Inhalt

VG München, Beschluss v. 05.09.2022 – M 12 K 19.2460
Titel:

Verwirkung des Rechts auf Fortsetzung des Verfahrens; übereinstimmende Erledigungserklärungen der Beteiligten

Normenketten:
VwGO § 92 Abs. 3 S. 1, § 166
ZPO § 114 Abs. 1, § 117, § 118
Leitsätze:
1. Das Recht, die Fortsetzung eines nach § 92 Abs. 3 S. 1 VwGO eingestellten Verfahrens zu beantragen, unterliegt der Verwirkung. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die übereinstimmenden Erledigungserklärungen von Kläger und Beklagtem beenden den Rechtsstreit in der Hauptsache, ohne Rücksicht darauf, ob tatsächlich Erledigung eingetreten ist. In diesem Fall stellt das Gericht das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 S. 1 VwGO durch deklaratorischen Beschluss ein. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Grundsätzlich ist die Abgabe einer Erledigterklärung durch den Kläger als Prozesshandlung bedingungsfeindlich und ab der Abgabe einer entsprechenden Erklärung des Beklagten nicht mehr widerruflich. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Prozesskostenhilfe, hinreichende Erfolgsaussicht, eingestelltes Verfahren, übereinstimmende Erledigungserklärungen, Bedingungsfeindlichkeit, Fortsetzung des Verfahrens, Verwirkung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 13.12.2022 – 10 C 22.2086
Fundstelle:
BeckRS 2022, 38971

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin … …, …, … …, wird abgelehnt.

Gründe

I.
1
Der am … … … in … geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger.
2
Am 28. November 1997 wurde ihm eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die seit dem 1. Januar 2005 den Status einer Niederlassungserlaubnis hat. Der Kläger wuchs bei seinen Eltern auf und besuchte vier Jahre die Türkisch sprechende Klasse der Grundschule … Von 1992 bis 1997 war er in der Hauptschule …, anschließend in der Staatlichen Berufsschule … Im November 2002 heiratete der Kläger eine deutsche Staatangehörige. Am … … 2003 kam die gemeinsame Tochter Ü… … und am … … 2004 der gemeinsame Sohn S… … auf die Welt. Schon im Alter von etwa 14 Jahren begann der Kläger, Haschisch zu rauchen, und konsumierte seit dem Jahr 2002 Heroin und Kokain.
3
Der Kläger trat im Bundesgebiet mehrfach strafrechtlich in Erscheinung. Mit Urteil des Landgerichts L… vom ... Februar 2006 wurde er wegen Totschlags in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen jeweils in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde angeordnet, wobei vier Jahre und sechs Monate der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe vorweg zu vollstrecken waren. Seit 6. Mai 2005 befand sich der Kläger in Untersuchungshaft, am 7. Februar 2006 begann die zeitige Freiheitsstrafe.
4
Mit Bescheid des Beklagten vom 5. März 2009 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen.
5
Hiergegen erhob der Kläger am … März 2009 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 23 K 09.1219). In der mündlichen Verhandlung vom 10. Februar 2010 hob der Beklagtenvertreter den Ausweisungsbescheid auf. Daraufhin erklärte die Bevollmächtigte des Klägers den Rechtsstreit für erledigt, der Vertreter des Beklagten stimmte der Erledigterklärung „vorab“ zu. In der Folge wurde das Verfahren eingestellt.
6
Mit Bescheid des Beklagten vom 31. Juli 2014 wurde der Kläger erneut aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Die Abschiebung in die Türkei wurde angedroht. Die Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung wurden auf sieben Jahre ab Ausreise befristet. Die hiergegen erhobene Klage (M 12 K 14.3776) wurde mit Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 8. September 2016 abgewiesen. Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 7. Januar 2019 wurde der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt (Az. 10 C 17.213).
