Inhalt

VG München, Urteil v. 20.12.2022 – M 15 K 20.31938
Titel:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen früherer Tätigkeit bei der afghanischen Polizei

Normenkette:
AsylG § 3, § 3b Abs. 1 Nr. 5, § 3e
Leitsatz:
Einem nicht vorverfolgt ausgereisten afghanischen Staatsangehörigen, der vor der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan als Polizist tätig war, droht bei einer Wiedereinreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, ohne dass eine Möglichkeit internen Schutzes besteht. (Rn. 21 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Afghanistan, Frühere Tätigkeit bei der Polizei, Zweifel an Glaubhaftigkeit hinsichtlich Vorverfolgung, Beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung aufgrund tatsächlicher Umstände, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (bejaht), Herkunftsland Afghanistan, frühere Tätigkeit bei der Polizei, Machtübernahme durch Taliban, politische Verfolgung, keine Vorverfolgung, Zweifel an Glaubhaftigkeit, beachtliche Wahrscheinlichkeit, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
Fundstelle:
BeckRS 2022, 38974

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ... Juli 2020 wird in den Nrn. 1 und 3 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.   

Tatbestand

1
Der Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger, Zugehöriger der Volksgruppe der Pashtunen und sunnitischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben am … November 2019 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am … Dezember 2019 Asylantrag.
2
In der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am … Dezember 2019 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass sein Leben in Afghanistan in höchster Gefahr gewesen sei, da ihn Regierungsgegner hätten umbringen wollen. Er habe zusammen mit seinem Onkel einen Polizeiposten im Ort innegehabt. Am … Oktober 2013 seien sie mit dem Dienstauto zum zentralen Distrikt gefahren, dabei sei eine Mine explodiert und sie hätten sehr viele Verletzungen am Kopf und an den Händen erlitten. Sein Onkel sei am … Juli 2014 bei einem Überfall der Regierungsgegner ums Leben gekommen. Nach dem Tod seines Onkels habe er ständig Angst gehabt, wenn er von der Arbeit nach Hause gegangen sei, da er ständig habe befürchten müssen, angegriffen und getötet zu werden. Zehn Tage nach dem Tod seines Onkels seien sie umgezogen und er habe seine Arbeit fortgesetzt. Trotz des Umzugs sei er weiterhin bedroht worden. Am … Oktober 2017 hätten ihn auf dem Heimweg zwei maskierten Personen angesprochen. Eine Person habe mit dem Handy gefilmt, die andere Person habe ihm mit einem Messer zwei Mal in den Bauch gestochen. Er habe trotz der Verletzungen fliehen können und sei zu sich nach Hause gegangen. Dort habe ihn sein Bruder nach K. … gebracht, wo er operiert worden sei. Der Arzt habe ihm gesagt, dass er sich ein Jahr lang ausruhen müsse, damit die Wunde verheile. Seine Familie habe Tag und Nacht Angst gehabt, von den Regierungsgegnern getötet zu werden. Auch habe er nicht in Ruhe schlafen können und sei von seiner Familie bewacht worden. Als er vom Krankenhaus nach Hause gekommen sei, habe er seinem Vorgesetzten mitgeteilt, dass er seinen Dienst nicht mehr fortsetzen könne. Am … Mai 2019, als er gesundheitlich wieder fit gewesen sei, habe er sein Heimatland verlassen. Der Kläger habe neun Jahre lang die Schule besucht und von … 2013 bis ... 2017 als lokaler Polizist gearbeitet. In Afghanistan lebten noch seine Frau, zwei Töchter (sechs und acht Jahre alt), ein Sohn (drei Jahre alt), seine Mutter, sechs Brüder und drei Schwestern sowie seine Großfamilie, zu denen er auch Kontakt habe. Seine Familie habe auch Grundstücke besessen.
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Unter anderem ein Dienstausweis der afghanischen Polizei und zwei Bestätigungen über Teilnahme an Fortbildungen für die lokale Polizei wurden vorgelegt.
