Inhalt

LSG München, Urteil v. 15.03.2022 – L 5 KR 40/19
Titel:

Krankenversicherung: Weitergewährung von Krankengeld

Normenkette:
SGB V § 46
Leitsatz:
Kurzfristige Terminvereinbarungen stellen keine krankengeldschädliche Obliegenheitsverletzung dar. (Rn. 28 – 31)
Schlagworte:
gesetzliche Krankenversicherung, Krankengeld, Weitergewährung, Arbeitsunfähigkeit, Obliegenheitsverletzung, Arzt-Patienten-Kontakt, kurzfristige Terminvereinbarung, rückwirkende Feststellung
Vorinstanz:
SG Augsburg, Urteil vom 19.12.2018 – S 2 KR 346/18
Rechtsmittelinstanz:
BSG Kassel, Urteil vom 21.09.2023 – B 3 KR 11/22 R
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2022, 39321

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 19.12.2018 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte erstattet der Klägerin deren außergerichtliche Kosten auch in der Berufung.
III. Die Revision wird zugelassen

Tatbestand

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Streitig ist die Weitergewährung von Krankengeld über den 17.06.2018 hinaus bis 11.09.2018.
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1. Die 1966 geborene Klägerin war vom 01.05.2016 bis 30.04.2018 aufgrund Beschäftigung gesetzlich krankenversichertes Mitglied der Beklagten. Am 21.09.2017 erkrankte die Klägerin arbeitsunfähig wegen einer Schulteroperation und bezog deshalb nach Ende der Entgeltfortzahlung des Arbeitgebers Krankengeld der Beklagten wegen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit (AU) infolge nicht weiter gebesserter Schulterbeschwerden. Mit Erklärung vom 09.11.2017 bestätigte sie der Beklagten die Pflicht zum lückenlosen Nachweis der Arbeitsunfähigkeit, um ihren Anspruch auf Krankgengeld aufrecht zu erhalten. Aufgrund fortbestehender medizinisch begründeter AU (Arztbrief der Chirurgen W und Koll./B vom 02.05.2018: Schulterbedingte AU bis mind. Suppt. 2018) sowie entsprechender Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AUB) bezog die Klägerin Krankengeld, zuletzt bis 17.06.2018 aufgrund AUB des behandelnden Arztes S/A vom 17.05.2018. Die darauffolgende AUB des S datiert vom Mittwoch, 20.06.2018 mit Arbeitsunfähigkeit bis 18.07.2018.
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Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 21.06.2018 gegenüber der Klägerin fest, dass seit 18.06.2018 kein Versicherungsschutz mehr mit Anspruch auf Krankengeld bestehe. Die fortbestehende Mitgliedschaft wegen Krankengeldbezugs bestehe seit dem 18.06.2018 nicht mehr, das Beschäftigungsverhältnis sei seit 30.04.2018 beendet. Die Klägerin sei daher nicht mehr mit Anspruch auf Krankengeld versichert.
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Die Klägerin legte ein ärztliches Attest des S vom 22.06.2018 vor, wonach die Klägerin am 18.06.2018 in seiner hausärztlichen Praxis gewesen sei. Wegen des sehr hohen Patientenaufkommens sei jedoch fälschlicherweise ein Termin erst für den 20.06.2018 vergeben und die AUB erst am Mittwoch, 20.06.2018 verlängert worden. Zudem erhob die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 21.06.2018 und begehrte Feststellung der fortbestehenden Mitgliedschaft sowie Weitergewährung von Krankengeld ab dem 18.06.2018. Die praxisbedingte Abweisung am 18.06.2018 sowie die AUB-Erstellung erst am 20.06.2018 seien der Klägerin nicht anzulasten. AU bestehe unstrittig und auch nachgewiesen wegen Schultererkrankung weiterhin fort. Die Klägerin habe im Sinne der Rechtsprechung des BSG vom 11.05.2017 alles getan, um eine rechtzeitige Feststellung der Arbeitsunfähigkeit vornehmen zu lassen. Ein Fehler des Arztes dürfe nicht zu Lasten von ihr als Patientin gehen, bei ihr liege kein Verschulden vor. Außerdem dürfe eine rückwirkende AUB erstellt werden. Mit Widerspruchsbescheid vom 25.07.2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Am 18.06.2018 habe kein Arzt-Patienten-Kontakt stattgefunden. Die AUB vom 20.06.2018 begründe eine Lücke im Krankengeldbezug, welche die fortbestehende Mitgliedschaft unterbrochen und zu einer Versicherung ohne Krankengeld geführt habe.