7
Mit Schriftsatz vom *. April 2019, bei Gericht am selben Tag eingegangen, hat die Bevollmächtigte des Klägers beantragt, ein Anerkenntnisurteil dahingehend, dass sich der Rechtsstreit in dem Verfahren M 23 K 09.1219 erledigt hat, zu erlassen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, im Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 10. Februar 2010 heiße es: „nach Erörterung der Sach- und Rechtslage erklärt der Vertreter des Beklagten, er hebe den streitgegenständlichen Bescheid vom 5. März 2009 auf. Daraufhin erklärte die Bevollmächtigte des Klägers den Rechtsstreit für erledigt und beantragt, die Kosten des Rechtsstreits dem Beklagten aufzuerlegen“. Hieraus folge, dass zunächst nur die Klägerseite einseitig die Hauptsache für erledigt erklärt habe. Hierin liege eine Prozesshandlung in Form eines Antrags auf Feststellung, dass sich der Rechtsstreit tatsächlich erledigt hat, also der Klageanlass vollständig weggefallen sei. Eine einseitige Erledigungserklärung habe keine unmittelbar prozessgestaltende Wirkung. Erst im unmittelbaren Anschluss habe der Vertreter des Beklagten einer Erledigterklärung „vorab“ zugestimmt. Da sie bereits zuvor eine Erledigungserklärung abgegeben habe und es daher im betreffenden Zeitpunkt nicht mehr möglich gewesen sei, vorab zuzustimmen, habe es sich bei dem Wort „vorab“ um eine Falschbezeichnung gehandelt. Somit sei dieses Wort als unbeachtlich anzusehen. Die vorliegende Fallkonstellation sei vergleichbar mit derjenigen, in der der Beklagte den Eintritt der Erledigung anerkenne. Da im letzteren Fall unklar sei, ob nur eine übereinstimmende Erledigungserklärung oder ein prozessuales Anerkenntnis vorliege, müsse dies vorliegend auch unklar sein. Daraus folge im Umkehrschluss, dass ab der o.g. Erledigterklärung keine einseitige Erledigungserklärung der Klägerseite mehr vorgelegen habe. Daher spiele es vorliegend keine Rolle, dass ein Erledigungsfeststellungsantrag, dem nicht der gescheiterte Versuch einer beiderseitigen Erledigungsfeststellung vorausgehe, unzulässig sei. Die o.g. Unklarheit müsse zulasten der betreffenden Behörde gehen, da Unklarheiten in behördlichen Willenserklärungen allgemein zu Lasten der betreffenden Behörde zu gehen hätten. Daher habe der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung ein prozessuales Anerkenntnis abgegeben. Bei einem solche erkenne der Beklagte die klägerische Rechtsfolgenbehauptung als richtig an. Diese bestehe vorliegend darin, dass sich der damalige Rechtsstreit erledigt habe, d.h. der Klageanlass hierdurch vollständig weggefallen sei. Also habe das Landratsamt … anerkannt, dass dieser am 10. Februar 2010 vollständig weggefallen sei. Motiv und damit Anlass zur Klage sei es allgemein, denjenigen rechtlichen Vorteil zu erreichen, der bei einem vollen Erfolg der Klage eintrete. Speziell bei einer verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsklage bestehe bei einem vollen Erfolg der rechtliche Vorteil für den Kläger stets darin, dass er nicht nur einen Anspruch auf Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts habe, sondern es sowohl der betreffenden Behörde als auch allen anderen in Betracht kommenden Behörden verboten sei, bei unveränderter Sach- und Rechtslage erneut einen Verwaltungsakt mit gleichem Inhalt zu erlassen. Daher sei der Klageanlass nicht bereits durch die Aufhebung der Ausweisung weggefallen. Vielmehr habe der Klageanlass nur dadurch wegfallen können, dass das Aufenthaltsrecht des Klägers im Bundesgebiet in gleicher Weise wie bei einem stattgebenden und in Rechtskraft erwachsenen Urteil gesichert gewesen sei.
Deshalb müsse aufgrund der obigen prozessualen Anerkenntnis ein Anerkenntnisurteil dahingehend erlassen werden, dass sich der Rechtsstreit erledigt habe. Ein solches sei ebenso wie jedes andere Urteil aufgrund des § 116 Abs. 2 VwGO nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung dadurch zu erlassen, dass zunächst ein entsprechender schriftlicher Beschluss ergeht und danach das Anerkenntnisurteil zugestellt wird. Die Regeln über den Erlass und die Verkündung von Entscheidungen seien unverzichtbare Normen i.S.v. § 295 ZPO und eine Verwirkung allein durch Zeitablauf sei nicht möglich.
