgelegt worden sind; zudem wurde der Kläger der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt und erhielt - neben einer Abstinenz- und Kontrollweisung (Urin- und/oder Speichelprobe) - zahlreiche Weisungen.
32
cc) Die Beklagte hat bei Erlass der Verlustfeststellung das ihr eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausgeübt. Im Rahmen der gebotenen Ermessensentscheidung ist abzuwägen, ob das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung das private Interesse des Unionsbürgers - bzw. des Familienangehörigen eines Unionsbürgers - an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt (vgl. BVerwG, U.v. 3.8.2004 - 1 C 30/02 - juris Rn. 27). Es ist insoweit der nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierte Schutz des Familienfriedens zu Gunsten des Betroffenen zu beachten. Hierbei ist gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
33
Das Gericht kann die Ermessensentscheidung der Beklagten gemäß § 114 Satz 1 VwGO lediglich darauf hin überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesen Vorgaben ist die Entscheidung der Beklagten nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat ermessensfehlerfrei festgestellt, dass das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung das private Interesse des Klägers an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt. Sie hat in der Ermessensentscheidung u.a. zutreffend berücksichtigt, dass sich der Kläger erst seit Begehung der vorgenannten Straftat im Februar 2019 in der Bundesrepublik aufhält und dem Kläger eine Rückkehr in die Tschechische Republik zumutbar ist; der Kläger bestätigte insoweit, dort auch seine familiären Anknüpfungspunkte zu haben. Die Lebensgefährtin und Tochter des Klägers leben nicht im Bundesgebiet (und beabsichtigen dies nach dem klägerischen Vorbringen auch nicht), sondern vielmehr in der Tschechischen Republik. Die Verlustfeststellung ist in Anbetracht der vom Kläger weiterhin ausgehenden erheblichen Wiederholungsgefahr auch unter Berücksichtigung des Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig. Die Beklagte hat demnach in rechtlich nicht zu beanstandender Weise das öffentliche Interesse an einer Beendigung des Aufenthalts des Klägers höher gewichtet als dessen Interesse, weiterhin im Bundesgebiet zu leben.
34
2. Auch die gerichtlich voll kontrollierbare Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots auf die Dauer von acht Jahren ab Ausreise/Abschiebung aus dem Bundesgebiet (vgl. BVerwG, U.v. 28.4.2015 - 1 C 20.14 - juris Rn. 22) ist derzeit rechtmäßig.
35
Rechtsgrundlage ist § 7 Abs. 2 FreizügG/EU. Dabei ist jeweils auf die aktuelle Tatsachenlage im Zeitpunkt der Überprüfungsentscheidung abzustellen (vgl. EuGH, U.v. 17.6.1997 - C-65/95, C-111/95 - Rn. 39 ff.). Die Frist ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen und darf fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU überschreiten (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU).
36
Eine Höchstfrist für Verlustfeststellungen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU ist nicht vorgesehen (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 18/14 - juris Rn. 23). Der Gesetzgeber geht davon aus, dass bei Unionsbürgern ein langfristiger Ausschluss der Wiedereinreise bei fortbestehender Rückfall- bzw. Gefährdungsprognose nicht ausgeschlossen ist (vgl. BT-Drs 15/420 S. 105). Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind das Gewicht des Grundes für die Verlustfeststellung sowie der mit der Maßnahme verfolgte spezialpräventive Zweck zu berücksichtigen. Die Befristungsentscheidung nach § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU ist auf der Grundlage einer aktuellen Gefährdungsprognose und Verhältnismäßigkeitsprüfung zu treffen. Hierzu bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Verlustfeststellung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In der Regel stellt ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont dar, für den eine Prognose realistischer Weise noch gestellt werden kann. Dies gilt auch für die im Rahmen von § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU zu treffende Prognose (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 18.14 - BVerwGE 151, 361, juris Rn. 27).
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Die sich an der Erreichung des Zwecks der Verlustfeststellung orientierende äußerste Frist muss sich in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. unionsrechtlichen Vorgaben und verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen messen lassen. Dieses normative Korrektiv bietet ein rechtsstaatliches Mittel dafür, fortwirkende einschneidende Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten schutzwürdigen Belange des Unionsbürgers in den Blick zu nehmen.
38
Ausgehend von diesen Grundsätzen erweist sich die in dem angefochtenen Bescheid bestimmte Frist derzeit nicht als unverhältnismäßig. Die Beklagte geht nach wie vor zutreffend davon aus, dass von dem Kläger auch künftig schwere Straftaten zu erwarten sind. Ausgehend von der Drogenhistorie des Klägers, den schweren Straftaten und der vom Drogenhandel ausgehenden schwersten Gefahren für die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland erscheint ein - an dem mit der Verlustfeststellung verfolgten spezialpräventiven Zweck orientierter - langfristiger Ausschluss der Wiedereinreise sachgerecht. Zu Gunsten des Klägers spricht zwar, dass dieser die Maßregel absolvierte, die o.g. Straf- und Maßregelaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts … erging und er seither einer während der Lockerungsstufe der Therapie begonnenen Tätigkeit als Verputzer, nach seinem Vortrag in Vollzeit, nachgeht. Gegen den Kläger spricht jedoch, dass dieser bereits im Alter von 19 Jahren mit dem Konsum von Drogen begann, demnach mehr als 20 Jahre abhängig gewesen und diesbezüglich massiv straffällig geworden ist, obwohl er im Heimatland mit seiner Lebensgefährtin und seiner minderjährigen - im Zeitpunkt der Anlasstat erst knapp 4 ½ jährigen - Tochter zusammenlebte und auch dort berufstätig war. Zudem ist aber zu sehen, dass der Kläger (lediglich) zur Begehung einer Straftat einreiste und sich insbesondere im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht außerhalb des bis vor kurzem andauernden Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat (s. dazu auch Nr. 1 b). Angesichts der vorgenannten fortbestehenden Gefährdung ist die erfolgte Befristung unter Berücksichtigung der gegebenen Einzelfallumstände vorliegend derzeit sachgerecht.
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Einer künftig weiterhin positiven Entwicklung des Klägers kann ggf. durch eine nachträgliche Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 7 Abs. 2 Satz 8 FreizügG/EU Rechnung getragen werden (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 18.14 - BVerwGE 151, 361); danach hat der Kläger bei einer zukünftigen Veränderung der tatsächlichen Umstände zu seinen Gunsten nach Maßgabe des § 7 Abs. 2 Satz 8 FreizügG/EU einen Anspruch auf Aufhebung oder Verkürzung der Frist.
40
3. Gegen die Rechtmäßigkeit der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Nr. 3 und 4 des Bescheids) bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken (§§ 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU). Die Frist, das Bundesgebiet innerhalb von einem Monat nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu verlassen, ist angemessen.
41
4. Die Klage war demnach mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ZPO.