Titel:
Weder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Zugehörigkeit zur Gruppe der Hazara noch aufgrund geschlechtsbezogener politischer Verfolgung – afghanische Staatsangehörige
Normenketten:
AsylG § 3, § 3b Abs. 1 Nr. 4a, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsätze:
1. Eine den Angehörigen der Ethnie der Hazara drohende Gruppenverfolgung ist in Afghanistan – jedenfalls derzeit (noch) – nicht anzunehmen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die fraglos frauenfeindliche Politik der Taliban in Afghanistan rechtfertigt für sich allein nach den aktuellen Erkenntnismitteln nicht die Annahme, dass Frauen generell einer flüchtlingserheblichen geschlechtsbezogenen politischen Verfolgung in Afghanistan unterliegen würden. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Afghanistan, Zulässiger Folgeantrag, „Aufstockerklage“, Hazara, Konversion zum Christentum (nicht glaubhaft), Geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen (verneint), Nichterscheinen zur mündlichen Verhandlung, Verweis auf Ausgangsbescheid, Flüchtlingseigenschaft, Afghanistan, Konversion, Christentum, geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen, afghanische Staatsangehörige, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
Fundstelle:
BeckRS 2022, 39520
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die im Jahr 1959 geborene Klägerin ist afghanische Staatsangehörige, Zugehörige der Volksgruppe der Hazara und christlichen Glaubens. Ihr am .. April 2019 gestellter Asylantrag wurde mit bestandskräftigem Bescheid vom … Juli 2019 als unzulässig abgelehnt (Nr. 1) und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2) sowie die Abschiebung nach Griechenland, oder in einen anderen Staat, in den sie einreisen darf oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht. Die Klägerin darf nicht nach Afghanistan abgeschoben werden (Nr. 3).
2
Am … Februar 2020 stellte sie einen Asylfolgeantrag. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sie bei ihrer Rückkehr nach Griechenland keine Unterstützung, Wohnung oder Arbeit bekommen habe. Die Klägerin sei konvertiert, weshalb es für sie sehr gefährlich gewesen sei, in Afghanistan zu bleiben.
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Der nunmehr Klägerbevollmächtigte führte mit Schriftsatz vom .. Februar 2020 im Wesentlichen ergänzend aus, dass sich die katastrophalen humanitären Bedingungen in Griechenland nochmals verschlechtert hätten. Eine menschenwürdige Lebensgrundlage sei dort nicht zu erreichen.
4
Ein Flüchtlingsausweis und ein Reisepass, ausgestellt von der Republik Griechenlands, wurden vorgelegt.
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Im Rahmen der informatorischen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am .. Juli 2022 gab die Klägerin insbesondere an, dass es für Christen dort kein Leben gebe. Sie hätten immer freitags gebetet und Angst gehabt, dass ihnen etwas angetan werde. Eine Kirche gebe es dort nicht und sie hätten alles über einen Fernsehsender angeschaut. Ihr Sohn habe Bücher über das Christentum gelesen und versucht, Drogenabhängige und andere Leute zu einer Konversion zu überreden. In Deutschland gehe sie derzeit nicht in die Kirche. Ihr Leben habe sich - auch in wirtschaftlicher Hinsicht - verbessert. In Afghanistan wisse niemand, dass sie Christen geworden seien. Dort lebten keine Verwandten mehr und die Klägerin - die über keine Schulbildung verfüge - sei Hausfrau gewesen.
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Mit Bescheid vom … Juli 2022, als Einschreiben am … Juli 2022 zur Post gegeben, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) ab und stellte aber fest, dass das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt (Nr. 4).