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Mit gerichtlichem Schreiben vom 29. April 2019 wurde der Klägerbevollmächtigten mitgeteilt, dass das Verfahren M 23 K 09.1219 seit dem 10. Februar 2010 abgeschlossen sei, ebenso das Aktenzeichen. Es werde um Mitteilung gebeten, sollte eine irgend geartete Fortsetzung des Verfahrens von der nunmehr zuständigen Kammer beantragt werden. Mit Schriftsatz vom *. Mai 2019 erklärte die Bevollmächtigte des Klägers, sie beantrage den Erlass des Anerkenntnisurteils durch die nunmehr zuständige Kammer.
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Mit Schriftsatz vom 2. August 2019 führte der Beklagte im Wesentlichen aus, entgegen dem Klägervorbringen lägen die Voraussetzungen für den Erlass eines Anerkenntnisurteils nicht vor. In der Erklärung des Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung vom 10. Februar 2010 werde kein Anerkenntnis gesehen. Die von der Klägerbevollmächtigten behauptete Unklarheit liege nicht vor. Aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung ergebe sich, dass der Kläger zunächst eine Erklärung zur Sache abgegeben habe, nachdem die Vorsitzende die Beteiligten in den Sach- und Streitstand eingeführt habe. Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage habe der Beklagtenvertreter den Bescheid vom 5. März 2009 aufgehoben. Daraufhin habe die Bevollmächtigte des Klägers den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Dies sei anschließend vorgelesen und genehmigt worden. Anschließend sei im Protokoll vermerkt worden, der Beklagtenvertreter stimme vorab einer „Erledigterklärung“ zu. Aus dem Protokoll ergebe sich somit, dass die Erklärung des Beklagtenvertreters aus der Erörterung der Sach- und Rechtslage zwischen den Beteiligten und dem Gericht veranlasst sei. Die Erklärung über die „Zustimmung zur Erledigterklärung“ beziehe sich erkennbar auf die zunächst einseitige Erledigungserklärung seitens der Klägerbevollmächtigten. Unter Berücksichtigung dieser Umstände sei der Vermerk „vorab“ im Protokoll offensichtlich unrichtig und unbeachtlich, wie auch die Klägervertreterin selbst ausführe. Die Erklärung des Beklagten sei daher nicht unklar. Daher handele es sich um eine beiderseitige Erledigungserklärung, nicht um ein Anerkenntnis. Ein Anerkenntnis wäre zudem im Protokoll als solches vermerkt worden. Zwar habe der Beklagte bezüglich der Kosten ein prozessuales Anerkenntnis abgegeben. Dies gelte aber nicht für die Entscheidung in der Hauptsache. Erforderlich sei eine ausdrückliche Erledigungserklärung des Klägers, die unstreitig vorliege. Die Anforderungen an die Erklärung des Beklagten seien geringer, so genüge auch schlüssiges Verhalten. Es liege eine Erledigungserklärung des Beklagten vor, wovon auch das Gericht ausgegangen sei. Die Erklärungen seien als Prozesshandlungen gegenüber dem Gericht abzugeben, sodass es nicht auf den Empfängerhorizont der anderen Partei ankomme. Gegenstand eines Anerkenntnisurteils sei der prozessuale Anspruch selbst, nicht eine Erklärung des Prozessgegners, wie sie die Klägervertreterin beantrage. Bereits die übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten entzögen dem Verfahren den Streitgegenstand. Anhängig bleibe es nur wegen der Kostenentscheidung. Der unanfechtbare Einstellungsbeschluss stellte die eingetretene Verfahrensbeendigung lediglich deklaratorisch fest. Mit der Forderung, ein Anerkenntnisurteil dahingehend zu erlassen, dass sich der Rechtsstreit erledigt hat, fordere die Klägerbevollmächtigte letztendlich eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 153 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 578 ff. ZPO. Die Wiederaufnahme des Verfahrens scheide im Hinblick auf Einstellungsbeschlüsse nach übereinstimmenden Hauptsacheerledigungserklärungen aus. Entgegen der Auffassung der Klägerbevollmächtigten sei auch der seinerzeitige Klageanlass mit Aufhebung des Bescheids weggefallen. Im Falle einer Anfechtungsklage gegen eine Ausweisungsverfügung sei es zwar tatsächlich der zuständigen Ausländerbehörde verboten, bei unveränderter Sach- und Rechtslage eine Ausweisungsverfügung gleichen Inhalts in der durch das Gericht beanstandeten Weise erneut zu erlassen. Das habe der Beklagte aber nicht getan. Dies Ausweisungsverfügung vom 5. März 2009 sei durch das Verwaltungsgericht wegen einer fehlenden Beteiligung des Jugendamts zur Berücksichtigung des Wohls der Kinder des Klägers beanstandet worden. Die Ausweisungsverfügung vom 31. Juli 2014 leide aber nicht an diesem Mangel. Die gegen diese gerichtete Klage habe das Verwaltungsgericht abgewiesen, die Zulassung der Berufung sei abgelehnt worden.
