Titel:
Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans
Normenketten:
BauGB § 1 Abs. 3, Abs. 6, Abs. 7, § 30, § 31
BauNVO § 19
BayBO Art. 55
Leitsätze:
1. Der sich aus § 19 BauNVO ergebende Maßbestimmungsfaktor hat auch Bedeutung für Grundstücksteilungen oder -verschmelzungen, durch die keine Verhältnisse entstehen dürfen, die den Festsetzungen des Bebauungsplans widersprechen. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ist das planerische Grundkonzept ohne weiteres aus Planzeichnung und textlichen Festsetzungen erkennbar, reicht dies für die Feststellung eines Grundzuges der Planung aus. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ob eine Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 BauGB in Betracht kommt, weil die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab; entscheidend ist, ob die Befreiung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
4. Auch wenn der Plangeber „angesichts des Falles“ bewusst eine Festsetzung getroffen hat, die einem Vorhaben entgegensteht, scheidet eine Befreiung in aller Regel aus, was insbesondere bei einem vorhabenbezogenen Bebauungsplan gilt, aber auch bei einem sonstigen Bebauungsplan, der mit seinen Festsetzungen auf die konkreten örtlichen Gegebenheiten oder sonstigen Rahmenbedingungen gezielt reagiert oder ganz bestimmte Planungsziele verfolgt, sofern diese durch die Befreiung in Frage gestellt würden. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
5. Städtebaulich vertretbar iSd § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB ist in aller Regel dasjenige, was iSd Anforderungen des § 1 Abs. 6 und 7 BauGB mit der städtebaulichen Entwicklung und Ordnung iSd § 1 Abs. 3 BauGB vereinbar ist, dh vertretbar ist alles, was in einem Bebauungsplan unter Berücksichtigung des Abwägungsgebotes planbar wäre. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Baugenehmigung für die Errichtung einer Doppelhaushälfte, Anspruch auf Befreiung von den festgesetzten Baugrenzen (verneint), Grundzüge der Planung, Baugenehmigung, Bebauungsplan, Genehmigungsfreistellungsverfahren, Doppelhaushälfte, Befreiung, Baugrenze, Grundzüge, Planung, städtebauliche Vertretbarkeit, Abwägungsgebot
Fundstelle:
BeckRS 2022, 39517
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar. Tatbestand: 1 Die Klägerin begehrt die Erteilung einer nachträglichen Baugenehmigung für eine im
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt die Erteilung einer nachträglichen Baugenehmigung für eine im Rahmen eines Genehmigungsfreistellungsverfahrens errichtete Doppelhaushälfte (hier: Haus 12 e) auf dem Grundstück Fl.Nr. 217/28 der Gemarkung … (Vorhabengrundstück). Hinsichtlich der anderen Hälfte des Doppelhauses (Haus 12 d) ist ein weiteres Klageverfahren der Klägerin unter dem Az. M 11 K 21.2655 bei Gericht anhängig.
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Die Klägerin ist Bauherrin und ursprüngliche Eigentümerin des Vorhabengrundstücks, das im Geltungsbereich des Bebauungsplans in der Fassung der „8. Änderung …-Ost …“ der Beigeladenen vom 16. Mai 2017 (im Folgenden: Bebauungsplan) liegt. Der Bebauungsplan überplant ein ca. 2,4 ha großes Gebiet nördlich und südlich der B.-Straße und bezieht dabei im Bereich des streitgegenständlichen Vorhabengrundstücks auch einen südlich an das bisherige Plangebiet angrenzenden Hangbereich ein. Für das entsprechend der ursprünglichen Fassung des Bebauungsplans aus dem Jahre 1963 mit einreihigen Einzelhäusern bebaute Plangebiet setzt der Bebauungsplan nunmehr großzügige Bauräume durch Baugrenzen fest, welche im straßenseitigen Bereich im Wesentlichen dem Straßenverlauf und im Übrigen den Grenzen des Plangebiets folgen; im Bereich des Vorhabengrundstücks verläuft die rückwärtige Baugrenze in einem Abstand von 7,5 m zur südlichen Grundstücksgrenze, während dieser Abstand bei den weiter westlich bzw. östlich gelegenen Grundstücken 3 bzw. 5 m beträgt. Das Vorhabengrundstück, welches nach mehrfachen Grundstücksteilungen und -verschmelzungen aus den im Bebauungsplan als Fl.Nr. 217/24 und 221/3 dargestellten Flächen hervorgegangen ist, liegt im Bereich eines allgemeinen Wohngebiets („WA 3“). Der Bebauungsplan gibt für das gesamte Plangebiet eine Grundflächenzahl (GRZ) von 0,3 bzw. 0,6 vor (vgl. im Einzelnen Ziff. A.3.1 - A.3.3 des Bebauungsplans) und beschränkt die Anzahl der Wohneinheiten auf max. zwei Wohnungen je Wohngebäude (Ziff. A.5).
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Die Klägerin errichtete ab dem Frühjahr 2019 im Genehmigungsfreistellungsverfahren auf den vormals unbebauten, im Bebauungsplan als Fl.Nrn. 217/14, 217/24 und 221/3 dargestellten Flächen südlich der B.-Str. vier Doppelhäuser, von denen jeweils zwei Doppelhäuser an der Straße bzw. in zweiter Reihe situiert wurden. Bei der streitgegenständlichen Doppelhaushälfte handelt es sich um die östliche Hälfte des in zweiter Reihe gebauten, südöstlichen Doppelhauses. Ende Mai/ Anfang Juni 2019 veräußerte die Klägerin die streitgegenständliche Doppelhaushälfte an Frau M., welche am 29. Juni 2020 als neue Eigentümerin des Grundstücks im Grundbuch eingetragen wurde.