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Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens seien vorliegend gegeben (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG). Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG sei dann nicht möglich, wenn - wie hier - angesichts der zu erwartenden Lebensverhältnisse in Griechenland der Eintritt einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK (bzw. Art. 4 GrCh) beachtlich wahrscheinlich sei. Bei einer sachlichen Prüfung der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes durch das Bundesamt entfalte die Entscheidung der griechischen Asylbehörde keine Bindungswirkung. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte lägen nicht vor. Die Klägerin habe ihre begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden aufgrund ihrer in Afghanistan erfolgten Konversion zum Christentum nicht glaubhaft gemacht. Dem Vorbringen der Klägerin fehle es an Konkretheit, Anschaulichkeit und Detailreichtum. Es sei nicht davon auszugehen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in ihr Heimatland wegen ihres Religionswechsels mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verfolgungsgefährdet wäre. Vielmehr werde die Klägerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine religiösen Betätigungen vornehmen, die sie der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen würde. Auch bedeute der Verzicht auf solche Handlungen keine unzulässige Einschränkung ihrer religiösen Identität. Es habe nicht die notwendige Überzeugungsgewissheit gewonnen werden können, dass der Hinwendung der Klägerin zum Christentum ein eigenständig tragfähiger, ernstgemeinter religiöser Einstellungswandel ohne Opportunitätserwägungen zugrunde liege und der Glaubenswechsel nunmehr die religiöse Identität präge. Die beim Bundesamt genannten Gründe für die Hinwendung zum Christentum reichten für eine gereifte und gefestigte innere religiöse Haltung nicht aus. Aus welchen konkreten glaubensspezifischen Gründen sich die Klägerin vom Islam abgewandt und für einen Wechsel zum Christentum entschieden habe, habe sie nicht überzeugend darlegen können. Fragen nach Argumenten, die sie vom Christentum überzeugt hätten, habe sie nur oberflächlich und phrasenhaft beantworten können. Bei einer unterstellten Rückkehr in ihr Heimatland habe die Klägerin nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung oder den Eintritt eines ernsthaften Schadens zu befürchten. Eine andere Beurteilung folge auch nicht aufgrund der Machtübernahme der Taliban im August 2021. Zwar lägen Kenntnisse über grobe Menschenrechtsverletzungen, darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Erschießungen vor und insbesondere ehemalige Regierungsmitarbeiter sowie Journalisten und Aktivisten fürchteten Repressalien. Aus den Schilderungen der Klägerin sei jedoch nicht zu erkennen, dass sie zu dieser Zielgruppe gehöre. Es könne auch nicht angenommen werden, dass der Klägerin durch ihren bloßen Auslandsaufenthalt eine abweichende politische oder religiöse Meinung pauschal unterstellt würde und dass sich hieran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrechtlich relevante Verfolgungshandlungen anschließen würden. Gleiches gelte für den Vorwurf der „Verwestlichung“.
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Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Die Klägerin habe ihr Heimatland unverfolgt verlassen, weshalb der Eintritt einer Rechtsgutsverletzung bei Rückkehr nicht beachtlich wahrscheinlich sei. Auch müsse sie keinen ernsthaften Schaden aufgrund von willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG befürchten. Aufgrund der derzeitigen Sicherheitslage könne nicht festgestellt werden, dass jede Zivilperson unabhängig von besonderen gefahrerhöhenden Umständen allein aufgrund ihrer Anwesenheit in K. … - als regelmäßiger Zielort von Abschiebungen -, einer anderen größeren Stadt oder allgemein in Afghanistan einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Jedenfalls liege keine ernsthafte individuelle Bedrohung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit vor. Auch der I. sei kein maßgeblicher Akteur in diesem Konflikt, da er keine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebietes ausübe, dass er anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen könne.
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Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG liege hinsichtlich Afghanistans aufgrund der dortigen humanitären Bedingungen vor.
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Hiergegen erhob der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom … Juli 2022, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München eingegangen am .. August 2022, Klage und beantragte,
- 1.
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den Bescheid der Beklagten vom … Juli 2022 aufzuheben, soweit er die Klägerin beschwert,
- 2.
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die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen,
- 3.
-
die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
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Die derzeitige Situation in Afghanistan müsse für die Klägerin zwingend zur Flüchtlingsanerkennung führen.
12
Die Beklagte beantragte,
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Zur Begründung bezog sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts sowie auf die vorgelegte bzw. beigezogene Behördenakte sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am … Dezember 2022 Bezug genommen (vgl. § 117 Abs. 3 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
Entscheidungsgründe
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Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am … Dezember 2022 trotz Ausbleibens der Beteiligten entschieden werden. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Falle des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet, da der Bescheid vom … Juli 2022 rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Diese hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigte, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes (§ 113 Abs. 5 VwGO). Das Gericht nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid (§ 77 Abs. 2 AsylG) Bezug, zumal die Klagepartei zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist und auch schriftsätzlich den Bescheid nicht (substantiiert) in Frage gestellt hat. Ergänzend wird Folgendes ausgeführt:
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1. Die Anerkennung als Asylberechtigte scheidet bereits aus, da die Klägerin auf dem Landweg und damit aus einem sicheren Drittstaat in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eingereist ist (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. § 26a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AsylG).