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2. Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Augsburg (SG) hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt, iW mit der Begründung, sie sei ärztlich attestiert durchgehend wegen ihrer Schultererkrankung arbeitsunfähig gewesen und habe auch rechtzeitig in der Praxis des behandelnden Arztes wegen einer lückenlosen AUB vorgesprochen. Dass sie am 18.06.2018 auf den 20.06.2018 verwiesen worden sei, dürfe ihr nicht angelastet werden, weil sie der Sprechstundenhilfe des S am 18.06.2018 gesagt habe, dass sie eine Folgebescheinigung der Arbeitsunfähigkeit benötige. Gleichwohl sei sie wegen des Patientenandranges nicht in die Sprechstunde vorgelassen worden, weil die Sprechstundenhilfe - fälschlicherweise - davon ausgegangen war, eine Folgebescheinigung könne auch später ausgestellt werden. Die Beklagte hat erwidert, am 18.06.2018 habe kein Arzt-Patienten-Kontakt stattgefunden habe. Mit dem kurzfristig am 18.06.2018 angestrebten Arzt-Termin habe die Klägerin nicht alles in ihrer Macht Stehende getan, um eine rechtzeitige AUB zu erlangen. Nach der Rechtsprechung des Bayer. LSG fielen kurzfristige Terminengpässe nicht in den Verantwortungsbereich der Beklagten als gesetzliche Krankenkasse, weil die Klägerin einen anderen Arzt oder den Kassenärztlichen Notdienst hätte in Anspruch nehmen können.
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In der Folgezeit legte die Klägerin AUB durchgängig vor, so dass vom 20.06.2018 bis 11.09.2018 AU durchgängig festgestellt ist. Am 12.09.2018 stellte sich die Klägerin der Arbeitsvermittlung zur Verfügung und bezog bis zum 07.11.2018 Arbeitslosengeld, sodann seit 08.11.2018 erneut Krankengeld.
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Mit Urteil vom 19.12.2018 hat das SG die Beklagte zur Krankengeldgewährung vom 17.06.2018 bis 11.09.2018 verurteilt und für diese Zeit fortbestehende Mitgliedschaft wegen Krankengeldbezugs festgestellt. Die Obliegenheit zur lückenlosen AU-Feststellung sei nicht verletzt, wenn ein Arzt aufgesucht werde und dieser die Ausstellung ablehne. Haben Versicherte innerhalb normaler Praxisöffnungszeiten den behandelnden Arzt in dessen Praxis persönlich aufgesucht und deutlich gemacht, dass eine AUB nach Untersuchung, zu welcher der Versicherte bereit sei, ausgestellt werden solle, dann habe dieser alles in seiner Macht Stehende getan, um die ärztliche Feststellung der AU herbeizuführen. Das habe die Klägerin vorliegend getan, die Abweisung aufgrund hohen Patientenaufkommens sei ihr nicht anzulasten. Einen Arzt-Patienten-Kontakt, wie von der Beklagten gefordert, könnten Versicherte nicht erzwingen. Versicherte seinen verpflichtet, die Dringlichkeit des Arzt-Patienten-Kontaktes in sozial-adäquater Weise vorzutragen und deutlich zu machen. Das habe die Klägerin getan. Auch habe sich die Klägerin erst am letzten Tag des anspruchserhaltenden Zeitraums, d.h. am 18.06.2018, um einen Termin bemühen dürfen. Auch im Ausgangsfall des Urteils des BSG 11.05.2017 - B 3 KR 22/15 R habe sich der Kläger erst am letzten Tag des anspruchserhaltenden Zeitraums persönlich um eine AUB bemüht; das BSG habe in dieser Entscheidung keine Obliegenheitsverletzung des Versicherten erkannt. Auch im weiteren Verlauf habe die Klägerin jeweils unverzüglich das Erforderliche getan durch Vorlage der AUB vom 20.06.2018, des Attestes des S vom 22.06.2018 und durch ihren Vortrag im zeitnahen Widerspruchsverfahren.