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Im November/ Dezember 2019 stellte das Landratsamt D. (im Folgenden: Landratsamt) im Rahmen von Baukontrollen eine planabweichende Bauausführung fest, welche auf die Errichtung einer dritten Wohneinheit in der streitgegenständlichen Doppelhaushälfte schließen lasse. Im Zuge der weiteren bauaufsichtlichen Überprüfungen wurde im Mai 2020 ferner festgestellt, dass sowohl die streitgegenständliche als auch die benachbarte Doppelhaushälfte die rückwärtige Baugrenze des Bebauungsplans überschreiten würden. In der Folge kam es gegenüber der Klägerin zu einer Nutzungsuntersagung vom 4. Juni 2020, deren zwangsweise Durchsetzung Gegenstand weiterer bei Gericht anhängiger Klagen der Frau M. (Az. M 11 K 20.4128 und M 11 K 21.373) sowie eines zwischenzeitlichen Mieters (Az. M 11 K 21.1713) ist.
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Unter dem 12. Juni 2020 beantragte die Klägerin eine „Änderungsgenehmigung“ bzw. „Tektur zum Eingabeplan“ für den Neubau einer Doppelhaushälfte mit Parklift als Doppelanlage auf dem Vorhabengrundstück und der Fl.Nr. 221/4, welche nachträglich mit dem Vorhabengrundstück verschmolzen wurde. Zugleich wurde eine Befreiung für eine Überschreitung der südlichen Baugrenze beantragt. Die damalige Eingabeplanung (Stand 12. Juni 2020) sah vor, dass ein „Steg“ vom Obergeschoss der Doppelhaushälfte zu einer im Bereich der (vormaligen) Fl.Nr. 221/4 in erhöhter Hanglage situierten Terrassenfläche führen sollte. Der im südlichen Grundstücksbereich nach Süden ansteigende Hang sollte mit einer Stützmauer abgestützt und als „Steingarten mit Findlingen und einer Magerwiese“ ausgebildet werden.
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Der Gemeinderat der Beigeladenen verweigerte mit Beschluss vom 28. Juli 2020 das gemeindliche Einvernehmen zu dem Vorhaben.
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Mit Schreiben vom 22. Oktober 2020 teilte das Landratsamt der Klagepartei mit, dass keine Baugenehmigung erteilt werden könne, da das Vorhaben dem Bebauungsplan in mehrfacher Hinsicht widerspreche. Es überschreite den festgesetzten Bauraum sowohl nach Süden mit dem Wohnhaus, als auch nach Osten mit dem Steg (vgl. Festsetzung A.4.1). Ferner überschreite das Vorhaben die zulässige Grundflächenzahl von 0,6 um 1,92 (vgl. Festsetzungen A.3.1 und A.3.3) und halte entgegen Ziff. A.4.2 des Bebauungsplans die gesetzlichen Abstandsflächen nicht ein. Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans kämen nicht in Betracht, da bereits die Grundzüge der Planung berührt würden. Hierzu wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Gemeinde durch die Festsetzung überbaubarer Grundstücksflächen mittels eines Bauraums und die Zulassung möglicher Überschreitungen durch untergeordnete Bauteile eindeutig festgelegt habe, in welchem Bereich Wohnbebauung erfolgen solle. Die Gemeinde habe zur nötigen Befreiung ihr Einvernehmen verweigert und halte damit an der städtebaulichen Zielsetzung fest, was nicht zu beanstanden sei. Bei dem Vorhaben werde der Bauraum sowohl mit dem Hauptbaukörper als auch dem Bauteil „Steg“ erheblich überschritten. Das Vorhaben schaffe einen Bezugsfall, was insgesamt dazu führe, dass die Baugrenzen an planerischer Bedeutung verlören. Ebenso berühre die Überschreitung der zulässigen Grundflächenzahl die Grundzüge der Planung. Entgegen der vorgelegten Berechnung seien hierbei zusätzlich die Flächen des Balkons und der versiegelten Böschung, welche im Freiflächengestaltungsplan als Steingarten mit Findlingen und Magerwiese dargestellt werde, zu berücksichtigen. Da das Vorhaben aus den genannten Gründen bereits nicht genehmigungsfähig sei, könne die Frage der Anzahl der Wohneinheiten dahinstehen. Auf wiederholte Bitten des Klägerbevollmächtigten wurde die gesetzte Äußerungsfrist bis zum 4. Dezember 2020 verlängert.
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Am 4. Dezember 2020 reichte die Klagepartei beim Landratsamt einen neugefassten Änderungsantrag für den Neubau einer Doppelhaushälfte „mit zwei Wohneinheiten“ und Parklift ein (Planungsstand: 30. November 2020). Zugleich wurde eine Befreiung für eine Überschreitung der südlichen Baugrenze auf der Südfassade (im Plan EG grün dargestellte Fläche von 11,91 qm) sowie hilfsweise eine Befreiung von der (Gesamt-)GRZ 0,6 beantragt. In einem Begleitschreiben vom 4. Dezember 2020 wurde hierzu im Wesentlichen ausgeführt, dass der Bauantrag in Hinblick auf die Anmerkungen des Schreibens vom 22. Oktober 2020 erneut geändert worden sei. Der Steg sei nicht mehr Gegenstand des Antrags und anstelle des bisher geplanten Steingartens in der Hangsicherung sei nunmehr vorgesehen, den Hang mit Mutterboden zu bedecken und Rasen anzupflanzen. Die Hangsicherung sei damit vollständig versickerungsfähig. Aufgrund dieser Änderungen sei nur noch eine Befreiung für die Überschreitung der Baugrenze in Richtung Süden erforderlich. Die Gestaltung der Hangsicherung sei so verbessert worden, dass diese mit möglichst geringen Auswirkungen auf den Boden einhergehe und daher nicht mehr GRZrelevant sei. Lediglich höchstvorsorglich werde - soweit der Hang zu berücksichtigen sei - in Bezug auf die GRZ eine Befreiung beantragt. Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass der Bebauungsplan in einigen Bereichen fehlerhafte - weil zu unbestimmte, abwägungsfehlerhafte und nicht erforderliche - Festsetzungen enthalte, was bei der Ermessensausübung über die Erteilung einer etwaig erforderlichen Befreiung zur GRZ und zur Baugrenze berücksichtigt werden müsse; in einem gerichtlichen Verfahren werde der Bebauungsplan keinen Bestand haben. Die Annahme einer dritten Wohneinheit und der gerügte Abstandsflächenverstoß seien nicht nachvollziehbar.
