Titel:
Zusätzliche Gebühr, wenn durch anwaltliche Mitwirkung die Hauptverhandlung entbehrlich wird; Strafbefehlsverfahren
Normenkette:
RVG VV Nr. 4141, 4104
Leitsätze:
1. Zu den Voraussetzungen der zusätzlichen Gebühr nach Nr. 4141 VV RVG, wenn durch die Bemühungen der Verteidigung die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl beantragt und beide Seiten davon ausgehen, dass die Verteidigung keinen Einspruch gegen den Strafbefehl einlegen wird. (Rn. 16 – 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Gericht geht davon aus, dass es sich bei den in Nr. 4141 VV RVG aufgeführten Fällen lediglich um Beispiele handelt. Der im vorliegende Fall eingeschlagen Verfahrensgang wurde wohl vom Gesetzgeber lediglich übersehen, da diese Lösung früher nicht so häufig vorkam. Es ist von einer Regelungslücke auszugehen. (Rn. 17 – 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Strafbefehlsverfahren, zusätzliche Gebühr, Entbehrlichkeit der Hauptverhandlung, Regelungslücke
Rechtsmittelinstanzen:
LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 16.01.2023 – 12 Qs 76/22
OLG Nürnberg, Beschluss vom 07.03.2023 – Ws 139/23
Fundstelle:
BeckRS 2022, 39658
Tenor
1. Die Erinnerung der Bezirksrevisorin bei dem Amtsgericht Nürnberg vom 22.09.2022 gegen den Festsetzungsbeschluss vom 19.09.2022 wird zurückgewiesen.
2. Die Gebühren und Auslagen der Verteidigerin, Frau Rechtsanwältin S., werden auf 881,79 € festgesetzt.
Gründe
1
Der seinerzeit Beschuldigte P. wurde am 01.08.2022 wegen des Vorwurfs des besonders schweren Falls des Ladenddiebstahls festgenommen und dem Ermittlungsrichter vorgeführt. Am 02.08.2022 erließ der Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Nürnberg Haftbefehl gegen den Beschuldigten.
2
Mit Verfügung des Amtsgerichts Nürnberg vom 02.08.2022 wurde dem Beschuldigten Frau Rechtsanwältin S. als Pflichtverteidigerin bestellt.
3
Mit Schreiben vom 16.08.2022 regte die Verteidigerin bei der Staatsanwaltschaft NürnbergFürth an, einen Strafbefehl gegen ihren Mandanten zu beantragen.
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Mit Verfügung vom 18.08.2022, bei Gericht eingegangen am 25.08.2022 beantragte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth den Erlass eines Strafbefehls, durch den der Angeklagte wegen Diebstahls in 3 Fällen gemäß §§ 242 Abs. 1, 243 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3, 53 StGB zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Monaten verurteilt werden sollte.
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Des Weiteren wurde beantragt, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe gemäß § 56 Abs. 1, 3 StGB zur Bewährung auszusetzen und den entsprechenden Bewährungsbeschluss zu erlassen.
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Das Amtsgericht Nürnberg erließ am 29.08.2022 den Strafbefehl und den Bewährungsbeschluss.
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Nach Übersetzung wurden der Strafbefehl sowie der Beschluss dem damaligen Angeklagten am 30.08.2022 zugestellt. Am selben Tag wurde der Haftbefehl des Amtsgerichts Nürnberg vom 02.08.2022 aufgehoben und der Verurteilte wurde aus der Untersuchungshaft entlassen.
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Mit Schreiben vom 31.08.2022, bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth eingegangen am 01.09.2022 beantragte die Verteidigerin, die Gebühren und Auslagen festzusetzen sowie den Betrag von 881,79 € zu erstatten.
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Die Kostenbeamtin setzte mit Beschluss vom 19.09.2022 die Gebühren und Auslagen antragsgemäß auf 881,79 € fest.