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2. Ein Verfolgungs- oder Lebensschicksal, das die Zuerkennung einer Rechtsstellung als Flüchtling rechtfertigen würde, ist vorliegend aus dem Vortrag der Klägerseite nicht erkennbar.
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2.1 Gemäß § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgungshandlungen werden in § 3a AsylG näher umschrieben, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG erläutert. Eine Verfolgung kann nach § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Allerdings wird dem Ausländer gemäß § 3e Abs. 1 AsylG die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
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Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypo-thetisch zu unterstellenden Rückkehr - die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „aus begründeter Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 37.18 - juris Rn. 13).
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Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ist allerdings die Tatsache, dass ein Antragsteller in seinem Herkunftsland bereits vorverfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2010 - 10 C 11.09; U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09; VGH BW, U.v. 17.1.2018 - A 11 S 241/17 - juris Rn. 47 ff.; U.v. 9.11.2010 - A 4 S 703/10; U.v. 27.9.2010 - A 10 S 689/08). Ist der Ausländer demgegenüber unverfolgt aus seinem Heimatland ausgereist, ist die Flüchtlingseigenschaft nur dann zuzuerkennen bzw. kann auch subsidiärer Abschiebungsschutz regelmäßig nur dann gewährt werden, wenn ihm zukünftig nach den konkreten Fallumständen eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht und ihm deshalb eine Rückkehr in den Heimatstaat nicht zuzumuten ist. Dies setzt eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne Weiteres mit jederzeitigem Verfolgungseintritt aktuell rechnen muss (vgl. BVerwG, U.v. 24.11.2009 - 10 C 24.08 - juris).
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Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Insbesondere wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, ist für die Glaubwürdigkeit auf die Plausibilität des Tatsachenvortrags des Asylsuchenden, die Art seiner Einlassung und seine Persönlichkeit - insbesondere seine Vertrauenswürdigkeit - abzustellen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissenstand und Herkunft des Asylbewerbers berücksichtigt werden (vgl. OVG NRW, U.v. 17.8.2010 - 8 A 4063/06.A - juris Rn. 34). Der Asylsuchende ist insoweit gehalten, seine Gründe für eine Verfolgung bzw. Gefährdung schlüssig und widerspruchsfrei mit genauen Einzelheiten vorzutragen. Bei erheblichen Widersprüchen und Steigerungen im Sachvortrag kann dem Schutzsuchenden nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden; hierbei bilden das Verfahren vor der Verwaltungsbehörde und das gerichtliche Verfahren eine Einheit (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 - 9 C 27.85 - juris).
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2.2 Die Klägerin ist nach Überzeugung des Gerichts nicht vorverfolgt und es droht ihr bei einer Einreise nach Afghanistan auch keine Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG.
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a. Der Umstand, dass die Klägerin Hazara ist, kann auch unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel nicht zur Bejahung der Flüchtlingseigenschaft führen. Eine den Angehörigen der Ethnie der Hazara drohende Gruppenverfolgung ist - jedenfalls derzeit (noch) - nicht anzunehmen (vgl. VG München, U.v. 8.11.2022 - M 25 K 17.41200 - UA Rn. 19 ff.; VG Berlin, U.v. 24.3.2022 - 20 K 666.17 A - juris; VG Greifswald, U.v. 10.3.2022 - 3 A 2070/20 HGW - juris):
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Seit der Machtübernahme im August 2021 hat sich die Lage für die Hazara wieder verschlechtert, auch wenn die Taliban wiederholt erklärt haben, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und insbesondere den Hazara Zusicherungen gemacht haben. Zwar haben die Taliban als Beleg für die Ernsthaftigkeit ihrer Äußerungen u.a. die schiitischen A.