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Mit Schreiben vom 23. März 2021 teilte das Landratsamt der Klagepartei mit, dass sich durch die Vorlage der geänderten Planunterlagen nichts an der im Anhörungsschreiben vom 22. Oktober 2020 vertretenen Rechtsauffassung geändert habe und keine Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens gegeben sei. Zu den Einzelheiten wurde auf das Schreiben vom 22. Oktober 2020 verwiesen. Es wurde erneut Gelegenheit gegeben, den Antrag zurückzunehmen oder mitzuteilen, ob eine förmliche Entscheidung gewünscht werde.
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Am … Mai 2021 ließ die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten Klage erheben. Sie beantragt,
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den Beklagten zu verpflichten, die auf Basis der geänderten Planunterlagen vom 30. November 2020 beantragte Baugenehmigung zu erteilen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen: Die Klage sei geboten gewesen, da sich der Beklagte jeglicher Lösung versperre und keinerlei Gesprächsbereitschaft zeige. Der Beklagte verweise im Schreiben vom 23. März 2021 undifferenziert auf die fehlende Genehmigungsfähigkeit und das Schreiben vom Oktober 2020 zum vorhergehenden Planungsstand, ohne sich mit den Lösungsansätzen der Klägerin auseinander zu setzen. Zwar lägen die Voraussetzungen für ein Genehmigungsfreistellungsverfahren aufgrund eines bedauerlichen Planungsfehlers des Architekten unstrittig nicht vor, die Klägerin habe jedoch Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung. Hinsichtlich der beantragten Befreiung sei das behördliche Ermessen auf Null reduziert. Das streitgegenständliche Gebäude überschreite die Baugrenze an der südlichen Seite mit insgesamt 11,91 qm, was im Rahmen von Baukontrollen im Mai 2020 erstmalig aufgefallen sei. Auch der Klägerin sei dieser Verstoß bis dahin nicht bewusst gewesen, da der Architekt die Baugrenze von Beginn an fehlerhaft in die Pläne übernommen habe. Unverständlich sei indes, weshalb sich an der Bewertung des Anhörungsschreibens vom 22. Oktober 2020 in Bezug auf den Steg nichts geändert haben solle, da dieser in der gegenständlichen Planung von 30. November 2020 nicht mehr enthalten sei. Die insoweit gerügte Überschreitung des Bauraums nach Osten habe sich damit erledigt. Das Vorhaben in der Fassung der Planung vom 30. November 2020 sei planungsrechtlich zulässig und widerspreche hinsichtlich der GRZ und der Anzahl der zulässigen Wohneinheiten nicht den Festsetzungen des Bebauungsplans; für die Überschreitung der Baugrenze nach Süden könne eine Befreiung erteilt werden. In Bezug auf die gerügte GRZ-Überschreitung wurde insbesondere ausgeführt, dass die Klägerin sämtliche alternative Möglichkeiten der Hangsicherung untersucht habe, zwei technisch mögliche Alternativen den Eingriff in die Böschung und die Versickerungsfähigkeit aber nicht verbessern würden. Das Vorhaben halte die vorgegebene Gesamtgrundflächenzahl von 0,6 ein, da die Hangfläche in der zuletzt vorgesehenen Ausführung nicht GRZrelevant sei; jedenfalls könne für eine etwaige Versiegelungswirkung der Hangfläche eine Befreiung nach § 19 Abs. 4 Satz 4 BauNVO erteilt werden. Im Übrigen seien die Grundzüge der Planung diesbezüglich nicht betroffen und eine Befreiung zudem städtebaulich vertretbar. Die Annahme einer dritten Wohneinheit sei nicht nachvollziehbar, was näher ausgeführt wurde. Hinsichtlich der Überschreitung der Baugrenzen lägen die Voraussetzungen einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB vor. Grundzüge der Planung würden hierdurch nicht berührt. Zu berücksichtigen sei, dass mit dem Bebauungsplan keine Baufenster für einzelne Gebäude festgesetzt worden seien, die den exakten Standort der einzelnen Gebäude und ihrer Ausrichtung vorgeben würden. Vielmehr sei ein großer Bauraum festgelegt worden, innerhalb dessen die Anordnung der Gebäude mehr oder weniger beliebig möglich sei. Die Baugrenze orientiere sich im rückwärtigen Bereich an der hinteren Grundstücksgrenze, die schräg zur Straße verlaufe. Das Gebäude sei aber parallel zur Straße ausgerichtet worden, was der übrigen Bebauung im Plangebiet entspreche. Dies führe zur Überschreitung der Baugrenze, die schräg durch den südlichen Teil des Gebäudes verlaufe. Die konkrete Situierung der Gebäude sei durch die Baugrenze nicht geregelt, auch sei nicht ersichtlich, dass die Baugrenze eine besondere städtebauliche Struktur vorgebe. Sie zeichne vielmehr den Verlauf der Grundstücksgrenze nach und regle insofern einen gewissen Abstand zur Grundstücksgrenze, der aber nicht stringent durchgehalten werde. Der Beklagte habe in der Nutzungsuntersagung vom 4. Juni 2020 zudem angedeutet, dass mit Blick auf die Überschreitung des Bauraums die Voraussetzungen für eine Befreiung vorliegen könnten. Die Überschreitung der Baugrenze sei städtebaulich vertretbar i.S.d. § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB. Die Anordnung des Gebäudes zeige eine klare Struktur und die Berücksichtigung der Baugrenze hätte zu einem Versprung der Gebäudekörper geführt, was städtebaulich nicht von Vorteil gewesen wäre. Der Bebauungsplan setze an der südlichen Grenze seines Geltungsbereichs überwiegend einen Abstand von 3 bis 5 m zwischen Baugrenze und den jeweiligen äußeren Flurstücksgrenzen fest. Lediglich auf Höhe der gegenständlichen Flurstücke sei der Abstand auf 7,5 m vergrößert, sodass sich der Bauraum nach Süden hin verringere. Im Rahmen des Ermessens sei schließlich zu berücksichtigen, dass die Nichterteilung der Befreiung aufgrund des bedauerlichen Planungsfehlers für die Klägerin bzw. die Erwerberin eine unzumutbare Härte darstelle. Insbesondere wäre es völlig unverhältnismäßig, das Gebäude aufgrund der geringfügigen Überschreitung der Baugrenze beseitigen und dann geringfügig verschoben wieder errichten zu lassen. Dies würde sämtliche Beteiligte vor unzumutbare finanzielle Belastungen stellen, die letztlich in keinem Verhältnis zu dem stünden, was städtebaulich gewonnen werde. Ins Gewicht falle auch, dass mit der Überschreitung der Baugrenze keine Baurechtsmehrung bzw. Bereicherung des Bauherrn erreicht worden sei. Denn hätte der Planer von Anfang an die Baugrenze korrekt eingemessen und gezeichnet, so wäre es ohne weiteres möglich gewesen, das gleiche Baurecht innerhalb der Baugrenzen zu realisieren. Nachbarliche Belange würden nicht tangiert und entgegenstehende öffentliche Belange seien nicht erkennbar. In Bezug auf den gerügten Abstandsflächenverstoß wurde vorgetragen, dass eine das Haus Nr. 12 d betreffende Grundstücksverschmelzung zwischenzeitlich vollzogen und dieser Sachverhalt für die Doppelhaushälfte Nr. 12 e ohnehin nicht relevant sei.