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Mit Bescheid vom ... Juli 2020, zugestellt am ... Juli 2020, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung bzw. unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, anderenfalls wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan bzw. in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 5). Zudem wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Zur Begründung führte das Bundesamt insbesondere aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen. Bei der geltend gemachten Verfolgung durch Regierungsgegner, möglicherweise den Taliban, aufgrund seines Polizeidienstes komme eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure in Anknüpfung an die politische Überzeugung des Klägers i.S.d. § 3b AsylG in Betracht. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt seines Sachvortrages habe der Kläger im Rahmen der Schilderungen zum Ausreisegrund trotz mehrere Nachfragen kein konkretes aktuelles individuelles Verfolgungsschicksal darlegen können. Der Vorfall habe sich etwa 1,5 Jahre vor seiner Ausreise ereignet. Im Übrigen müsse sich der Kläger auf die Inanspruchnahme internen Schutzes verweisen lassen. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer Verfolgung bedroht sei. Denn bei ihm handele es sich in keiner Weise um ein hochrangiges Verfolgungsziel, das allein ein aktuell noch fortbestehendes Interesse der Taliban an dessen Ergreifung in K. …, ... oder H. … nahelegen könnte. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger aufgrund seiner früheren Tätigkeit als örtlicher Polizist landesweit verfolgt werde. Dies gelte nur dann, wenn der Betroffene eine besonders hohe Position bei der Polizei oder dem Militär eingenommen habe, zumal er seinen Dienst im … 2017 niedergelegt habe, ohne dass es zu anschließenden Angriffen gekommen sei. Hinzu komme, dass es in Afghanistan kein funktionierendes Meldewesen gebe. Der Kläger sei auch in der Lage, am Ort des internen Schutzes einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Aufgrund seiner schulischen Ausbildung, seiner beruflichen Vorerfahrungen und dem familiären Rückhalt durch Geschwister und Großfamilie sei davon auszugehen, dass es ihm möglich sein werde, bei einer Rückkehr eine für sich und seine Familie existenzsichernde Lebensgrundlage zu erreichen.
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Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes lägen nicht vor. Dem Kläger drohe keine Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bestehe nicht. Der Kläger habe keine persönlichen Umstände vorgetragen, die die Gefahr für ihn so erhöhten, dass von individuellen konfliktbedingten Gefahren gesprochen werden könne.
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Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Dem Kläger drohe keine durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Afghanistan führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Er sei volljährig sowie erwerbsfähig und habe Verwandte in seinem Heimatland, die ihn notfalls unterstützen könnten. Auch verfüge er über einen hohen Bildungsstand, sei gegenüber vielen Analphabeten klar im Vorteil und könne ein deutlich größeres Spektrum an Tätigkeiten ausüben, was wiederum seine Chancen auf eine Erwerbstätigkeit spürbar erweitere. Aufgrund seiner Tätigkeiten als Polizist und Bauarbeiter habe er bereits in der Vergangenheit unter Beweis gestellt, dass er auch unter schwierigen Bedingungen in Afghanistan in der Lage sei, Strategien für ein wirtschaftliches Überleben zu entwickeln. Dies gelte auch vor dem Hintergrund, dass der Kläger in Afghanistan eine eigene Familie zu versorgen habe. Nicht zuletzt könne er im Falle einer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan finanzielle Unterstützung aus den Rückkehrprogrammen in Anspruch nehmen. Individuell gefahrerhöhende Umstände seien weder vorgetragen, noch ersichtlich. Dem Kläger drohe auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben.
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Hiergegen erhob der Kläger zur Niederschrift am ... 2020 beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage und beantragte,
1.
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom ... Juli 2020 in Ziffer 1 und Ziffer 3 bis 6 aufzuheben,
2.
die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen,
3.
die Beklagte zu verpflichten, den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
4.
die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bestehen.
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Zur Begründung nahm er auf seine Angaben gegenüber dem Bundesamt Bezug.
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Die Beklagte stellte keinen Antrag.
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Mit Schriftsatz vom … Februar 2022 führten die nunmehr Klägerbevollmächtigten im Wesentlichen ergänzend aus, dass aufgrund der geänderten Sachlage in Afghanistan durch die Machtübernahme der Taliban und der vormaligen Tätigkeit als Polizist die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen sei.
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Die Beklagte teilte ergänzend insbesondere mit, dass es an einem konkreten aktuellen individuellen Verfolgungsschicksal fehle. Der geschilderte Vorfall habe sich etwa 1,5 Jahre vor seiner Ausreise ereignet, wobei er die Angreifer nicht habe erkennen können. Es könne auch Zufall sein, dass der Kläger gerade angegriffen worden sei, ein Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Polizist und dem Angriff im Jahr … sei nicht ersichtlich. Außerdem habe er seine Tätigkeit als Polizist aufgegeben und noch etwa 1,5 Jahre durch die Unterstützung seiner Familie in Afghanistan leben können.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am ... 2022 Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).