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3. Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt und betont, die Klägerin habe nicht alles Zumutbare getan, um den Krankengeldanspruch aufrecht zu erhalten. Nach dem Urteil des Bayer. LSG 28.3.2018 - L 20 KR 64/18 obliege es den Versicherten, alles zu tun, um den Versicherungsschutz aufrecht zu erhalten. Dies erfordere ein rechtzeitiges Aktivwerden sowie einen Arzt-Patienten-Kontakt. An beidem gebreche es vorliegend. Dem hat sich die Klägerin unter Bezug auf die erstinstanzliche Entscheidung widersetzt.
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Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Augsburg vom 19.12.2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Verwaltungsakten der Beklagten. Darauf sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge wird zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die form- und fristgerechte Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 151, 153 SGG), aber unbegründet. Zu Recht hat das SG im gegenständlichen Urteil vom 19.12.2018 den streitigen Bescheid der Beklagten vom 21.06.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.07.2018 aufgehoben und die Beklagte zur Krankengeldgewährung bei fortbestehender Mitgliedschaft vom 18.06.2018 bis 11.09.2018 verurteilt. Denn zur Erlangung durchgängiger AUB hat die Klägerin alles ihr Zumutbare unternommen, während ein Fehlverhalten auf Seiten der Vertragsarztpraxis S vorliegt, welches der Beklagten zuzurechnen ist.
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1. Anspruch auf Krankengeld haben nach § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 44 SGB V pflichtversicherte Beschäftigte, sobald die AU gem. § 46 SGB V ärztlich festgestellt ist und zwar bis zu dem ärztlich festgestellten Zeitpunkt. Nach § 46 SGB V in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 20 Abs. 1 GKV-VSG vom 16.7.2015, BGBl I 1211 bleibt der Anspruch auf Krankengeld jeweils bis zu dem Tag bestehen, an dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wird, wenn diese ärztliche Feststellung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit erfolgt. Wird auf dieser Basis Krankengeld bezogen, besteht die Mitgliedschaft gem. § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V fort, wenn Krankengeld auch über das Ende der Pflichtmitgliedschaft begründenden Beschäftigungsverhältnisses bezogen wird.
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Diese fortbestehende Mitgliedschaft endet insbesondere, wenn Krankengeld mangels ärztlicher Feststellung nicht mehr bezogen wird, zB weil fortbestehende AU nicht lückenlos iSd § 46 SGB V festgestellt wird. Insoweit haben die Versicherten im Sinne einer Obliegenheit dafür Sorge zu tragen, dass eine rechtzeitige ärztliche AU-Feststellung erfolgt (BSG, 29.10.2020 - B 3 KR 6/20 R, Rn. 23 - zitiert nach Juris). Mit dem Erfordernis vorgeschalteter ärztlich festzustellender Arbeitsunfähigkeit sollen beim Krankengeld Missbrauch und praktische Schwierigkeiten vermieden werden, zu denen die nachträgliche Behauptung der Arbeitsunfähigkeit und deren rückwirkende Bescheinigung beitragen könnte.
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Eine Lücke in den ärztlichen AU-Feststellungen ist allerdings nicht nur bei medizinischen Fehlbeurteilungen, sondern auch bei nichtmedizinischen Fehlern eines Vertragsarztes für den Versicherten unschädlich, wenn sie der betroffenen Krankenkasse zuzurechnen ist. Verspätet erfolgte ärztliche AU-Feststellungen stehen einem Krankengeldanspruch nicht entgegen, wenn
1.
der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat, um seine Ansprüche zu wahren, indem er einen zur Diagnostik und Behandlung befugten Arzt persönlich aufgesucht und ihm seine Beschwerden geschildert hat, um (a) die ärztliche Feststellung der AU als Voraussetzung des Anspruchs auf Krg zu erreichen, und (b) dies rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw -erhaltenden zeitlichen Grenzen für den Krg-Anspruch erfolgt ist,
2.
er an der Wahrung der Krg-Ansprüche durch eine (auch nichtmedizinische) Fehlentscheidung des Vertragsarztes gehindert wurde (zB eine irrtümlich nicht erstellte AU-Bescheinigung), und
3.
er - zusätzlich - seine Rechte bei der KK unverzüglich, spätestens innerhalb der zeitlichen Grenzen des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V, nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend macht.