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Mit Schriftsatz vom … August 2019 trug die Klägerbevollmächtigte vor, die Wirksamkeit eines prozessualen Anerkenntnisses hänge nicht davon ab, in welcher Form es abgegeben wurde. Daher sei ein solches unabhängig von einer gerichtlichen Protokollierung wirksam. Des Weiteren verkenne der Beklagte, dass der Beklagtenvertreter dadurch, dass er in der mündlichen Verhandlung vom 10. Februar 2010 der Erledigterklärung zugestimmt habe, zum Ausdruck gebracht habe, dass er ihre Rechtsansicht, dass sich der Rechtsstreit erledigt habe, teile. Dies bedeute, dass er in Bezug auf die Frage, ob die Rechtsfolge der Erledigung des Rechtsstreits eingetreten war, die klägerische Rechtsfolgebehauptung als richtig anerkannt habe. Hierin liege in Bezug auf die Erledigung des Rechtsstreits ein prozessuales Anerkenntnis nach § 307 ZPO. Daher habe die Beklagtenseite den Eintritt der Erledigung anerkannt. In einem solchen Fall sei es unklar, ob nur eine übereinstimmende Erledigungserklärung oder ein prozessuales Anerkenntnis vorliege. Diese Unklarheit müsse zulasten der betreffenden Behörde gehen. Daher habe das Landratsamt … in der mündlichen Verhandlung nicht nur in Bezug auf die Kostenfolge, sondern auch in Bezug auf die Hauptsache ein Anerkenntnis abgegeben. Hinsichtlich des Einstellungsbeschlusses sei anzumerken, dass aus ihm zu folgen sei, dass das Gericht von einer übereinstimmenden und nicht von einer einseitigen Erledigungserklärung ausgegangen sei. Daher habe sie am 4. April 2019 sinngemäß die Fortführung des Verfahrens mit der Begründung, dass keine übereinstimmende Erledigungserklärung, sondern ein Anerkenntnis vorliege und somit der Erlass eines Anerkenntnisurteils geboten sei, beantragt. Die vorliegende Fallkonstellation sei vergleichbar mit einem Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens mit der Begründung, dass keine Klagerücknahme vorliege. Weil im letzteren Fall § 92 Abs. 3 Satz 2 VwGO wegen der nur deklaratorischen Bedeutung eines Einstellungsbeschlusses einem solchen Antrag nicht entgegenstehe, müsse folgerichtig vorliegend dasselbe gelten. Da sie also diesen Beschluss nicht angefochten habe, handele es sich hierbei nicht um ein Wiederaufnahmeantrag. Hätte das Gericht der Klage stattgegeben und wäre das Urteil in Rechtskraft erwachsen, wäre es stets verboten, unter den gegebenen Umständen einen Verwaltungsakt dieses Inhalts zu erlassen, also in dieser Situation und nicht nur in der gerichtlich beanstandeten Weise.
Mit Schriftsatz vom 13. August 2019 übersandte der Beklagte Beschlüsse des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zu dem Verfahren M 12 K 14.3776.