Entscheidungsgründe

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Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am ... 2022 trotz Ausbleibens der Beklagtenseite entschieden werden. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Falle des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Die Klage ist zulässig und begründet, da der Bescheid vom ... 2020 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dieser hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG (§ 113 Abs. 5 VwGO).
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1. Gemäß § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgungshandlungen werden in § 3a AsylG näher umschrieben, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG erläutert. Eine Verfolgung kann nach § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Allerdings wird dem Ausländer gemäß § 3e Abs. 1 AsylG die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
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Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „aus begründeter Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. VG Ansbach, U.v. 28.4.2015 - AN 1 K 14.30761 - juris Rn. 65 ff. unter Verweis auf: BVerwG, U.v. 18.4.1996 - 9 C 77.95, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; B.v. 7.2.2008 - 10 C 33.07, ZAR 2008, 192; U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377; U.v. 1.6.2011 - 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936).
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Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 37.18 - juris Rn. 13).
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Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU ist allerdings die Tatsache, dass ein Antragsteller in seinem Herkunftsland bereits vorverfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2010 - 10 C 11.09; U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09; VGH BW, U.v. 17.1.2018 - A 11 S 241/17 - juris Rn. 47 ff.; U.v. 9.11.2010 - A 4 S 703/10; U.v. 27.9.2010 - A 10 S 689/08). Ist der Ausländer demgegenüber unverfolgt aus seinem Heimatland ausgereist, ist die Flüchtlingseigenschaft nur dann zuzuerkennen bzw. kann auch subsidiärer Abschiebungsschutz regelmäßig nur dann gewährt werden, wenn ihm zukünftig nach den konkreten Fallumständen eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht und ihm deshalb eine Rückkehr in den Heimatstaat nicht zuzumuten ist. Dies setzt eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne Weiteres mit jederzeitigem Verfolgungseintritt aktuell rechnen muss (vgl. BVerwG, U.v. 24.11.2009 - 10 C 24.08 - juris).
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Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Insbesondere wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, ist für die Glaubwürdigkeit auf die Plausibilität des Tatsachenvortrags des Asylsuchenden, die Art seiner Einlassung und seine Persönlichkeit - insbesondere seine Vertrauenswürdigkeit - abzustellen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissenstand und Herkunft des Asylbewerbers berücksichtigt werden (vgl. OVG NRW, U.v. 17.8.2010 - 8 A 4063/06.A - juris Rn. 34). Der Asylsuchende ist insoweit gehalten, seine Gründe für eine Verfolgung bzw. Gefährdung schlüssig und widerspruchsfrei mit genauen Einzelheiten vorzutragen. Bei erheblichen Widersprüchen und Steigerungen im Sachvortrag kann dem Schutzsuchenden nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden; hierbei bilden das Verfahren vor der Verwaltungsbehörde und das gerichtliche Verfahren eine Einheit (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 - 9 C 27.85 - juris).
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2. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist das Gericht zwar vorliegend nicht davon überzeugt, dass der Kläger vorverfolgt ausgereist ist (2.1). Unabhängig davon droht ihm dennoch unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel aufgrund seiner früheren Tätigkeit als Polizist bei einer Wiedereinreise nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Anknüpfung an seine politische Überzeugung i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG (2.2, 2.3). Für den Kläger besteht auch keine Möglichkeit internen Schutzes i.S.d. § 3e AsylG (2.4).
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2.1 Der Kläger vermochte nicht, eine erlittene Vorverfolgung zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Der Vortrag des Klägers weist einige Ungereimtheiten und Widersprüche auf, die am Wahrheitsgehalt des geschilderten Vorverfolgungsschicksals erhebliche Zweifel aufkommen lassen. Während der Kläger beim Bundesamt angegeben hatte, dass er und sein Onkel bei der Minenexplosion am ... 2013 verletzt worden seien, steigerte er sein Vorbringen vor Gericht in unglaubhafter Weise dahingehend, dass eine weitere Person bei dem Anschlag ums Leben gekommen sei. Auch hat der Kläger erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgebracht, dass der „Checkpoint“, bei dem er gearbeitet habe, seit dem Jahr 2013 etwa ein bis zwei Mal wöchentlich von den Taliban angegriffen worden sei. Als Reaktion hierauf hätten sie sich verteidigt, jedoch nur geschossen, wenn sie den genauen Aufenthaltsort der Taliban gekannt hätten. Schließlich divergieren auch die Angaben zum Todesjahr des Onkels des Klägers. So gab er beim Bundesamt noch an, dass sein Onkel im Jahr 2014 getötet worden sei, während er in der mündlichen Verhandlung erst nach mehrmaliger Nachfrage des Klägerbevollmächtigten und Vorhalt, dass in der Anhörung ein anderes Jahr genannt worden sei, das Jahr 2017 angab.
