Inhalt

LG Nürnberg-Fürth, Beschluss v. 27.10.2022 – 12 Qs 53/22
Titel:

Pflichtverteidigerbestellung im Verfahren über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung

Normenketten:
StGB § 56f
StPO § 140 Abs. 2, § 142 Abs. 3 Nr. 3
Leitsätze:
1. Über die Pflichtverteidigerbestellung im Beschwerdeverfahren entscheidet der Kammervorsitzende. (Rn. 8)
2. Befindet sich der Verurteilte in Strafhaft und wird währenddessen die Bewährungsaussetzung in anderer Sache widerrufen, so ist ihm für die Beschwerde gegen den Widerruf kein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn dort die Sach- und Rechtslage einfach ist und sich der Verurteilte selbst verteidigen kann. (Rn. 10 – 14)
Für die Frage, ob im Verfahren über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, ist darauf abzustellen, welche Schwere der Vollstreckungsfall für den Verurteilten und welche Schwierigkeiten die dortige Sach- und Rechtslage aufweist sowie ob der Verurteilte sich selbst verteidigen kann (Ergänzung zu OLG Nürnberg BeckRS 2020, 35193). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Pflichtverteidiger, Strafaussetzung zur Bewährung, Widerruf, Zuständigkeit, Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage, Möglichkeit der Selbstverteidigung
Vorinstanz:
AG Nürnberg vom -- – BwR 431 Ls 802 Js 27788/19
Fundstelle:
BeckRS 2022, 39721

Tenor

Der Antrag des Verurteilten, ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen und Frau Rechtsanwältin …, beizuordnen, wird abgelehnt.

Gründe

I.
1
Der Kammer liegt die Beschwerde des Beschwerdeführers (Bf.) gegen einen Bewährungswiderruf vor.
2
Der Bf. wurde mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 05.03.2020 wegen Betrugs in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr 6 Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
3
Mit Beschluss vom 26.06.2020 löste das Amtsgericht Nürnberg diese Gesamtstrafe in Einzelstrafen auf und führte sie unter Einbeziehung der Entscheidung des Amtsgerichts Fürth vom 19.08.2019 (411 Cs …), auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr 6 Monaten 2 Wochen zurück. Deren Vollstreckung blieb zur Bewährung ausgesetzt.
4
Der Bf. wurde vom Amtsgericht Nürnberg am 05.01.2022 (431 Ds …), wegen Betrugs in zwei Fällen zu einer weiteren, diesmal unbedingten Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Monaten verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig. Es wird seit 17.08.2022 in der JVA Nürnberg vollstreckt.
5
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat das Amtsgericht Nürnberg mit Beschluss vom 29.07.2022 in vorliegender Sache die im Beschluss vom 26.06.2020 gewährte Strafaussetzung widerrufen und die Vollstreckung der dort festgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe angeordnet. Hiergegen legte der Bf. Beschwerde ein.
6
Der Beschuldigte beantragte, ihm für das Beschwerdeverfahren Frau Rechtsanwältin … als Pflichtverteidigerin beizuordnen. Die Staatsanwaltschaft trat dem in ihrer Stellungnahme entgegen.
II.
7
Der Antrag, dem Bf. einen Pflichtverteidiger zu bestellen, war abzulehnen.
8
1. Für die Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung war in entsprechender Anwendung des § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO der Kammervorsitzende zuständig. § 142 Abs. 3 StPO regelt den Fall, dass erst in der Beschwerdeinstanz über eine Bestellung zu entscheiden ist, nicht. Die Regelung des § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO kommt der hiesigen Konstellation am nächsten, da zwar keine Anklage erhoben, aber eine Beschwerde eingelegt wurde, über die die Kammer noch zu befinden haben wird.
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2. Die Voraussetzungen für eine Bestellung sind nicht gegeben.
10
a) Es ist anerkannt, dass im Verfahren über den Widerruf der Strafaussetzung eine Pflichtverteidigerbestellung in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO in Betracht kommen kann (OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020 - Ws 962/20, juris Rn. 19; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 140 Rn. 34). Maßstab ist dabei nicht die Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage des vorangegangenen Erkenntnisverfahrens. Vielmehr ist darauf abzustellen, welche Schwere der Vollstreckungsfall für den Verurteilten und welche Schwierigkeiten die dortige Sach- und Rechtslage aufweist (OLG Nürnberg, aaO.; OLG Hamm, Beschluss vom 30.11.2021 - III-4 Ws 123 und 124/21, BeckRS 2021, 40607 Rn. 28). Wie sich aus dem Wortlaut des § 140 Abs. 2 StPO ergibt, ist aber stets auch zu prüfen, ob sich der Verurteilte selbst angemessen verteidigen kann. Hierbei muss auch die Wertung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO bedacht werden. Danach ist für das Strafverfahren die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers vorgesehen, wenn sich der Beschuldigte gegenwärtig in Anstaltsunterbringung befindet, was auch die Strafhaft umfasst. Die Verteidigungsmöglichkeiten des Untergebrachten sind, wie der Gesetzgeber anerkennt, eingeschränkt. Andererseits ist das, wogegen er sich verteidigen muss, im Vollstreckungsverfahren regelmäßig weniger komplex als im Erkenntnisverfahren, sodass das Bedürfnis nach der Mitwirkung eines Pflichtverteidigers deutlich geringer ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 140 Rn. 34 m.w.N.).
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b) Dies vorweggeschickt, scheidet eine Pflichtverteidigerbestellung nach Abwägung der Umstände des Falles vorliegend aus.
12
Der Bf., damals noch in Freiheit, ist im Widerrufsverfahren ordnungsgemäß schriftlich angehört worden, wie der Zustellungsnachweis für das Anhörungsschreiben belegt; anderes wird auch nicht vorgetragen. Eine mündliche Anhörung war nicht veranlasst, weil der Widerruf nicht mit Verstößen gegen Auflagen oder Weisungen begründet wurde (§ 453 Abs. 1 Satz 4 StPO), sondern mit erneuter Straffälligkeit in laufender Bewährungszeit.
13
Die vollstreckungsrechtliche Lage ist weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht schwierig. Es geht allein um die Frage, ob die erneute erstinstanzliche Verurteilung zu einem Widerruf der Bewährung führen durfte. Die maßgeblichen Tatsachen kann der Bf. auch ohne anwaltlichen Beistand vortragen und das hat er in seinem Schreiben vom 15.09.2022 auch getan. Seine Anstaltsunterbringung hat, soweit erkennbar, zu keinen Erschwernissen der Verteidigung geführt.
14
Das Gericht verkennt nicht, dass ein Bewährungswiderruf erhebliche Folgen für den Bf. mit sich brächte. Er wäre bei Rechtskraft des Widerrufs und im Anschluss an die derzeitige Strafvollstreckung des Urteils vom 05.01.2022 für insgesamt 1 Jahr 11 Monate 2 Wochen inhaftiert. In diesem Fall droht ihm zudem ein Verlust seiner Wohnung und seines Arbeitsplatzes, dessen Erhalt vom Arbeitgeber für die Zeit nach der Haftentlassung gegenüber dem Gericht schriftlich zugesagt worden ist, wobei sich diese Zusage offenkundig nur auf die Verbüßung der Haftstrafe aus dem Urteil vom 05.01.2022 bezog. Das alles reicht aber nicht aus, denn im Verfahren über den Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Strafe ist die Frage der Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht danach zu entscheiden, wie lang die noch zu verbüßende Strafe ist (OLG Hamm, Beschluss vom 30.11.2021, aaO.).