-Feierlichkeiten am 19. August 2021 abgesichert, sich medienwirksam mit Hazara-Führern getroffen sowie zwei Hazara (zweiter stellvertretender Gesundheitsminister und stellvertretender Wirtschaftsminister) ins Kabinett berufen (vgl. BAMF, Afghanistan, Länderanalysen, Kurzinformation, Lage der Hazaras, Mai 2022, S. 5; EASO, Afghanistan Country focus, Country of Origin Information Report, Januar 2022, S. 42; Lagebericht v. 22.10.2021, S. 10). Darüber hinaus werden jedoch Hazara und weitere nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert und selbst auf lokaler Ebene kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Lagebericht) v. 20.7.2022, S. 12). Diskriminierungen im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich halten weiter an (vgl. https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/rights-freedom/un-human-rights-warns-of-afghanistans-descent-into-authoritarianism/). Zudem existieren Berichte über Übergriffe der Taliban seit der Machtübernahme. So kam es im Rahmen ihres Eroberungsfeldzugs in den Hazara-Gebieten sowie in anderen Gebieten des Landes zu willkürlichen Erschießungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen, auch wenn die Tötungen im Wesentlichen nicht im Zusammenhang mit der Volkszugehörigkeit, sondern mit der (mutmaßlichen) Verbindung der Opfer zu früheren afghanischen Sicherheitskräften stehen sollen (vgl. BAMF, Afghanistan, Länderanalysen, Kurzinformation, Lage der Hazaras, Mai 2022, S. 5; VG Berlin, U.v. 24.3.2022 - 20 K 666.17 A - juris Rn. 43 m.w.N.). Viele Hazara-Familien sollen seit der Machtübernahme aufgefordert worden sein, ihre Häuser und Ackerböden zu verlassen (vgl. EASO, Afghanistan Country focus, Country of Origin Information Report, Januar 2022, S. 42). Die meisten Vertreibungen erfolgten in ländlichen Gebieten in den Provinzen D., U., K., H. und B.. (vgl. ACCORD, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, 15.11.2021, S. 8 f.). Am stärksten betroffen waren 15 Dörfer in D. und U., wo im September mindestens 2.800 Hazara vertrieben wurden (Danish Immigration Service (DIS), Afghanistan - Recent Events, Dezember 2021, S. 28; ACCORD, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan 15.11.2021, S. 9). Für die Provinz D. wurde auch von ca. 400 Familien gesprochen, von denen aber nach Erkenntnissen der Vereinten Nationen die meisten mittlerweile wieder zurückkehren konnten. Weitere derartige Vertreibungen soll es seitdem aber nicht mehr gegeben haben (vgl. u.a. European Union Agency for Asylum (EUAA), Country of Origin Information, Afghanistan Targeting of Individuals, August 2022, S. 136 f.). Nach Einschätzung von Human Rights Watch (HRW) beruht die Diskriminierung von Hazara bei illegaler Landnahme vor allem auf lokalen Konflikten, wird aber von der Taliban-Führung toleriert (vgl. Lagebericht v. 20.7.2022, S. 12). Eine klare systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die de facto-Regierung lässt sich jedoch nicht feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (vgl. Lagebericht v. 20.7.2022, S. 12; DIS, Afghanistan - Recent Events, Dezember 2021, S. 28).
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Hazara sind aber weiterhin besonders gefährdet, Opfer von Anschlägen des Islamischen Staats in der Provinz K. (I.) zu werden, auch wenn dessen Angriffe nach der Machtübernahme zunächst kurzzeitig zurückgingen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Stand: 10.8.2022, S. 129). Nach einem Bericht von HRW hat sich der I. seit der Machtübernahme für 13 Angriffe gegen Hazara verantwortlich erklärt, bei denen mindestens 700 Menschen getötet und verletzt wurden (vgl. HRW, ISIS Group targets religious minorities, 6.9.2022 - abrufbar unter: https://www.hrw.org/news/2022/09/06/afghanistan-isis-group-targets-religious-minorities; EUAA, Country of Origin Information, Afghanistan Targeting of Individuals, August 2022, S. 139 ff. zu den einzelnen Anschlägen der Jahre 2021 und 2022). Zuletzt kamen bei einem Bombenanschlag auf ein schiitisches Bildungsinstitut in West-K. am 30. September 2022, der mit I. in Verbindung gebracht wurde, 53 Menschen ums Leben und 110 Personen wurden verletzt (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 24.10.2022, S. 2; 11.10.2022, S. 2). Nach Einschätzung der Vereinten Nationen schützen die Taliban die Hazara bislang nicht genügend vor Anschlägen (vgl. Lagebericht v. 20.6.2022, S. 13). Berichten zufolge haben die Taliban Journalisten nur beschränkt Zugang zu Anschlagsorten gewährt und Krankenhäuser angewiesen, die Zahl der Todesopfer nicht offenzulegen. Aufrufe der Hazara zu Ermittlungen der Anschläge blieben unbeantwortet (vgl. EUAA, Country of Origin Information, Afghanistan Targeting of Individuals, August 2022, S. 141).