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2.2 Unabhängig davon droht dem Kläger nach Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch die nunmehr dort herrschenden Taliban infolge seiner früheren Tätigkeit bei der örtlichen Polizei. Abgesehen davon, dass seine Polizeitätigkeit mittels der Vorlage seines Dienstausweises und zweier Bestätigungen über absolvierte Fortbildungen in diesem Bereich belegt ist, vermochte der Kläger überdies in der mündlichen Verhandlung seine Tätigkeit anschaulich darzulegen, indem er die Inhalte der dreimonatigen Grundausbildung (u.a. Erste Hilfe, Waffentraining, Verteidigung) und seiner täglichen Arbeit schildern konnte. So hätten sie das Dorf verteidigt, das ständig von den Taliban angegriffen worden sei. Der Kläger sei einem Kommandanten, seinem Onkel, unterstellt gewesen und habe Befehle von diesem entgegengenommen. Wenn sie nicht beim „Checkpoint“ Autos, die in das Dorf hätten hineinfahren wollen, kontrolliert und durchsucht hätten, seien sie etwa zwei bis drei Mal monatlich in das Dorf gefahren, um dort für Sicherheit zu sorgen.
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a. Die Situation ehemaliger Regierungsmitarbeiter und insbesondere Angehöriger der nationalen Sicherheitskräfte (ANDSF) stellt sich infolge der Machtübernahme der Taliban im August 2021 wie folgt dar:
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Die Vereinten Nationen, NGOs sowie Medien berichten von Hunderten von Entführungen und Ermordungen ehemaliger Regierungs- und Sicherheitskräfte seit August 2021 - trotz einer von der Taliban-Führung erlassenen und weiterhin propagierten „Generalamnestie“ (vgl. z.B. EUAA, coi query, country of origin: Afghanistan, 4.11.2022, S. 4 ff.). Glaubhafte Berichte über Entführungen, Folter und Ermordung ehemaliger Angehöriger der Regierung und der Sicherheitskräfte durch die Taliban schaffen ein Klima der Einschüchterung und der Straflosigkeit. Zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte konnten zwar bislang nicht nachgewiesen werden. VN- und Menschenrechtsorganisationen konnten allerdings Berichte über Entführung und zum Teil auch Ermordung ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte im niedrigen dreistelligen Bereich verifizieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan - Lagebericht, 20.7.2022 (Stand: 20.6.2022), S. 4, 6, 9, 19). Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Meldungen von Einzelpersonen und Familien über Vergeltungsmaßnahmen, Repressionen und Verfolgung. Demnach gingen die Taliban in der Zeit nach der Machtübernahme in Kabul und anderen Städten von Haus zu Haus, um gezielt nach Mitarbeitern der vormaligen Regierung zu suchen und inhaftierte Soldaten, Polizisten und Zivilisten mit angeblichen Verbindungen zur afghanischen Regierung sind hingerichtet worden (vgl. ACCORD, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, 10.8.2022, S. 9). Einem Bericht des HRW zufolge („No forgiveness for people like you“ - Executions and enforced disappearances under the Taliban in Afghanistan, Stand: 11/2021, S. 7 ff.) wurden 47 ehemalige Angehörige der ANSF, darunter unter anderem Polizisten, summarisch hingerichtet oder waren gewaltsamem „Verschwindenlassen“ ausgesetzt. Zwar werden als besonders gefährdet Personen eingeschätzt, die sich in zentralen Positionen in Militär-, Polizei- und Ermittlungseinheiten befunden haben (vgl. EASO, Afghanistan Country Focus, Country of Origin Information Report, Januar 2022, S. 46), jedoch betrafen zahlreiche Vorfälle (außergerichtliche Tötungen, willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, Folter, Misshandlung) auch eine Reihe von Personen mit unterschiedlicher Verbindung zur ehemaligen Regierung: von hochrangigen Beamten bis hin zu Fahrern, Bodyguards und Verwandten von ehemaligen Regierungs- und ANDSF-Mitgliedern (vgl. ACCORD, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, 10.8.2022, S. 17). UNAMA hält im Bericht vom Juli 2022 fest, dass in Bezug auf die gezielte Verfolgung durch die Taliban-Regierung ein klares Muster erkennbar ist und führt unter anderem ehemalige Angehörige der Sicherheitskräfte und ehemalige Regierungsbeamte als besonders gefährdet auf (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update der SFH-Länderanalyse, 2.11.2022, S. 16 f.). Außerhalb offizieller Kommunikation verbreiten Taliban-Offizielle bzw. ihnen nahestehende Kommentatoren das Narrativ, dass ehemalige Regierungsmitarbeiter bzw. Angestellte, aber auch Personen, die mit ausländischen Regierungen gearbeitet haben, Verräterinnen und Verräter am Islam und an Afghanistan seien. Schließlich werden diese in den sozialen Medien immer wieder als Verräter bzw. „verwestlicht“ bezeichnet, die aufgrund ihrer Ablehnung für „islamische Werte“ ins Ausland gegangen seien (vgl. Lagebericht, S. 20).
