Titel:
Ausweisung eines "faktischen Inländers"
Normenkette:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a lit. b, lit. d, § 55 Abs. 1 Nr. 1
Leitsätze:
1. IRd anzustellenden Prognose einer bestehenden Wiederholungsgefahr von Straftaten eines Ausländers ist es ohne Belang, ob dessen Delinquenz im Zustand der vollen oder verminderten Schuldfähigkeit erfolgt ist. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Ausweisung aufgrund von Körperverletzungsdelikten hat stets auch eine generalpräventive Funktion. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Marokkanischer Staatsangehöriger, Faktischer Inländer, Straftäter/Körperverletzung u.a., Wiederholungsgefahr, Bestehende Betreuung, Paranoide Schizophrenie/Cannabis-Missbrauch, marokkanischer Staatsangehöriger, faktischer Inländer, Niederlassungserlaubnis, Straftaten, Körperverletzung, bestehende Betreuung, paranoide Schizophrenie, Cannabis-Missbrauch
Fundstelle:
BeckRS 2022, 38960
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger ist marokkanischer Staatsangehöriger und wendet sich mit seiner Klage gegen seine Ausweisung verbunden mit einer sechs- bzw. achtjährigen Wiedereinreisesperre.
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Der Kläger wurde am … in … geboren und wuchs zunächst zusammen mit seinen zwei älteren Brüdern bei seinen Eltern in … auf. In seinem zweiten Lebensjahr wurde der Kläger in eine Koranschule nach Marokko geschickt. Im Grundschulalter kehrte er zu seiner Familie nach … zurück.
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Der Kläger wurde mit sechs Jahren eingeschult. Nach der 1. Grundschulklasse wechselte er auf eine deutsch-arabische Schule. Im Anschluss besuchte er die Hauptschule. Der Kläger hat einen Hauptschulabschluss und verfügt über keine abgeschlossene Ausbildung. Seit dem … November 1997 ist der Kläger im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Der Kläger ist nicht verheiratet und hat keine Kinder.
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Der Kläger ist wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten:
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Am …2003 verurteilte das Amtsgericht München den Kläger wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen zu je 30,- Euro.
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Am …2003 verurteilte das Amtsgericht München den Kläger wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe in Höhe von 5 Tagessätzen zu je 30,- Euro.
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Am …2006 verurteilte das Landgericht München I den Kläger wegen gemeinschaftlich begangener gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit einer Störung des öffentlichen Friedens. Es wurde Schuldunfähigkeit festgestellt und die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die Vollstreckung wurde ab dem …2014 zur Bewährung ausgesetzt. Am …2018 wurde die Strafaussetzung widerrufen.
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Zuletzt verurteilte das Landgericht München den Kläger am …2019 wegen Diebstahls in zwei Fällen sowie wegen Raubes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung sowie wegen räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von drei Jahren und fünf Monaten. Die Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus wurde angeordnet. Die Entscheidung ist seit dem …2019 rechtskräftig. Der Kläger hatte zwischen dem …2018 und dem …2018 mehrere Diebstähle teilweise unter Anwendung von Gewalt begangen. Am …2018 war der Kläger mit dem Fahrrad an einer Fußgängerin vorbeigefahren und hatte ihr von hinten kommend im Vorbeifahren ihren Einkaufsbeutel aus der linken Hand entrissen, um dessen Inhalt zu behalten. In dem Einkaufsbeutel der Geschädigten hatten sich ihr Geldbeutel mit ca. 65 Euro Bargeld, ihre …-Karte, eine …-Monatsmarke sowie ein Schlüsselbund mit fünf Schlüsseln befunden. Mit dem Geld hatte sich der Kläger sodann Haschisch am Hauptbahnhof