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Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist der Versicherte so zu behandeln, als hätte er von dem aufgesuchten Arzt rechtzeitig die ärztliche Feststellung der AU erhalten (mittlerweile st. Rspr, vgl. BSG, aaO, Rn. 25 - 26 mwN).
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Diese Voraussetzungen hat das BSG (aaO) dahingehend konkretisiert, dass ein Versicherter auch dann Anspruch auf Krankengeld hat, wenn es zu einem Patienten-Arzt-Kontakt aus dem Vertragsarzt und damit der Krankenkasse zurechenbaren Gründen erst verspätet, aber nach Wegfall dieser Gründe gekommen ist.
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2. In Anwendung dieser Rechtsgrundsätze auf den hier zu entscheidenden Fall ist zunächst festzustellen, dass die Klägerin aufgrund versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses beruhender Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V Anspruch auf Krankengeld gem. § 44 SGB V hatte. Dieser Anspruch hatte sich realisiert infolge Arbeitsunfähigkeit wegen durchgehender Erkrankung der Klägerin im Schulterbereich seit 21.09.2017 und zum Krankengeldbezug seit 02.11.2017 geführt. In der Folge bestand seither gem. § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V fortbestehende Mitgliedschaft und zwar auch über das Ende des Beschäftigungsverhältnisses zum 30.04.2018 hinaus. Dieser Sachverhalt ist zweifellos aus den Verwaltungsakten der Beklagten zu entnehmen unter namentlichem Einschluss der dortigen medizinischen Befunde; dies ist zudem auch zwischen den Beteiligten nicht streitig.
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Die nach Maßgabe des Beschäftigungsverhältnisses geschuldete Arbeitsleistung konnte die Klägerin seit 21.09.2017 sowie jedenfalls bis 11.09.2018 wegen Schulterbeschwerden nicht erbringen. Auch diesen, auf medizinischem Gebiet liegenden Sachverhalt beweist die gesamte medizinische Dokumentation im Verfahren der Beklagten sowie in beiden gerichtlichen Instanzen; die Arbeitsunfähigkeit in diesen Zeiträumen ist zwischen den Beteiligten ebenfalls nicht streitig.
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Ebenso ist nach Lage der Akten bewiesen und unstreitig, dass bis 17.06.2018 sowie ab 20.06.2018 bis 11.09.2018 AU lückenlos und durchgehend jeweils rechtzeitig um Ende des jeweiligen AU-Zeitraumes ärztlich festgestellt ist. Das Nämliche gilt für die jeweils fristgerechte Vorlage der AUB bei der Beklagten.
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3. Obwohl nach der AUB des behandelnden Arztes S/A vom 17.05.2018 nicht rechtzeitig zum Montag 18.06.2022, sondern erst am Mittwoch, 20.06.2022 eine AU-Feststellung erfolgt ist, ist es im hier zu entscheidenden Falle ausnahmsweise zu keiner Unterbrechung des Krankengeld-Anspruchs gekommen, so dass die wegen Krankengeld fortbestehende Mitgliedschaft nicht geendet hat.