13
Der Beklagte beantragt,
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Die baurechtlichen Verstöße hätten von Anfang an vorgelegen und würden auch durch die Planung von 30. November 2020 nicht beseitigt. Infolge der mangelnden Genehmigungsfähigkeit der streitgegenständlichen Planungen sei die Klägerseite mit Schreiben vom 22. Oktober 2020 bzw. 23. März 2021 zur Ablehnung angehört worden. Die Klage sei zulässig, aber unbegründet. Die Ablehnung des Bauantrags sei nicht rechtswidrig und verletze die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die maximal zulässige GRZ werde überschritten auf eine GRZ von 0,752. Die versiegelte Böschung stelle insoweit eine zu berücksichtigende bauliche Anlage dar, da sie als feste Hangsicherung eingeplant werde. Städtebauliche bzw. bodenrechtliche Relevanz bestehe daneben, weil diese Fläche den Eindruck als versiegelte Fläche erwecke; dies werde auch durch die aktualisierte Planung nicht vermieden. Nach einer Stellungnahme der unteren Naturschutzbehörde vom 21. Dezember 2020 müsse nach wie vor von einer kompletten Versiegelung ausgegangen werden. Eine Anwendung von § 19 Abs. 4 Satz 4 BauNVO sei nur möglich, soweit der Bebauungsplan nichts anderes festsetze. Dies sei vorliegend jedoch der Fall, was näher ausgeführt wurde. Selbst bei Bedeckung der Findlinge mit Mutterboden seien bauliche Anlagen unterhalb der Geländeoberfläche gemäß § 19 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 BauNVO bei der GRZ zu berücksichtigen. Weder in Bezug auf die Überschreitung der GRZ noch in Bezug auf die Überschreitung der Baugrenzen lägen die Voraussetzungen einer Befreiung vor, da die Grundzüge der Planung unzulässig berührt bzw. verletzt würden und die Gemeinde ihr Einvernehmen zu Recht verweigert habe. Dass keine einzelnen Baufenster für einzelne Gebäude dargestellt würden, ändere nichts daran, dass die Gemeinde die zulässige Maximalbebauung durch klare Maximal-Baugrenzen vorgegeben habe. Werde von den Bauräumen abgewichen, werde in die Grundzüge der Planung eingegriffen. Auch in Hinblick auf den Umfang der begehrten Bauraumüberschreitung sei die Annahme, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt würden, nicht nachvollziehbar. Aus dem Bescheid vom 4. Juni 2020 könne nichts anderes geschlossen werden. Das Bestehen einer dritten Wohneinheit sei anzunehmen und einer Befreiung nicht zugänglich, was näher ausgeführt wurde.
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Mit Schriftsätzen vom … September 2021 und … November 2021 vertiefte der Klägerbevollmächtigte in Erwiderung auf die Ausführungen des Beklagten sein Vorbringen weiter.
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Die Beigeladene stellte keinen Antrag und hat sich im Verfahren nicht schriftsätzlich geäußert.
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Die Kammer hat am 28. Juli 2022 Beweis über die örtlichen Verhältnisse durch Einnahme eines Augenscheins erhoben und anschließend die mündliche Verhandlung durchgeführt. Wegen der beim Augenschein getroffenen Feststellungen und des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf die Augenscheins- und Sitzungsniederschrift verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten und vorgelegten Behördenakten in diesem Verfahren und dem Parallelverfahren (M 11 K 21.2655 - Haus 12 d) sowie die Klage- und Eilverfahren der zwischenzeitlichen Eigentümer bzw. Mieter (Haus 12 e: M 11 K 20.4128 mit M 11 S 20.4129; M 11 K 21.373 mit M 11 S 21.689; M 11 K 21.1713 mit M 11 S 21.2536; Haus 12 d: M 11 K 20.5942) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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I. Die Verpflichtungsklage ist als Untätigkeitsklage zulässig, hat aber keinen Erfolg.
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1. Die Klage, die darauf gerichtet ist, den Beklagten zur Erteilung der begehrten Baugenehmigung zu verpflichten, ist als Untätigkeitsklage nach § 75 Satz 1 VwGO zulässig. Über den Bauantrag der Klägerin wurde seitens des Landratsamts sachlich nicht entschieden; ein zureichender Grund hierfür ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Auch der Beklagte geht im Rahmen der Klageerwiderung von der Zulässigkeit der Klage aus.
