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VG München, Beschluss v. 20.01.2022 – M 33 S 22.192
Titel:

Versammlungsrechtliche Allgemeinverfügung, Beschränkung nicht angemeldeter Versammlungen, Antragsbefugnis

Normenkette:
VwGO § 42 Abs. 2
Schlagworte:
Versammlungsrechtliche Allgemeinverfügung, Beschränkung nicht angemeldeter Versammlungen, Antragsbefugnis
Fundstelle:
BeckRS 2022, 394

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich im Eilverfahren gegen die Allgemeinverfügung des Landratsamts … … (Landratsamt) vom … Januar 2022 über die Beschränkung von Versammlungen.
2
Diese Allgemeinverfügung, bekanntgemacht im Amtsblatt Nr. 2a des Landkreises … … vom … Januar 2022, lautet:
I.
Nicht angemeldete Versammlungen nach Art. 8 des Grundgesetzes im Landkreis … … werden nach Art. 15 Abs. 1 BayVersG i.V.m. § 9 Abs. 1 Satz 2 15. BayIfSMV wie folgt beschränkt:
1. Zwischen allen Versammlungsteilnehmern ist ein Mindestabstand von 1,5 m einzuhalten.
2. Die Versammlungsteilnehmer sind während der Versammlung durchgängig zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (FFP2-Maske) verpflichtet. Die Maske darf lediglich zu Identifikationszwecken sowie bei zwingenden Gründen (z.B. für Redebeiträge im Rahmen der Ausübung des Versammlungsrechts) abgenommen werden. Von der Maskenpflicht befreit sind Kinder bis zum sechsten Geburtstag sowie Personen, die glaubhaft machen können, dass ihnen das Tragen einer Maske aus gesundheitlichen Gründen oder aufgrund einer Behinderung nicht möglich oder unzumutbar ist, solange dies vor Ort sofort, insbesondere durch Vorlage eines schriftlichen ärztlichen Zeugnisses im Original nachgewiesen werden kann, das den vollständigen Namen, das Geburtsdatum und konkrete Angaben zum Grund der Befreiung enthalten muss.
3. Die nicht angemeldeten Versammlungen sind ausschließlich ortsfest zulässig.
4. Von Nr. 1-3 kann vor Ort durch Entscheidung des Einsatzleiters der Polizei abgewichen werden, sofern dies im Einzelfall vertretbar erscheint.
II.
Die Ziffer I gilt insbesondere nach derzeitigen Erkenntnissen der Polizei für die in den sozialen Netzwerken angekündigten Versammlungen in nachfolgenden Kommunen
a. Stadt … …: insbesondere montags ab 17 Uhr.
Der R.platz gemäß Anlage 1 sollte als ortsfester Versammlungsort genutzt werden.
b. Stadt … insbesondere montags ab 18 Uhr.
Der R.platz gemäß Anlage 2 sollte als ortsfester Versammlungsort genutzt werden.
c. … …: insbesondere montags ab 19 Uhr.
Der R.platz gemäß Anlage 3 sollte als ortsfester Versammlungsort genutzt werden.
d. … …: insbesondere montags ab 18 Uhr.
Der …platz gemäß Anlage 4 sollte als ortsfester Versammlungsort genutzt werden.
e. Stadt … insbesondere montags ab 18 Uhr.
Der R.platz gemäß Anlage 5 sollte als ortsfester Versammlungsort genutzt werden.
f. Diese Beschränkungen gelten auch für Ersatzversammlungen der o.g. Versammlungen bei unwesentlichen Änderungen oder offenkundig nur vorgeschobenen Änderungen des Versammlungszweckes oder auch der Versammlungszeit.
g. Sofern es die konkreten Verhältnisse erforderlich machen, kann durch die Polizei eine andere Örtlichkeit als unter Ziff. II a.-e. definierten Plätzen festgelegt werden.
III.
Diese Allgemeinverfügung tritt am Tage nach ihrer Bekanntgabe in Kraft und mit Ablauf des 09.02.2022 außer Kraft.
3
Die Antragstellerin hat am 16. Januar 2022 beim Verwaltungsgericht München Klage gegen die Allgemeinverfügung erhoben sowie gleichzeitig im Wege eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO beantragt,
„die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen“.