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a) Nach den in sich widerspruchsfreien und über den gesamten Verlauf hinweg gleichbleibenden und glaubhaften Angaben der Klägerin sowie nach den Angaben des behandelnden Arztes S, welche auch zwischen den Beteiligten nicht strittig sind, ist dazu folgender Sachverhalt festzustellen:
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Die Klägerin hat am Montag, den 18.06.2022 zu üblicher Öffnungszeit die Praxis des behandelnden Arztes S aufgesucht. Sie hat dort ihr Begehren kundgegeben, dass sie wegen fortbestehender, in Befund und Auswirkung gleichgebliebener Schulterbeschwerden eine ärztliche AUB nach Untersuchung, für welche sie bereitstehe, benötige. Dieses Begehren hat die nichtärztliche Praxis-Angestellte des S entgegengenommen. Diese hat jedoch dem Begehren eine unmissverständliche Absage erteilt und dies gegenüber der Klägerin sachlich begründet mit Überlastung des Arztes infolge aktuellen hohen Patientenaufkommens. Die Praxiskraft des S war hierbei davon ausgegangen, dass auch eine spätere Ausstellung einer AUB, zB am 21.06.2018 unschädlich für den Krankengeldanspruch der Klägerin wäre. Sie hat deshalb die Klägerin mit ihrem Begehren abgewiesen und einen neuen Arzttermin für den 20.06.2018 ausgemacht. Dieses hat die Klägerin befolgt und am 20.06.2018 nach ärztlicher Untersuchung eine Folge-AUB erhalten. Diesen Sachverhalt hat die Klägerin der Beklagten sofort und ohne schuldhaftes Zögern nach Erhalt des Bescheides vom 21.06.2018 dargetan und im wenige Tage später bei der Beklagten eingegangenen Widerspruchschreiben verständlich und mit Tatsachen unterlegt erläutert.
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b) Der nach diesem Sachverhalt fehlende Arzt-Patienten-Kontakt am 18.06.2018 ist vorliegend für den Krankengeldanspruch unschädlich.
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aa) Denn die Klägerin hat der für die Vorbereitung der Patientenbehandlung zuständigen Praxiskraft die Erforderlichkeit des Arztkontaktes zum Zwecke einer AUB-Ausstellung geschildert und wurde dennoch nicht vorgelassen. Diese Situation hätte die Klägerin nur dadurch abändern können, dass Sie den persönlichen Kontakt zwischen S und ihr erzwungen hätte. Mit welchen Mitteln und mit welchen Weiterungen sie das sozialadäquat und ohne eine Weiterbehandlung zu gefährden hätte bewerkstelligen sollen, ist vorliegend nicht erkennbar. Somit hat die Klägerin alles ihr Zumutbare getan. Und eine nicht im Verantwortungsbereich der Versicherten liegende Machtlosigkeit und Erzwingbarkeit darf sich nicht zu ihrem Nachteil auswirken. Zuzumuten ist, nachdrücklich um einen Kontakt zum Arzt nachzusuchen und lange Wartezeiten auf sich zu nehmen (LSG NRW 26.4.2018 - L 16 KR 353/1), mehr jedoch nicht. Ein „Arzt-Hopping“, das ohnehin grundsätzlich unerwünscht ist (§ 76 Abs. 3 Satz 1 SGB V), statt des nachvollziehbaren und wegen des als Zeichen der Komplexheit der Schultererkrankung protrahierten Verlaufes medizinisch begründeten Begehrens, von dem mit der AU schon vertrauten (hier: Fach-)Arzt weiterbetreut zu werden, kann grundsätzlich nicht verlangt werden.
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Die entsprechende Fallgestaltung ist in der Rechtsprechung anerkannt als eine auf Wunsch des Vertragsarztes bzw. seines von ihm angeleiteten Praxispersonals erfolgte Verschiebung des rechtzeitigen Arzttermins in der Vorstellung, ein späterer Termin sei für den Versicherten leistungsrechtlich unschädlich, weil nach den Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien (AU-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses auch die begrenzte rückwirkende ärztliche AU-Feststellung statthaft sei (BSG, 26.03.2020 - B 3 KR 10/19 R, Rn. 23, zitiert nach juris).
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Zudem erlauben die in der vertragsärztlichen Versorgung verbindlichen Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien (§ 92 Abs. 1 Satz 2 Nr.7 SGB V) den Vertragsärzten ausdrücklich eine Rückdatierung und rückwirkende Bescheinigung der AU (§ 5 Abs. 3, s auch § 6 Abs. 2 AU-RL). Die Vertragsärzte werden in dem Regelwerk zugleich allerdings nicht - was geboten wäre - deutlich auf die damit verbundenen ganz erheblichen leistungsrechtlichen Nachteile für die Krankengeld-Ansprüche der sie aufsuchenden Versicherten der GKV hingewiesen. Entsprechend hervorgerufene bzw aufrechterhaltene Fehlvorstellungen bei Vertragsärzten und ihren Bediensteten über die leistungsrechtliche Unschädlichkeit rückwirkender AU-Feststellungen sind den Krankenkassen zuzurechnen.