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2. Die Klage ist jedoch unbegründet, weil die Unterlassung der begehrten Baugenehmigung nicht rechtswidrig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Baugenehmigung (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
23
Dem gem. Art. 55 BayBO genehmigungspflichtigen Vorhaben stehen mit den Festsetzungen des Bebauungsplans öffentlich-rechtliche Vorschriften entgegen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind (Art. 59, Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO). Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung liegen nicht vor.
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2.1 Das Vorhaben ist - unstrittig - genehmigungspflichtig, da es die Festsetzungen des Bebauungsplans zumindest in Bezug auf die festgesetzten Baugrenzen nicht einhält. Das Vorhaben bedarf daher einer nachträglichen Baugenehmigung, wobei eine solche entgegen der missverständlichen Antragsunterlagen nicht als bloße „Tektur“ oder „Änderungsgenehmigung“ zu der im Rahmen des Freistellungsverfahrens eingereichten Eingabeplanung erfolgen kann. In der Sache wird vielmehr die Erteilung einer Baugenehmigung für das nunmehr erstmals zur Genehmigung gestellte Vorhaben begehrt.
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2.2 Die Wirksamkeit des Bebauungsplans „8. Änderung …-Ost …“ wurde von der Klägerin im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens nicht infrage gestellt.
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Lediglich ergänzend wird in Hinblick auf das Vorbringen der Klägerin im Rahmen des behördlichen Verfahrens klargestellt, dass das Vorhaben im Falle einer Unwirksamkeit dieses Änderungsbebauungsplans an den Festsetzungen des ursprünglichen Bebauungsplans aus dem Jahre 1963 in der Fassung der 7. Änderung zu messen wäre und völlig außerhalb der ursprünglich festgesetzten, jeweils einzeln situierten Baufenster läge. Eine Unwirksamkeit des früheren Bebauungsplans wurde von der Klagepartei auch im Rahmen des behördlichen Verfahrens nicht behauptet. Selbst im Falle einer Unwirksamkeit des Ursprungsbebauungsplans scheidet eine Genehmigungsfähigkeit auf Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB vorliegend offensichtlich aus, weil durch das Vorhaben erstmals eine Bebauung in 2. Reihe zur B.-Str. erfolgt, welche im Vergleich zur Bebauung der näheren Umgebung zudem deutlich verdichtet ist. Selbst unter Heranziehung der Kriterien der § 34 BauGB wäre das Vorhaben demnach im Hinblick auf die zu überbauende Grundstücksfläche und das Verhältnis der Freifläche zur Gebäudefläche nicht genehmigungsfähig.
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Festzustellen bleibt, dass die 8. Änderung des Bebauungsplans das streitgegenständliche Vorhaben gerade erst ermöglicht hat. Hierzu wurde das Plangebiet in dem hier maßgeblichen Bereich gegenüber der ursprünglichen Fassung weiter nach Süden ausgedehnt und dabei auch ein südlich angrenzender Hangbereich einbezogen. In Bezug auf die von dem aus vier Doppelhäusern bestehenden (Gesamt-)Vorhaben betroffenen Grundstücke und eine hierzu im Rahmen des Planänderungsverfahrens vorgelegte Bestandsvermessung wurden im Bebauungsplan zudem besondere, teils explizit vom übrigen Plangebiet abweichende Festsetzungen getroffen (vgl. S. 7 der Planbegründung). Angesichts der engen Abstimmung zwischen der Klägerin und der Beigeladenen während des Planänderungsverfahrens und der nachfolgenden Errichtung des Vorhabens im Rahmen des Baufreistellungsverfahrens dürfte es der Klägerin insoweit nach den auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) von vornherein verwehrt sein, sich auf eine etwaige Unwirksamkeit der Festsetzungen des Bebauungsplans zu berufen, dessen günstige Festsetzungen sie zur Verwirklichung des Vorhabens gerade ausgenutzt hat (vgl. hierzu etwa BayVGH, B.v.12.2.2021 - 1 ZB 20.1186 - juris).
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2.3 Das streitgegenständliche Gebäude (Haus 12 e) widerspricht den Festsetzungen des Bebauungsplans. Dies ist in Bezug auf die Überschreitung der rückwärtigen (südlichen) Baugrenze zwischen den Beteiligten unstrittig.
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Offenbleiben kann daher, inwieweit daneben auch die gerügte Überschreitung der (Gesamt-)GRZ vorliegt, weil insoweit die Flächen des abgestützten Böschungsbereichs zu berücksichtigen wären (zum durchaus erheblichen Umfang der nunmehr mit Erdreich abgedeckten Hangabsicherungsmaßnahme, welche durch die begehrte Baugenehmigung nachträglich legalisiert werden soll, vgl. Fotos Bl. 244 ff. der Behördenakte …*). Der Klagepartei kann wohl jedenfalls nicht gefolgt werden, soweit sie in ihre Grundflächenberechnung auch solche Flächen einbezieht, welche nach Festsetzungen des Bebauungsplans außerhalb des durch eine Perlenschnur abgegrenzten „WA 3“ (= südlicher Teil der Fl.Nr. 217/24 mit östlichem Teil der Fl.Nr. 221/3) liegen. Der sich aus § 19 BauNVO ergebende Maßbestimmungsfaktor hat insofern auch Bedeutung für Grundstücksteilungen oder -verschmelzungen, durch die keine Verhältnisse entstehen dürfen, die den Festsetzungen des Bebauungsplans widersprechen (vgl. Söfker in E/Z/B/K, Stand April 2022, BauNVO, § 19, Rn. 2). Die außerhalb des „WA 3“ gelegenen, im eingereichten Eingabeplan als „Rasenflächen“ dargestellten Flächen der zwischenzeitlich mit dem Vorhabengrundstück verschmolzenen Fl.Nr. 221/4 können bei der GRZ-Berechnung insoweit nicht zu einer Vergrößerung der maßgeblichen Grundstücksfläche führen. Die im Bebauungsplan festgesetzte GRZ muss vielmehr auf dem jeweiligen, vom Bebauungsplan zugrunde gelegten Baugrundstück eingehalten werden.