4
Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, das Landratsamt habe bereits den Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt. Es sei unklar, welche Aufrufe in den sozialen Netzwerken zu Spaziergängen konkret zum Anlass genommen worden seien, um die streitgegenständliche Allgemeinverfügung zu erlassen. Die Allgemeinverfügung beruhe daher auf einer ungewissen und unbekannten Tatsachengrundlage. Zudem verletze die Allgemeinverfügung den Bestimmtheitsgrundsatz, weil für den Normadressaten nicht hinreichend erkennbar sei, ob sein konkretes Handeln gegen die Allgemeinverfügung verstoße. Im Übrigen unterstelle die Allgemeinverfügung, dass es sich bei einem Spaziergang um eine Versammlung handele. Außerdem folge aus der Sperrwirkung des § 28a Nr. 10 IfSG die Rechtswidrigkeit der Allgemeinverfügung. Auch habe die Antragstellerin Zweifel, ob die Allgemeinverfügung einen legitimen Zweck oder aber sachfremde Motive verfolge. Selbst wenn die Allgemeinverfügung den Zwecken des Infektionsschutzes diene, sei sie hierzu nicht geeignet, weil unter freiem Himmel Infektionen „sowieso sehr unwahrscheinlich“ seien, weshalb auch ein Einkaufsbummel in der Stadt nicht verboten sei. Erst recht sei die Allgemeinverfügung nicht erforderlich, weil das Landratsamt keinerlei medizinische Evidenz angeführt habe, wonach Spaziergänge unter freiem Himmel das Infektionsgeschehen fördern würden. Dies gelte auch für die erwähnte Grüppchenbildung, weil sich Personen in geschlossenen Räumen treffen dürften und es in der Folge zu Wertungswidersprüchen zwischen Grüppchenbildung in Innenräumen und unter freiem Himmel kommen würde. Es sei schließlich auch nicht ersichtlich, wieso eine stationäre Versammlung weniger Infektionsgefahren berge. Überdies sei ein stationärer Spaziergang bereits ein Widerspruch in sich, sodass Spaziergänge faktisch verboten seien. Zuletzt seien auch die „Sanktionsandrohungen“ unverhältnismäßig.
5
Der Antragsgegner hat keinen Antrag gestellt.
6
Mit Schreiben vom 17. Januar 2022 wurde der Antragstellerin zunächst aufgegeben, näher zu ihrer individuell-konkreten Betroffenheit vorzutragen. Außerdem hat das Gericht die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es eine taggleiche Entscheidung im Hinblick auf die zu diesem Zeitpunkt fragliche Antragsbefugnis sowie die längerfristige Geltungsdauer der Allgemeinverfügung noch bis zum 9. Februar 2022 nach vorläufiger Prüfung unter Abwägung mit Art. 8 GG nicht für geboten erachte.
7
Mit Schriftsatz vom 18. Januar 2022 teilte die Antragstellerin sodann mit, individuell in ihren Rechten betroffen zu sein, weil sie sich auch an den kommenden Montagen im Geltungsbereich der Allgemeinverfügung, insbesondere in der Stadt … …, nach dem Einkaufen mit einer innerlich getragenen kritischen Haltung bezüglich der staatlichen Corona-Maßnahmen fortbewegen wolle. Hieran sehe sie sich durch die streitgegenständliche Allgemeinverfügung gehindert, weil ihr möglicherweise durch ihr Verhalten ein Verstoß gegen die Allgemeinverfügung vorgeworfen werden könnte.
8
Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in diesem und im Klageverfahren sowie auf die angegriffene Allgemeinverfügung verwiesen.
II.
9
1. Der Antrag ist dahin auszulegen (§§ 88, 122 Abs. 1 VwGO), dass die „Anordnung“ und nicht die „Wiederherstellung“ der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage begehrt wird (vgl. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO).
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2. Der so verstandene Antrag hat jedoch keinen Erfolg, weil er unzulässig ist.
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Die Zulässigkeit einer Anfechtungsklage sowie eines Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO setzt voraus, dass die Antragstellerin durch den angegriffenen sofort vollziehbaren Verwaltungsakt möglicherweise in ihren eigenen Rechten verletzt ist (§ 42 Abs. 2 VwGO). Damit fehlt es an der Antragsbefugnis, wenn nicht hinreichend substantiiert dargelegt wurde, dass der angefochtene Verwaltungsakt (bzw. die Ablehnung oder Unterlassung des beantragten Verwaltungsakts) gerade die Rechtssphäre des Rechtsschutzsuchenden betrifft (Sodan in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 42 Rn. 379). Zwar ist keine nachhaltige oder mehrfache Betroffenheit von dem angegriffenen Verwaltungsakt zu verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 21.8.2003 - 3 C 15.03 - juris Rn. 18 f.). Es müssen jedoch die Tatsachen, die eine Rechtsverletzung möglich sein lassen, so substantiiert dargelegt werden, dass es dem Gericht möglich ist zu klären, ob ein subjektives Recht der rechtsschutzsuchenden Person im konkreten Rechtsstreit einschlägig sein kann (Schmidt-Kötters in BeckOK-VwGO, Stand 1.10.2019, § 42 Rn. 210 m.w.N.).