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Angesichts der dargestellten - nicht abschließenden - sicherheitsrelevanten Ereignisse zum Nachteil von Hazara wird zwar ersichtlich, dass die Sicherheitslage für die Volksgruppe besorgniserregend ist. Die Einzelrichterin schließt sich dennoch - jedenfalls derzeit - der Bewertung der oben genannten verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung an, wonach die genannten Benachteiligungen und gewaltsamen Übergriffe nicht die dafür erforderliche Verfolgungsintensität und -dichte im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG aufweisen. Die Hazara sind in der afghanischen Bevölkerung als drittgrößte ethnische Gruppe mit etwa 9 bis 20% und als schiitische Religionszugehörige mit ca. 10 bis 15% vertreten (Lagebericht v. 20.7.2022, S. 12), so dass sich auch aus dem Verhältnis der bekanntgewordenen Opferzahlen zum Anteil der Hazara an der afghanischen Bevölkerung - jedenfalls derzeit - kein Hinweis auf eine Gruppenverfolgung ableiten lässt. Das gilt auch bei Würdigung einer zu der verifizierten Anzahl toter und verletzter Zivilisten hinzutretenden Dunkelziffer (vgl. VG Berlin, U.v. 24.3.2022 - 20 K 666.17 A - juris Rn. 45).
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b. Die von der Klägerin geltend gemachte Konversion zum Christentum und die damit in Zusammenhang stehende Vorverfolgung ist auch nach Auffassung des Gerichts nicht glaubhaft. Auf die Ausführungen des Bundesamts im streitgegenständlichen Bescheid wird insoweit verwiesen, zumal das Gericht infolge des Nichterscheinens der Klagepartei zur mündlichen Verhandlung das klägerische Vorbringen nicht weiter überprüfen konnte. Das Vorbringen der Klagepartei vor dem Bundesamt am .. Juli 2022 widerspricht bereits den Ausführungen beim Bundesamt am … April 2019. So gab die Klägerin im Jahr 2019 an, dass die Familie aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit telefonisch bedroht und belästigt worden sei, während sie hierzu im Jahr 2022 aussagte, dass keiner in Afghanistan von ihrer Konversion gewusst habe. Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist ist. Hinzu kommt, dass der formale Glaubenswechsel auch nicht durch eine Taufe nachgewiesen wurde (vgl. hierzu BVerfG, B.v. 3.4.2020 - 2 BvR 1838/15 - juris Rn. 29).
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c. Sofern sich der Prozessbevollmächtigte auf eine der Klägerin drohende geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 3 AsylG beruft, liegt eine solche nach Auffassung des Gerichts nicht vor.
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(1) Nach dieser Vorschrift kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn diese allein an das Geschlecht anknüpft. Eine bestimmte soziale Gruppe liegt nach der Vorschrift des § 3b Abs. 1 Nr. 4a und 4b AsylG insbesondere dann vor, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen ist, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist weiterhin geklärt, dass im Einklang mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12, C-200/12, C-201/12 [ECLI: ECLI:EU:C:2013:720] -, Minister voor Immigratie en Asiel/X und Y sowie Z/Minister voor Immigratie en Asiel - NVwZ 2014, 132 Rn. 45; U.v. 25.1.2018 - C-473/16 [ECLI: ECLI:EU:C:2018:36], F/Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal - juris Rn. 30) die mit den Buchstaben a und b gekennzeichneten Voraussetzungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG kumulativ erfüllt sein müssen. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU ist in Verbindung mit der vorstehend bezeichneten Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend eindeutig zu entnehmen, dass eine bestimmte soziale Gruppe in diesem Sinne nicht vorliegt, wenn die betroffene Gruppe nicht in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat beziehungsweise nicht von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - juris Rn. 29, 31). Bei geschlechtsspezifischen Verfolgungsmaßnahmen wird schon im Tatbestand der Verfolgungshandlung die Zielgruppe als soziale Gruppe i.S.v. § 3b AsylG indiziert.