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bb) Nicht zu folgen ist dem Teil der Rechtsprechung und dem Standpunkt der Beklagten, dass kurzfristige Terminvereinbarungen eine krankengeldschädliche Obliegenheitsverletzung darstellen.
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Gesetzlich Krankenversicherte dürfen darauf vertrauen, dass das Pflichtsystem des SGB V funktionsfähig ist, dass die gesetzlichen Leistungen bedarfsdeckend zur Verfügung stehen und dass die zugelassenen Leistungserbringer ihren Pflichten entsprechen. Für die vertragsärztliche Versorgung bestimmen § 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB V und § 2 Abs. 1 Nr. 9 BMV-Ä ausdrücklich, dass die Ausstellung von AUB Aufgabe der Vertragsärzte ist. Versicherte dürfen - mit Ausnahme von im vorliegenden Falle nicht anzunehmenden Ausnahmesituationen und Sonderkonstellationen - darauf vertrauen, dass zu üblichen Praxiszeiten diese zentrale gesetzliche Pflicht von jedem Vertragsarzt erfüllt wird und dass dieser alles tut, damit dieser Pflicht Genüge getan wird. Dass vorsichtige Terminplanung auch bei der AUB-Ausstellungen angeraten werden kann, ändert an dieser Pflichten-Rechtekonstellation nichts. Insbesondere müssen Versicherte nicht damit rechnen, dass Vertragsärzte aus Praxisgründen ihre gesetzlichen Pflichten nicht oder nicht entsprechend der gesetzlichen Fristen erfüllen.
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Zudem ist es das Wesen von Fristen, dass sie Fristen verbindlich sind und zwar in beide Richtungen. Sind sie überschritten, dann treten die entsprechenden Folgen ein, sind sie eingehalten, bleiben Rechte und Ansprüche bestehen. Deshalb dürfen Fristen nicht rechtswidrig vorzeitig verkürzt oder abgeschnitten werden, aus dem Ausnutzen von Fristen dürfen keine Nachteile entstehen. So liegt der Fall hier: Die Ausstellung einer AUB hat die Klägerin bei S dem Fristenregime zur Aufrechterhaltung einer fortbestehenden Mitgliedschaft infolge Krankengeldbezuges entsprechend rechtzeitig verlangt am Montag, den 18.06.2022 als gem. § 46 SGB V maßgeblichem Folgetag des letzten Tages, an für welchen AU bescheinigt war - Sonntag 17.06.2018.
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Diese Wertung wird zudem gestützt von der Entscheidung BSG, 16.12.2014 - B 1 KR 19/14 R (zugrundeliegender Sachverhalt: AUB am letzten Tage des Beschäftigungsverhältnisses). Nach diesem Urteil reicht es aus, dass Versicherte am letzten Tage des Versicherungsverhältnisses mit Anspruch auf Krankengeld - dort also des Beschäftigungsverhältnisses - alle Voraussetzungen erfüllen, um einen Krankengeld-Anspruch entstehen zu lassen. Nichts Anderes kann vorliegend gelten für den letzten Tag, um einen Krankengeld-Anspruch fortbestehen zu lassen. Auch im Ausgangsfall des Urteils des BSG 11.05.2017 - B 3 KR 22/15 R war der letzte Tag des anspruchserhaltenden Zeitraumes Streitgegenstand, ohne dass dies ein höchstrichterliches Monitum verursacht hätte.
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Die Berufung der Beklagten bleibt damit ohne Erfolg.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Die Revision ist gem. § 160 SGG infolge der Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung zur Rechtzeitigkeit eines Arzttermines am letzten Tag einer festgestellten AU wegen grundsätzliche Bedeutung iSd § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.