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Einen Verstoß gegen die Anzahl der zulässigen Wohneinheiten (Ziff. A.5 des Bebauungsplans) vermag die Kammer unter Zugrundelegung der Eingabeplanung hingegen nicht festzustellen. Maßgeblich für die Beurteilung der Genehmigungsfähigkeit eines Vorhabens sind die eingereichten Antragsunterlagen; eine von den Antragsunterlagen ggf. abweichende Bauausführung spielt insoweit generell keine Rolle. Die Errichtung einer dritten Wohneinheit ist nach der eingereichten Eingabeplanung unzweifelhaft nicht Antragsgegenstand. Durch die Antragsunterlagen in der Fassung vom 30. November 2020 erfolgte noch eine zusätzliche Klarstellung im Rahmen der Vorhabenbezeichnung. Auf die Frage, ob in der Vergangenheit eine dritte Wohneinheit errichtet und später zurückgebaut wurde, kommt es damit im vorliegenden Baugenehmigungsverfahren ebenso wenig an, wie auf die Frage, wie die derzeitige tatsächliche Aufteilung des Gebäudes zu bewerten wäre. Maßgeblich ist allein das vorliegend zur Genehmigung gestellte Vorhaben, so wie sich dieses nach der eingereichten Planung darstellt.
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Ebenso liegt der gerügte Abstandsflächenverstoß nicht vor, zumal die Fl.Nr. 217/40 mit der Fl.Nr. 217/33 verschmolzen wurde, auf der die westlich benachbarte Doppelhaushälfte errichtet wurde (zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vgl. Schmidt in Eyermann, 16. Aufl. 2022, § 113, Rn. 45).
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2.4 Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung von der festgesetzten Baugrenze liegen nicht vor. Nach § 31 Abs. 2 BauGB ist die Erteilung einer Befreiung - ungeachtet weiterer Voraussetzungen - nur zulässig, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Dies ist hier jedoch der Fall.
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2.4.1 Mit den Grundzügen der Planung umschreibt das Gesetz die planerische Grundkonzeption, die den Festsetzungen eines Bebauungsplans zu Grunde liegt und in ihnen zum Ausdruck kommt (vgl. BVerwG, B.v. 19.5.2004 - 4 B 35/04 - juris). Hierzu gehören die Planungsüberlegungen, die für die Verwirklichung der Hauptziele der Planung sowie den mit den Festsetzungen insoweit verfolgten Interessenausgleich und damit für das Abwägungsergebnis maßgeblich sind (vgl. BayVGH, U.v. 30.3.2009 - 1 B 05.616 - BauR 2009, 1414). Ist das planerische Grundkonzept ohne weiteres aus Planzeichnung und textlichen Festsetzungen erkennbar, reicht dies für die Feststellung eines Grundzuges der Planung aus (vgl. BayVGH, B.v. 18.8.2017 - 15 ZB 16.940 - juris). Ob eine Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 BauGB in Betracht kommt, weil die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab (vgl. BVerwG, U.v. 16.12.2010 - 4 C 8/10 - juris Rn. 26; U.v. 18.11.2010 - 4 C 10.09 - juris Rn. 37). Entscheidend ist, ob die Befreiung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist (vgl. BVerwG, B.v. 19.5.2004 - 4 B 35/04 - juris Rn. 3; BayVGH, U.v. 3.11.2010 - 15 B 08.2426 - juris Rn. 21). Die Befreiung kann nicht als Vehikel dafür herhalten, die von der Gemeinde getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben. Sie darf nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließe (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 - 4 B 5/99 - juris). Es muss angenommen werden können, die Abweichung liege noch im Bereich dessen, was der Planer gewollt hat oder gewollt hätte, wenn er die weitere Entwicklung einschließlich des Grundes für die Abweichung gekannt hätte (BVerwG, U.v. 4.8.2009 - 4 CN 4/08 - juris Rn. 12). Eine Abweichung vom planerischen Grundkonzept liegt dabei nicht erst dann vor, wenn die Befreiung zu einer gänzlich anderen Prägung des Plangebiets oder zur Funktionslosigkeit einzelner Festsetzungen führt (vgl. BayVGH, B.v. 26.7.2018 - 2 ZB 17.1656 - juris Rn. 4; VGH BaWü, U.v. 7. 7. 2017 - 3 S 381/17 - juris Rn. 25). Auch wenn der Plangeber „angesichts des Falles“ bewusst eine Festsetzung getroffen hat, die einem Vorhaben entgegensteht, scheidet eine Befreiung in aller Regel aus. Dies gilt insbesondere bei einem vorhabenbezogenen Bebauungsplan, aber auch bei einem sonstigen Bebauungsplan, der mit seinen Festsetzungen auf die konkreten örtlichen Gegebenheiten oder sonstigen Rahmenbedingungen gezielt reagiert oder ganz bestimmte Planungsziele verfolgt, sofern diese durch die Befreiung in Frage gestellt würden (vgl. Reidt in B/K/L, 15. Aufl. 2022, BauGB, § 31, Rn. 29 m.w.N.).
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2.4.2 Gemessen an diesen Vorgaben würde die begehrte Befreiung von der festgesetzten rückwärtigen (südlichen) Baugrenze die Grundzüge der Planung berühren.
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Bei der Festsetzung der südlichen (hinteren) Baugrenze handelt es sich um einen Grundzug der Planung. Die Begründung zum Bebauungsplan ist insoweit zwar unergiebig. Ausweislich der Planbegründung wollte die Beigeladene mit dem streitgegenständlichen Bebauungsplan eine Nachverdichtung des Plangebiets erreichen, weshalb das Baurecht u.a. durch erweiterte Baugrenzen neu geordnet wurde (vgl. etwa Ziff.1, 4 und 5.10 der Planbegründung). Ob es sich bei einer Festsetzung um einen Grundzug der Planung handelt, ist jedoch nicht allein aufgrund der Begründung des Bebauungsplans zu beurteilen, sondern kann sich - wie hier - auch aus der Festsetzung selbst ergeben (vgl. BayVGH, B.v. 18.8.2017 - 15 ZB 16.940 - juris; VGH BaWÜ, U.v. 15.9.2016 - 5 S 114/14 - juris).