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Bereits vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 sahen sich Frauen in Afghanistan - trotz aller vorausgegangenen Reformen - erheblichen gesellschaftlichen und sozialen Diskriminierungen ausgesetzt (vgl. hierzu ausführlich VG Freiburg (Breisgau) - U.v. 11.10.2021 - A 15 K 4778/17 - juris Rn. 15) und die afghanische Regierung war nicht willens oder in der Lage, Frauenrechte in Afghanistan vollumfänglich umzusetzen (vgl. Lagebericht v. 20.7.2022, S. 14). In den Wochen nach der Machtübernahme durch die Taliban verkündeten diese zahlreiche Maßnahmen und Verordnungen, welche die Rechte von Frauen und Mädchen einschränkten, darunter der Zugang zu Beschäftigung und Bildung, das Recht auf friedliche Versammlung und die Bewegungsfreiheit. Berichten zufolge sind Repressionen und Einschränkungen für Frauen, die Kleidungsvorschriften, die Pflicht zu männlicher Begleitung in der Öffentlichkeit, Einschränkung von Schulbesuch und Berufsausübung bis hin zur Zwangsverheiratung mit Talibankämpfern betreffen, von lokalen und individuellen Umständen abhängig (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Stand: 10.8.2022, S. 139 f.). Am 3. Dezember 2021 haben die Taliban ein Dekret erlassen, das Zwangsheirat verbietet und es untersagt, Frauen als „Eigentum“ zu betrachten. Witwen sollen 17 Wochen nach dem Tod ihres Mannes wieder heiraten und ihren neuen Ehemann frei wählen dürfen und sie haben ein Recht auf Erbe und Mitgift. Am 7. Mai 2022 wurde eine Verordnung erlassen, die Frauen anweist, sich von Kopf bis Fuß zu bedecken bzw. eine Burka oder einen langen, schwarzen Schleier zu tragen, der alles außer den Augen bedeckt. Der Erlass sieht zunächst eine Sensibilisierung vor, gefolgt von Verwarnungen und Disziplinarmaßnahmen gegen Ehemänner, Väter und Brüder von Frauen, die sich nicht an die Verordnung halten. Gleichzeitig wurde allen Frauen empfohlen, das Haus nur noch zu verlassen, wenn es unbedingt notwendig ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Afghanistan: Gefährdungsprofile, Stand: 2.11.2022, S. 9 f.). Allgemein nehmen Restriktionen zu und das repressive gesellschaftliche Klima führt dazu, dass Frauen häufig von sich aus ihren Bewegungsradius einschränken bzw. Familien dafür Sorge tragen (vgl. Lagebericht v. 20.7.2022, S. 15). Viele Experten äußerten ihre besondere Besorgnis über Menschenrechtsverteidigerinnen, Aktivistinnen und führende Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, Richterinnen und Staatsanwältinnen, Frauen in den Sicherheitskräften, ehemalige Regierungsangestellte und Journalistinnen, die alle in erheblichem Maße Schikanen, Gewaltandrohungen und manchmal auch Gewalt ausgesetzt waren und für die der zivile Raum stark eingeschränkt wurde (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Stand: 10.8.2022, S. 134).
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(2) Nach alledem erlauben zwar mithin weder die frauenverachtenden Vorschriften der Taliban, noch die allgemeine gesellschaftliche Situation Frauen ein menschenwürdiges Leben in Afghanistan. Dennoch rechtfertigt die fraglos frauenfeindliche Politik der Taliban in Afghanistan für sich allein nach den aktuellen Erkenntnismitteln nicht die Annahme, dass Frauen generell einer flüchtlingserheblichen geschlechtsbezogenen politischen Verfolgung in Afghanistan unterliegen würden. Vielmehr sind bei der Beurteilung, ob eine geschlechtsspezifische Verfolgung vorliegt, die konkreten Umstände des Einzelfalls, d.h. die individuelle Situation der Frau nach ihrer Stellung und dem regionalen und sozialen, insbesondere familiären Hintergrund zu berücksichtigen (vgl. VG Bremen, U.v. 26.11.2021 - 3 K 302/20 - juris Rn. 24 m.w.N.).