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Mit Schreiben vom 22.09.2022 legte die Bezirksrevisorin bei dem Amtsgericht Nürnberg gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss vom 19.09.2022 insoweit Erinnerung ein, als darin eine Gebühr gemäß Nr. 4141, 4104 VV RVG nebst anteiliger Umsatzsteuer berücksichtigt worden ist.
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Mit Verfügung vom 06.10.2022 erklärte die Kostenbeamtin, dass sie der Erinnerung gegen den Kostenansatz nicht abhelfe und legte die Akten dem Amtsgericht Nürnberg zur Entscheidung über die Erinnerung der Bezirksrevisorin gegen den Festsetzungsbeschluss vom 19.09.2022 vor.
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Die Verteidigerin wurde dazu angehört.
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Die Erinnerung vom 22.09.2022 ist gemäß § 66 GKG zulässig, jedoch nicht begründet.
14
Die Erinnerung richtet sich gegen die Festsetzung einer zusätzlichen Gebühr gemäß Nr. 4141, 4104 VV RVG in Höhe von 145,00 E. Zur Begründung wird vorgetragen, dass die Gebühr nicht entstanden sei, da der vorliegende Fall nicht dem Wortlaut der Nr. 4141 VV RVG entspreche. Auch sei eine entsprechende Anwendung der Vorschrift nicht statthaft, da keine planwidrige Regelungslücke vorliege.
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Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden.
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Nr. 4141 VV RVG setzt voraus, dass durch die anwaltliche Mitwirkung eine Hauptverhandlung entbehrlich wird. Dies ist im vorliegenden Fall zu bejahen. Durch die Bemühungen der Verteidigerin und der formlosen Einigung mit der Staatsanwaltschaft hat letztere einen Strafbefehl beantragt, wobei beide Seiten davon ausgingen, dass die Verteidigung keinen Einspruch gegen den Strafbefehl einlegen würde. Hätte die Verteidigung nach Erlass des Strafbefehls einen Einspruch eingelegt, so wäre im Falle der Rücknahme des Einspruchs vor der Hauptverhandlung die Vorschrift der Nr. 4141 Abs. 1 Nr. 3 VV RVG direkt anwendbar gewesen. Dies hätte jedoch dazu geführt, dass entgegen dem Beschleunigungsgebot der damalige Angeklagte länger in Untersuchungshaft verblieben wäre und das Gericht zudem noch einen Termin hätte bestimmen müssen. Durch die Mitwirkung der Verteidigerin im Vorfeld kam es zu einer zeitlichen Verkürzung des Verfahrens, was im Interesse aller Beteiligten lag.
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Das Gericht geht davon aus, dass es sich bei den in Nr. 4141 VV RVG aufgeführten Fällen lediglich um Beispiele handelt. Der im vorliegende Fall eingeschlagen Verfahrensgang wurde wohl vom Gesetzgeber lediglich übersehen, da diese Lösung früher nicht so häufig vorkam.
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Gerade seit Ausbruch der Coronapandemie im Jahre 2020 wurde vielfach von der Möglichkeit des Strafbefehlsverfahrens selbst bei Verhängung von Freiheitsstrafen Gebrauch gemacht, um Hauptverhandlungen zu vermeiden. Die Verteidiger waren insoweit auch an der Verfahrensbeschleunigung beteiligt und haben dadurch mitgewirkt, Hauptverhandlungen entbehrlich zu machen.
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Damit ist hier von einer Regelungslücke auszugehen.
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Die Verteidigerin hat im Vorverfahren einen zusätzlichen Arbeitsaufwand gehabt, der nicht nur das Verfahren beschleunigt, sondern auch eine Hauptverhandlung entbehrlich gemacht hat. Daher ist ihr die zusätzliche Gebühr gemäß Nr. 4141 Abs. 1 Nr. 3 VV RVG zuzusprechen.
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Die Gebühren und Auslagen werden somit wie bereits im Kostenfestsetzungsbeschluss vom 19.09.2022 vorgesehen auf 881,79 € festgesetzt.
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Gegen diesen Beschluss wird die Beschwerde zugelassen.