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Rückwärtige Baugrenzen sind im Bebauungsplan auf sämtlichen Grundstücken im Plangebiet festgesetzt und durchziehen das gesamte, bereits auf den ersten Blick erkennbar von Baugrenzenfestsetzungen geprägte Plangebiet in Orientierung an den Grenzen des Plangebiets bzw. den Grundstücksgrenzen der überplanten Grundstücke gleichsam wie ein roter Faden. Es handelt sich ersichtlich um ein zentrales Gestaltungselement, welches ein deutlich ablesbares ortsgestalterisches Konzept dahingehend erkennen lässt, dass im gesamten Plangebiet aus planerischen Erwägungen von Hauptgebäuden freizuhaltende rückwärtige Bereiche erhalten bleiben sollen. Von einer „zufälligen“ Aufnahme der Baugrenzenfestsetzungen in den Bebauungsplan kann nicht ausgegangen werden - und zwar weder in Bezug auf deren Verlauf noch deren konkreten Abstand zur Grundstücksgrenze (dazu sogleich). Die Anordnung der Bauräume ist keinesfalls regellos oder unsystematisch, sondern gerade einheitlich-übergreifend für das gesamte Plangebiet und mit erkennbarer Gestaltungsvorstellung getroffen. Der Umstand, dass die festgesetzten Baufelder dabei durchaus großzügig sind und eine konkrete Situierung der Gebäude - anders als noch im ursprünglichen Bebauungsplan aus dem Jahre 1963 - nicht (mehr) vorgegeben wird, steht dem nicht entgegen, sondern unterstreicht vielmehr die Bedeutung, welche den Baugrenzenfestsetzungen im Rahmen des planerischen Grundkonzepts der Beigeladenen als Plangeberin zukommt. Im Interesse des Nachverdichtens war die Beigeladene demnach zwar bereit, Bauinteressenten durch die Ausweisung großzügiger Bauräume weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten bei der Positionierung der Gebäude einzuräumen; zugleich wurden dieser Gestaltungsfreiheit durch die Festsetzung von straßenseitigen und rückwärtigen Baugrenzen im gesamten Plangebiet bewusst Schranken gesetzt.
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Zum Vortrag der Klägerseite, wonach die maßgebliche Baugrenze lediglich den Verlauf der Grundstücksgrenzen nachzeichne und insofern einen gewissen Abstand regele, der jedoch nicht stringent durchgehalten werde, bleibt anzumerken, dass auch der in diesem Bereich in der Tat vergrößerte Abstand der rückwärtigen Baugrenze zur südlichen Grundstücksgrenze von 7,5 m keinesfalls „zufällig“ erfolgte. Abgesehen davon, dass es angesichts der klar erkennbaren planerischen Grundkonzeption der Beigeladenen nicht darauf ankommt, dass der Verlauf der hinteren Baugrenze über das gesamte Plangebiet hinweg völlig gleichförmig ist bzw. durchgehend mit einem einheitlichen Abstand erfolgt, resultiert der im Bereich des Vorhabengrundstücks festgesetzte Abstand von 7,5 m erkennbar (auch) aus der nur in diesem Bereich erfolgten Ausdehnung des Plangebiets nach Süden, die unter Einbeziehung eines maßgeblich im Bereich der vormaligen Fl.Nr. 221 befindlichen Steilhangs erfolgte. Der von der Klägerseite hervorgehobene, leicht schräge Verlauf der inmitten stehenden Baugrenze resultiert damit maßgeblich (auch) aus den besonderen topographischen Gegebenheiten. Bestätigt wird dies neben den Eindrücken des Augenscheins vor allem auch durch die ursprüngliche Begründung des Befreiungsantrags vom 12. Juni 2020, wonach die Klagepartei selbst davon ausging, dass der 7,5 m-Abstand „aufgrund des Geländeverlaufs“ festgesetzt sei (vgl. Bl. 13 d.BA).
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Vor diesem Hintergrund dürfte eine Befreiung vorliegend schon deshalb ausscheiden, weil die Beigeladene als Plangeberin die streitgegenständliche Baugrenzenfestsetzung mit dem erweiterten Abstand zur südlichen Grundstücksgrenze gerade „angesichts des Falles“ getroffen hat. Aus der Darstellung des städtebaulichen Konzepts im Rahmen der Planbegründung (S. 7) ergibt sich ausdrücklich, dass die Beigeladene die „Baulücken südlich der B.-Str.“ im Rahmen der Planänderung besonders im Blick hatte und diesbezüglich vom übrigen Plangebiet teils ausdrücklich abweichende Festsetzungen getroffen hat. In Bezug auf die Festsetzung der strittigen Baugrenze findet sich insoweit zwar keine explizite Aussage in der Planbegründung. Der Umstand, dass das Plangebiet erkennbar gerade zur Ermöglichung des streitgegenständlichen (Gesamt-)Vorhabens nach Süden erweitert und in diesem Zusammenhang - unter Berücksichtigung der topographischen Gegebenheiten - die streitgegenständliche Baugrenze festgesetzt wurden, macht jedoch deutlich, dass es sich um eine bewusste und auf den „konkreten Fall“ bezogene Festsetzung handelt.