Mit Schriftsatz vom … August 2019 führte die Klägerbevollmächtigte im Wesentlichen aus, die durch den Beklagten vorgelegten Beschlüsse des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bezögen sich nicht auf die streitgegenständliche Ausweisungsverfügung aus dem Jahr 2009, sondern auf die vorliegend nicht streitgegenständliche, erst nach der mündlichen Verhandlung am 10. Februar 2010 erlassene zweite Ausweisungsverfügung. Deren Aufhebung könne der Kläger für den Fall, dass das beantragte Anerkenntnisurteil ergeht und in Rechtskraft erwächst, bei dem Beklagten beantragen, da die Bestandskraft des ursprünglichen Verwaltungsakts dem Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens nicht entgegenstehe. Dies liege daran, dass die Bestandskraft deswegen keine absolute Sperre bilden könne, weil unter engen Voraussetzungen selbst gerichtliche Urteile im Wege der Wiederaufnahme überprüft und im Falle ihrer Rechtswidrigkeit aufgehoben werden müssten. In noch stärkerem Umfang gelte dies für Verwaltungsakte, die meist nicht in einem formalisierten Verfahren ergingen und nicht denselben Richtigkeitsanspruch haben könnten wie gerichtliche Urteile. Speziell im vorliegenden Fall bestehe ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens nach § 51 VwVfG deswegen, weil im Fall des anschließend in Rechtskraft erwachsenen Erlasses eines Anerkenntnisurteils die Befugnis der betreffenden Behörde zum Erlass einer Ausweisungsverfügung nachträglich wegfalle und sich gegebenenfalls aufgrund dieser zu einer für den Erlass der Ausweisungsverfügung präjudiziellen Frage ergangenen Gerichtsentscheidung die Sachlage nachträglich zugunsten des betreffenden Betroffenen geändert habe. Weil also der Erlass des beantragten Anerkenntnisurteils dem Kläger die Möglichkeit verschaffe, auch die zweite Ausweisungsverfügung mit legalen Mitteln zu Fall zu bringen, sei deren Erlass für den Kläger von Vorteil und dabei ein Rechtsschutzbedürfnis zu bejahen.
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Mit Schriftsatz vom … März 2020 führte die Klägerbevollmächtigte im Wesentlichen aus, nach Bekunden des Klägers sehe das Gericht die Tatsache, dass dieser nach der mündlichen Verhandlung am 10. Februar 2010 erneut wegen einer Straftat verurteilt worden sei, als problematisch an. Hiergegen sei einzuwenden, dass der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung ein prozessuales Anerkenntnis abgegeben habe. In einem solchen Fall prüfe das Gericht außer der Wirksamkeit des Anerkenntnisses nur die unverzichtbaren Prozessvoraussetzungen. Dies gelte auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, das Gericht sei daher schon seit zehn Jahren kraft Gesetzes verpflichtet, ein Anerkenntnisurteil zu erlassen. Falls dieser Pflicht zeitnah entsprochen worden wäre, wäre der Beklagte nicht befugt gewesen, im Jahr 2014 die zweite Ausweisungsverfügung zu erlassen. Dies liege daran, dass es sich gegebenenfalls in der Zeit seit dem Erlass des Anerkenntnisurteils deswegen weder die Rechts- noch die Sachlage geändert hätte, da der Kläger bis zu diesem Zeitpunkt nicht erneut strafrechtlich in Erscheinung getreten sei. Auch die späteren strafgerichtlichen Verurteilungen hätten nicht zur Folge gehabt, dass die zweite Ausweisungsverfügung rückwirkend rechtmäßig geworden wäre; ein rechtswidrig erlassener Verwaltungsakt werde durch eine spätere Veränderung der Sach- und Rechtslage nicht rechtmäßig. Außerdem sei es durchaus noch möglich, die Rechtskraft des letzten gegen den Kläger erlassenen Strafurteils mithilfe des Wiedereinsetzungsantrags zu durchbrechen.