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b. Gemessen an dieser Erkenntnismittellage ist derzeit davon auszugehen, dass dem Kläger in Anknüpfung an seine vormalige Tätigkeit bei der afghanischen Polizei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung droht. Zwar hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass seine Familie von den Taliban noch nicht aufgesucht oder bedroht worden sei, sodass die Taliban wohl (noch) nicht aktiv nach dem Kläger suchen dürften. Dennoch wird er bei einer Rückkehr nach Afghanistan deshalb in den Fokus der derzeitigen Machthaber geraten, weil er sich bei der Einreise ausweisen und identifizieren muss. Es ist davon auszugehen, dass die derzeitigen Machthaber in Afghanistan Rückkehrer, die nach einem langjährigen Aufenthalt in Westeuropa wieder nach Afghanistan einreisen, einer sehr genauen Kontrolle unterziehen werden, um auf vermeintliche bzw. potentielle Widersacher sogleich zugreifen zu können. So verfügen die Taliban nach Angaben von HWR über Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Regierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen hatten, wodurch Tausende von Afghanen gefährdet sind (vgl. ACCORD, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, 10. August 2022, S. 12; HWR, New evidence that biometric data systems imperil Afghans, 30.3.2022). Diese enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Iris-Scans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Darüber hinaus verfügen die Taliban über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind und gemäß einem Bericht von August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung arbeiten und beispielsweise Gesichtserkennungssoftware nutzen. Betroffen sein kann auch eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der ehemaligen afghanischen Armee und Polizei enthält, aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten oder Bewerbungen für Regierungsposten (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Country of Origin Information, Afghanistan, 10. August 2022, S. 27). Auch sind die Taliban in den sozialen Medien (Facebook und LinkedIN) aktiv, um Gegner ihres Regimes aufzuspüren. Es wurde berichtet, dass sie bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen bzw. zu den (ehemaligen) afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Country of Origin Information, Afghanistan, 10.8.2022, S. 26 f.). Überdies lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass Neuankömmlinge in ihrer Umgebung sehr genau wahrgenommen werden und ihr Hintergrund untersucht wird. Auch die Stammesstruktur erschwert es, die Lebensumstände eines Menschen zu verbergen (vgl. Immigration and Refugee Board of Canada, Fähigkeit der Taliban, Personen aufzuspüren und gezielt zu töten, Januar 2016, S. 2). Vor diesem Hintergrund erscheint es beachtlich wahrscheinlich, dass die zuvor genannten Risikofaktoren in der Person des Klägers selbst bei Rückkehr an seinen Herkunftsort den entsprechenden Stellen der derzeitigen Machthaber bekannt würden und diese Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG ergreifen würden.
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2.3 Diese Verfolgungshandlungen würden zudem an eine dem Kläger durch die derzeitigen Machthaber unterstellte Gegnerschaft, mithin die ihm zugeschriebene politische Überzeugung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG, anknüpfen.
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2.4 Mit dem Zusammenbruch der bisherigen Regierung, der Flucht der Regierungsspitze und der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Taliban am 15. August 2021, der Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan sowie der Vorstellung der neuen Regierung am 7. September 2021 sind die Taliban nunmehr als staatlicher Akteur im Sinne von § 3c Nr. 1 AsylG anzusehen, so dass eine unmittelbar staatliche Verfolgung vorliegt. Afghanistan befindet sich weitgehend unter Kontrolle der Taliban, womit dem Kläger weder Schutz i.S.v. § 3d AsylG noch eine interne Schutzalternative nach § 3e AsylG zur Verfügung steht (vgl. a. Lagebericht, S. 18).
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Nach alledem war der Klage somit hinsichtlich § 3 AsylG (Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids) stattzugeben. Dementsprechend waren auch die Feststellungen zum subsidiären Schutz und zum Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten, die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben (Nrn. 3 bis 6 des Bescheids).
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3. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.