12
Die vorliegend angegriffene sofort vollziehbare Verwaltungsmaßnahme regelt in Form einer Allgemeinverfügung die Beschränkung „nicht angemeldete[r] Versammlungen nach Art. 8 des Grundgesetzes“. Versammlungen im Sinne des Art. 8 GG sind örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfG, B.v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 u.a. - BVerfGE 104,92 - juris Rn. 41).
13
Gemessen daran hat die Antragstellerin nicht dargelegt, dass sie durch die Allgemeinverfügung des Antragsgegners in eigenen Rechten verletzt sein könnte. Mit ihrem Wohnsitz in … … im Landkreis … … fällt sie zwar nicht automatisch in den Regelungsbereich der Allgemeinverfügung, weil nach Ziffer II. nicht angemeldete Versammlungen nur in der Stadt … …, der Stadt … dem … …, dem … … sowie der Stadt … beschränkt werden. Sie macht aber geltend, sich insbesondere auch in der Stadt … … nach dem Einkaufen um 18 Uhr zu Fuß fortbewegen zu wollen. Allerdings legt sie damit noch nicht dar, dass sie mit diesem Verhalten auch in den Schutzbereich des Art. 8 GG fällt. Denn - wie dargestellt - müsste es sich dabei um eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung handeln. Die Antragstellerin trägt allerdings weder vor, mit einer oder mehreren weiteren Personen zu Fuß unterwegs sein zu wollen, noch beabsichtigt sie, gerade durch die Fortbewegung zu Fuß an der öffentlichen Meinungsbildung teilhaben zu wollen. Vielmehr wolle sie sich lediglich zu Fuß fortbewegen, während sie innerlich von einer kritischen Haltung zu den staatlichen Corona-Maßnahmen getragen sei. Damit liegt jedoch der Zweck der Fortbewegung zu Fuß allein darin, von einem Ort zu dem nächsten zu gelangen und gerade nicht in der öffentlichen Meinungsbildung durch eine nach außen gerichtete Form der Kundgebung oder Erörterung. Die innerlich kritische Haltung zu staatlichen Corona-Maßnahmen erfolgt dabei allein „bei Gelegenheit“ der Fortbewegung und ist ersichtlich nicht handlungsleitend. Dieses Vorhaben der Antragstellerin genügt für eine mögliche Rechtsverletzung von Art. 8 GG demnach nicht, weil sie damit nicht geltend macht, an einer nicht angemeldeten Versammlung teilnehmen zu wollen (vgl. auch BayVGH, B.v. 17.1.2022 - 10 CS 22.125 - S. 5: „Einkaufen und Geldabheben“). Im Übrigen ist auch nicht vorgetragen oder wäre sonst ersichtlich, dass sie in der Vergangenheit (z.B. am letzten Montag, den … Januar 2022) für eine von der Allgemeinverfügung erfasste Versammlungsteilnehmerin gehalten oder auf sonstige Weise von staatlichen Stellen in unmittelbarer Folge der Allgemeinverfügung behelligt worden wäre, sodass sich eine Antragsbefugnis auch nicht aus Art. 2 Abs. 1 GG ergibt (vgl. hierzu Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 35 Rn. 274).
14
Soweit die Antragstellerin weiter meint, es sei unklar, ob sie mit ihrem Verhalten unter den Geltungsbereich der Allgemeinverfügung falle, weshalb diese zu unbestimmt und deswegen rechtswidrig sei, teilt das Gericht diese Bedenken der Antragstellerin nicht. Vielmehr ist es einem jeden Rechtsbegriff - hier: „Versammlung nach Art. 8 GG“ - immanent, dass unter diesen auf der nachfolgenden Ebene der Rechtsanwendung im Einzelfall anhand eines konkreten Lebenssachverhalts subsumiert werden muss. Diese von der Antragstellerin offenbar subjektiv als Rechtsunsicherheit empfundene Situation ist jedoch bloßer und gemeinhin üblicher Reflex der juristischen Regelungstechnik, mit der viele Lebenssachverhalte erfasst werden sollen. Die Notwendigkeit einer Subsumtion im Einzelfall führt mitnichten zu einer Rechtswidrigkeit der jeweiligen Anordnung. Sollte es im Einzelfall auf der Ebene der Rechtsanwendung im Vollzug zu Anwendungsfehlern kommen, welche vorliegend jedoch nicht streitgegenständlich sind, stehen der Antragstellerin die vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten offen.
15
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG. Da die Entscheidung die Hauptsache im Wesentlichen vorwegnimmt, besteht kein Anlass, den Streitwert gemäß Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs zu mindern.