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Mit Schriftsatz vom … Februar 2022 führte die Klägerbevollmächtigte weiter aus, zwar habe der Beklagte das Vorliegen eines prozessualen Anerkenntnisses verneint, hier gelte es aber zu bedenken, dass dieser dies damit begründet habe, dass das Wort „vorab“ in dessen protokollierter Erklärung vom 10. Februar 2010 offensichtlich unrichtig und aus diesem Grund nicht unklar sei. Die Behörde vertrete die Ansicht, dass eine Unklarheit deswegen zu verneinen sei, weil das Wort „vorab“ offensichtlich unrichtig sei. Hierbei werde verkannt, dass falsche Bezeichnungen bei der Auslegung allgemein zu eliminieren, also zu beseitigen seien. Daher sei die oben genannte Erklärung so zu behandeln, als ob sie das Wort vorab nicht enthalten würde, d.h. der Vertreter des Beklagten damals schlichtweg erklärt hätte, er stimme einer Erledigterklärung zu. Bei einer solchen Erklärung des Klägers handele es sich allgemein um einen Antrag auf Feststellung, dass die Klage zunächst zulässig und begründet gewesen und später unzulässig oder unbegründet geworden sei. Da ein solcher Antrag die konkludente Behauptung beinhalte, die Klage habe sich erledigt, schließe sich der Beklagte durch die Zustimmung zu einer Erledigungserklärung dieser Behauptung an. Diese Fallkonstellation ist vergleichbar mit derjenigen Konstellation, in der der Beklagte den Eintritt der Erledigung anerkenne. Da im letzteren Fall unklar sei, ob nur eine übereinstimmende Erledigungserklärung oder ein prozessuales Anerkenntnis vorliege, müsse dieses folgerichtig auch vorliegend unklar sein.
14
Mit Schriftsatz vom … August 2022 beantragte die Klägerbevollmächtigte, 17 dem Kläger Prozesskostenhilfe unter ihrer Beiordnung zu gewähren.
15
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
16
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat keinen Erfolg.
17
Gemäß § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO erhält auf Antrag diejenige Partei Prozesskostenhilfe, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Prozesskostenhilfe ist bereits dann zu gewähren, wenn nur hinreichende Erfolgsaussichten für den beabsichtigten Rechtsstreit bestehen. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinne, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich. Es genügt eine sich bei summarischer Prüfung ergebende Offenheit des Erfolgs.
18
Der Kläger begehrt die Fortsetzung des Verfahrens M 23 K 09.1219 (vgl. Schriftsatz vom 13. August 2019) mit der Begründung, dass keine übereinstimmenden Erledigungserklärungen vorgelegen hätten, sowie in der Folge den Erlass eines Anerkenntnisurteils, dass sich der Rechtsstreit erledigt hat.
19
Die beabsichtigte Rechtsverfolgung hat keine hinreichenden Erfolgsaussichten i.S.v.§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO.
20
Der Antrag ist bereits unzulässig.
21
Zwar ist der Antrag statthaft, da im Fall einer Einstellung des Verfahrens aufgrund übereinstimmender Erledigungserklärungen ein Beteiligter beantragen kann, das Verfahren fortzuführen, wenn Streit darüber besteht, ob das Verfahren tatsächlich durch übereinstimmende Erledigungserklärungen beendet ist (Neumann/Schaks in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 161 Rn. 110). Wurde das Verfahren nicht wirksam beendet, wird das Verfahren fortgesetzt. Andernfalls ergeht eine Endentscheidung, die feststellt, dass das Verfahren beendet ist (vgl. BVerwG, B.v. 12.11.1993 - 2 B 151/93 - juris).
22
Das Antragsrecht, das nicht an eine bestimmte Frist gebunden ist, unterliegt jedoch - wie andere prozessuale Rechte auch - der Verwirkung, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist und der Berechtigte untätig bleibt, obwohl vernünftigerweise von ihm eine Reaktion zu erwarten war und sich die Gegenpartei daher auf das Untätigwerden eingestellt hat; als Zeitraum wird in Anlehnung an die Fristen der §§ 58 Abs. 2, 60 Abs. 3 VwGO üblicherweise ein Jahr angenommen, der in § 72 Abs. 2 Satz 3 FGO für eine vergleichbare Fallkonstellation ausdrücklich geregelt ist. Dies ist auf Anfechtungsklagen gegen eine Ausweisung entsprechend anwendbar (vgl. Clausing in Schoch/Schneider, VerwR, Stand: Februar 2022, § 161 VwGO, Rn. 26 und § 92 Rn. 77; OVG Lüneburg, B.v. 23.1.2012 - 11 ME 420/11 - juris).