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Im Übrigen teilt die Kammer die Einschätzung des Landratsamts, dass die Grundzüge der Planung vorliegend jedenfalls deshalb berührt werden, weil die begehrte Überschreitung der Baugrenze um fast 12 qm in ganz erheblichem Maße in die durch die getroffenen Baugrenzenfestsetzungen zum Ausdruck kommende Grundkonzeption der Beigeladenen eingreifen würde. Das Vorhaben ragt mit der gesamten Breite der streitgegenständlichen Doppelhaushälfte und einer Tiefe zwischen 0,65 m bis zu knapp 2 m in den nach Willen der Plangeberin nicht überbaubaren hinteren Grundstücksbereich hinein und ist damit keinesfalls von nur minderem Gewicht. Hinzukommt, dass die Zulassung einer Überschreitung von der hinteren Baugrenze vorliegend eine beachtliche Vorbildwirkung für andere Grundstücke entfalten würde. Abgesehen davon, dass sich die Gründe, die für eine solche Befreiung tragend wären (Planungsfehler des Architekten), wohl für nahezu jedes Bauvorhaben anführen ließen (vgl. dazu Söfker in E/Z/B/K, Stand April 2022, BauGB, § 31, Rn. 36), schöpfen die teils älteren Bestandsgebäude die mit dem gegenständlichen Bebauungsplan großzügig festgesetzten Bauräume bei weitem nicht aus, sodass jederzeit mit weiteren Nachverdichtungsvorhaben im Plangebiet zu rechnen ist. Mit einer Zulassung des Vorhabens würde damit letztlich eine Entwicklung im Hinblick auf ein Funktionsloswerden der Bauraumfestsetzungen eingeleitet.
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2.4.3 Lediglich ergänzend wird angemerkt, dass damit auch die Voraussetzung des allenfalls in Betracht kommenden § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB zu verneinen ist.
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Städtebaulich vertretbar im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB ist in aller Regel dasjenige, was im Sinne der Anforderungen des § 1 Abs. 6 und 7 BauGB mit der städtebaulichen Entwicklung und Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB vereinbar ist, d.h. vertretbar ist alles, was in einem Bebauungsplan unter Berücksichtigung des Abwägungsgebotes planbar wäre. Diese Frage ist nicht abstrakt zu beurteilen, sondern anhand der konkreten Gegebenheiten und danach, ob das Leitbild einer geordneten städtebaulichen Entwicklung gewahrt bleibt, das dem konkreten Bebauungsplan zugrunde liegt, von dessen Festsetzungen abgewichen werden soll. Damit die Weite des Begriffs der städtebaulichen Vertretbarkeit nicht zu unangemessenen Ergebnissen führt, wird durch die für alle Befreiungen geltenden Voraussetzungen gewährleistet, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden dürfen und die Abweichung vom Bebauungsplan auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein muss. Es müssen somit für § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB solche - vor allem städtebauliche - Gründe vorliegen, die ein Abweichen im Planbereich unter Hintansetzung des Vertrauens anderer Grundeigentümer in den Bestand der bauplanerischen Festsetzungen als vertretbar erscheinen lassen. Können derartige Gründe für jedes oder nahezu für jedes Grundstück im Planbereich angeführt werden, dann lässt sich schlechterdings nicht mehr sagen, dass gerade besondere Gründe die Befreiung zu rechtfertigen vermögen. Denn was allgemein gilt, widerspricht der gleichzeitigen Annahme, dass das Abweichen von den bauplanerischen Festsetzungen aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit und der erwünschten städtebaulichen Flexibilität verlangt wird. Demgemäß muss bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB u.a. auch gefragt werden, ob die beantragte Befreiung - ihre Verallgemeinerung unterstellt - auch für alle anderen Grundstücke im Plangebiet zu erteilen wäre. Ist das zu bejahen, so kommt nur eine Planänderung - ggf. eine solche im vereinfachten Verfahren - in Betracht, nicht aber eine Befreiung (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B.v. 11.5.2010 - 14 ZB 09.20160 - juris m.w.N. zur Rspr.).
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Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat vor diesem Hintergrund in der zitierten Entscheidung vom 11. Mai 2010 eine Befreiung betreffend eine Baugrenzenüberschreitung durch einen Windfang als städtebaulich nicht vertretbar angesehen, weil damit eine Bezugsfallwirkung für zahlreiche weitere Grundstücke im Plangebiet geschaffen worden wäre. Dies zugrunde gelegt, ist eine städtebauliche Vertretbarkeit auch im vorliegenden Fall zu verneinen, weil dem streitgegenständlichen Vorhaben - wie ausgeführt - eine erhebliche Vorbildwirkung zukommt.
43
2.4.4 Da die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung nicht vorliegen, ist ein Ermessen auf Seiten des Beklagten bereits nicht eröffnet.
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Zum diesbezüglichen Vortrag der Klägerseite wird indes angemerkt, dass eine der Klägerin unzumutbare Härte nicht ansatzweise ersichtlich ist. Wie ausgeführt, hat der Bebauungsplan das streitgegenständliche Vorhaben durch die Erweiterung des Plangebiets nach Süden und die Festsetzung großzügiger Bauräume gerade erst ermöglicht. Aus der Erweiterung des Plangebiets mag zwar ein leicht schräger Verlauf der streitgegenständlichen Baugrenze resultiert haben (s.o.), für das hier maßgebliche „WA 3“ wurde dabei jedoch keine bestimmte Ausrichtung der Gebäude zur Straße hin vorgegeben. Die Klägerin hätte es damit ohne Weiteres in der Hand gehabt, bei entsprechender Planung ihres (Gesamt-)Vorhabens die Baugrenzenfestsetzungen einzuhalten; sie selbst trägt vor, dass keine Baurechtsmehrung erreicht worden sei. Auf Verschuldensfragen kommt es im Rahmen der bauplanungsrechtlichen Beurteilung von vornherein nicht an; ebenso kann dahinstehen, ob die Klägerin ihren Architekten wegen etwaiger Planungsfehler in Regress nehmen könnte.
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Nachdem der Klägerin ein Antrag auf Erteilung der begehrten Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB nicht zusteht, war ihr Verpflichtungsbegehren abzuweisen.
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II. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. Es entspricht der Billigkeit, ihm nicht auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da diese keine Anträge gestellt und sich somit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (§ 162 Abs. 3 und § 154 Abs. 3 VwGO).
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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.