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Hiervon ausgehend ergibt sich bei einer umfassenden Gesamtwürdigung aller individuellen Umstände des Einzelfalls für die Klägerin keine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgungsgefahr. Bei der Klägerin handelt es sich um eine 63-jährige, verwitwete Frau, die den Großteil ihres Lebens (57 Jahre) in Afghanistan verbracht hat und entsprechende kulturelle Prägungen, insbesondere hinsichtlich des Verständnisses der Rolle der Frau in der Gesellschaft, erfahren hat. So hat die Klägerin angeben, weder über Schulbildung noch Arbeitserfahrung zu verfügen und Hausfrau gewesen zu sein, womit sie gerade nicht den vorgenannten gefährdeten Berufsgruppen angehört. Dass die Klägerin ein „westliches“ Rollenverständnis, welchem die Gleichberechtigung von Mann und Frau zugrunde liegt, angenommen hat, wurde weder vorgebracht noch ist dies aus ihren Ausführungen beim Bundesamt ersichtlich, zumal die Klägerin nach den darin befindlichen Lichtbildern weiterhin Kopftuch trägt. Überdies verfügt die Klägerin nach ihren Angaben vor dem Bundesamt im Jahr 2019 noch über entferntere Verwandte (Onkel und Tanten) in Afghanistan und damit über ein tragfähiges, familiäres Netzwerk, welches ihr Schutz vor Übergriffen etc. bieten könnte. Schließlich ist davon auszugehen, dass die im Iran und in Europa lebende Familie der Klägerin diese finanziell unterstützen und die Klägerin in Afghanistan über das sog. H.-System (vgl. https://www.profil.at/ausland/wie-ich-meinem-cousin-geld-nach-afghanistan-schicke/402019050) auch auf das Geld zugreifen kann. Die Klägerin unterscheidet sich mithin nicht von anderen Rückkehrern oder auch anderen vulnerablen Gruppen, sodass hier lediglich eine schlechte Versorgungs- oder Sicherheitslage die (Wieder-)Eingliederung in die afghanische Gesellschaft verhindert und gerade nicht wegen der Anknüpfung an das Geschlecht die persönliche Entfaltung vollständig unmöglich gemacht oder sie sogar in ihrer Existenz bedroht wird (vgl. hierzu VG Freiburg (Breisgau), U.v. 11.10.2021 - A 15 K 4778/17 - juris Rn. 29 m.w.N.).
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3. Schließlich kann die Klägerin auch nicht die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG beanspruchen.
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3.1 Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:
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1. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
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2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
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3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
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3.2 Da seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG mehr besteht (vgl. hierzu u.a. VG München, U.v. 8.11.2022 - M 25 K 17.41200 - UA Rn. 30; VG Greifswald, U.v. 13.5.2022 - 3 A 1469/19 HGW, 7805036 - juris; VG München, U.v. 10.2.2022 - M 2 K 19.31351 - UA Rn. 32 m.w.N.; VG Bremen, U.v. 14.1.2022 - 3 K 3558/17 - juris) und auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass der Klägerin dort die Todesstrafe oder Folter droht, kommt hier allenfalls eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 AsylG in Betracht.
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a. Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen. Kriterien hierfür sind etwa die Art der Behandlung oder Bestrafung und der Zusammenhang, in dem sie erfolgt, die Art und Weise der Vollstreckung, ihre zeitliche Dauer, ihre physischen und geistigen Wirkungen sowie gegebenenfalls Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Abstrakt formuliert sind darunter Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (vgl. VGH BA, U.v. 6.3.2012 - A 11 S 3070/1 - juris Rn. 16; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Juni 2022, § 4 AsylG Rn. 19 ff. m.w.N.).
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Der Ausländer hat stichhaltige Gründe für die Annahme darzulegen, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Der Maßstab der stichhaltigen Gründe entspricht dabei dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, wobei das Element der Konkretheit der Gefahr das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation kennzeichnet. Bei qualifizierender Betrachtungsweise, d.h. bei einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung, müssen die für die Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht haben und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Die in diesem Sinne erforderliche Abwägung bezieht sich nicht allein auf das Element der Eintrittswahrscheinlichkeit, sondern auch auf das Element der zeitlichen Nähe der befürchteten Ereignisse und auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs ist in die Betrachtung einzubeziehen (vgl. z.B. VGH BW, U.v. 6.3.2012 - A 11 S 3070/11 - juris Rn. 17 m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Juni 2022, § 4 AsylG Rn. 19 ff. m.w.N.).
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b. Diese Kriterien sind in der Person der Klägerin nicht erfüllt. Auch insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die obigen Ausführungen (s. 2.2) verwiesen.
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Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).