23
Hiervon ausgehend hat der Kläger das Recht, die Fortsetzung des Verfahrens zu beantragen, verwirkt. Der Einstellungsbeschluss erging in der mündlichen Verhandlung am 10. Februar 2010, in der sowohl der Kläger als auch seine Prozessbevollmächtigte anwesend waren. Dem anwaltlich vertretenen Kläger musste daher bereits am 10. Februar 2010 bewusst gewesen sein, dass das Gericht - aus seiner Sicht fälschlicherweise - von übereinstimmenden Erledigungserklärungen ausging. Vernünftigerweise wäre daher zu erwarten gewesen, dass der Kläger hieraufhin umgehend, spätestens innerhalb eines Jahres, die Fortsetzung des Verfahrens beantragt. Für den Kläger war jedoch nicht einmal der Erlass der erneuten Ausweisungsverfügung vom 31. Juli 2014 Anlass genug, die Fortsetzung des Verfahrens zu beantragen. Vielmehr wurde der Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens erst am 2. Mai 2019 nach dem rechtskräftigen Abschluss des gegen die Ausweisung vom 31. Juli 2014 angestrengten Klageverfahrens gestellt, so dass seit der Möglichkeit, dieses Recht wahrzunehmen, mehr als neun Jahre verstrichen sind. Nach dieser langen Zeit musste der Beklagte, zumal nach Bestandskraft der mittlerweile verfügten Ausweisung, nicht mehr damit rechnen, dass die übereinstimmende Erledigungserklärung und damit die Beendigung des Verfahrens M 23 K 09.1219 in Frage gestellt wird.
24
Abgesehen davon ist der Antrag aber auch unbegründet, da das Verfahren M 23 K 09.1219 durch die übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten wirksam beendet worden ist.
25
Die übereinstimmenden Erledigungserklärungen von Kläger und Beklagtem beenden den Rechtsstreit in der Hauptsache, ohne Rücksicht darauf, ob tatsächlich Erledigung eingetreten ist (vgl. BVerwG, B.v. 27.10.1961 - VII C 150.60 - juris). In diesem Fall stellt das Gericht das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO durch deklaratorischen Beschluss ein (BVerwG, B.v. 7.8.1998 - 4 B 75/98 - juris). Grundsätzlich ist die Abgabe einer Erledigterklärung durch den Kläger als Prozesshandlung bedingungsfeindlich und ab der Abgabe einer entsprechenden Erklärung des Beklagten nicht mehr widerruflich (vgl. Zimmermann-Kreher in BeckOK, VwGO, Stand: 1.7.2022, § 161 Rn. 9 f.).
26
Im vorliegenden Fall lagen wirksame übereinstimmende Erledigungserklärungen der Beteiligten vor. Ausweislich des Sitzungsprotokolls hat in der mündlichen Verhandlung am 10. Februar 2010 nach Bescheidsaufhebung zunächst die Klägerbevollmächtigte das Verfahren für erledigt erklärt. Daraufhin hat der Beklagtenvertreter „vorab“ der Erledigungserklärung zugestimmt, wobei es sich bei dem Wort „vorab“ um ein unbeachtliches offenkundiges Versehen handelt, wie auch die Beteiligten zu Recht übereinstimmend vortragen.
27
Eine auslegungsbedürftige Unklarheit mit Blick auf die Erklärung des Beklagtenvertreters liegt entgegen den Ausführungen der Klägerbevollmächtigten nicht vor. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte, dass der Beklagte entgegen dem Wortlaut seiner Erklärung nicht der Erledigungserklärung der Klägerbevollmächtigten zustimmen, sondern ein Anerkenntnis i.S.v. § 307 ZPO abgeben wollte (vgl. auch BayVGH, B.v. 7.1.2019 - 10 C 17.213 - juris).
28
Nach alledem lagen übereinstimmende Erledigungserklärungen der Beteiligten vor, wodurch die Rechtshängigkeit entfallen und das Verfahren beendet ist. Das Gericht konnte das Verfahren nur noch deklaratorisch einstellen und über dessen Kosten entscheiden.
29
Mangels hinreichender Erfolgsaussichten der Klage im Sinne von § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ZPO ist der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abzulehnen. Damit besteht auch keine Grundlage für eine Beiordnung eines Rechtsanwalts gem. § 166 VwGO i.V.m. § 121 ZPO.