gekauft und Schulden bei einem Mitpatienten zurückbezahlt. Die entwendeten Gegenstände bekam die Geschädigte nicht zurück. Am …2018 wollte der Kläger wieder mit dem Fahrrad fahrend von hinten einer von einem Friedhofsbesuch zurückkehrenden und an einem Stock gehenden 83-jährigen Fußgängerin ihre über die linke Schulter hängende Handtasche entreißen, um den Inhalt für sich zu behalten. Nachdem die Geschädigte die Tasche festhielt, zog der Kläger mehrfach gewaltsam an der Tasche. Die Geschädigte stürzte zu Boden und zog sich eine Orbitabodenfraktur am linken Auge zu, welche operativ versorgt werden musste. Am …2018 gegen 10:15 Uhr entwendete der Kläger in einem Schuhgeschäft ein Paar weiße Sportschuhe im Wert von 69,95 Euro, um die Ware für sich zu behalten. Als ein als solcher erkennbarer Mitarbeiter des Schuhgeschäfts auf den Kläger zuging, flüchtete dieser. Der Mitarbeiter des Schuhgeschäfts verfolgte den Kläger und forderte diesen außerhalb des Ladens auf, die Schuhe herauszugeben und mitzukommen. Daraufhin packte der Kläger den Geschädigten am Hals und drückte am Kehlkopf zu. Anschließend trat er mit dem Fuß nach dem Geschädigten und traf diesen im unteren Bauchbereich. Nach dem Würgen kündigte der Kläger zudem an, ein Messer dabei zu haben und den Geschädigten „abzustechen“. Der Kläger wollte ohne die Schuhe flüchten und rannte in diesem Zusammenhang mit nach vorne ausgestreckter Faust auf eine weitere Geschädigte zu - welche dem Mitarbeiter des Schuhgeschäfts zu Hilfe kommen wollte - und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht, um seine Flucht ungehindert fortsetzen zu können. Am …2018 gegen 13:30 Uhr entwendete der Kläger in einem Supermarkt an der Kasse den Geldbeutel einer Frau, welchen diese auf die Kassentheke gelegt hatte, um diesen samt Inhalt für sich zu behalten. In dem Geldbeutel befanden sich ca. 65 Euro Bargeld sowie diverse Papiere und Karten. Der Kläger wurde daraufhin verfolgt. Er konnte flüchten, entnahm das Geld und warf den Geldbeutel in Richtung der Verfolger. Der Kläger kaufte sich von dem Geld am Hauptbahnhof ein paar Pantoffeln für 6 Euro sowie Haschisch.
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Der Kläger befindet sich seit dem …2017 zum wiederholten Male im …-Klinikum … Zuvor war er bereits zwischen August 2005 und April 2014 sowie ab November 2014 bis November 2017 mit Unterbrechungen im Maßregelvollzug gewesen. Der Kläger steht unter Betreuung. Bei ihm wurden eine paranoide Schizophrenie sowie Cannabis-Missbrauch diagnostiziert.
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Nach Anhörung des Klägers bzw. seines Betreuers wies die Beklagte den Kläger mit Bescheid vom ... April 2020 aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziff. 1) verbunden mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot bei nachgewiesener Drogen- und Straffreiheit befristet auf sechs Jahre, bei Nichterfüllung der Bedingung befristet auf acht Jahre ab Ausreise (Ziff. 2). Die Abschiebung aus der Haft bzw. Unterbringung nach Marokko nach erfülltem Strafanspruch des Staates und Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht wurde angekündigt. Für den Fall der Entlassung aus der Unterbringung bzw. Haft vor Abschiebung wurde eine Ausreisefrist von vier Wochen nach Haftentlassung gesetzt und die Abschiebung nach Marokko oder in einen anderen zur Rückübernahme verpflichteten oder bereiten Staat angedroht (Ziff. 3).
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Mit Schreiben vom 30. April 2020, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht München am 6. Mai 2020, beantragte der Kläger Prozesskostenhilfe und ließ Klage gegen den Bescheid vom 6. April 2020 erheben. Er beantragt,
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den Bescheid vom 6. April 2020 aufzuheben.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass im Falle des Klägers und unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände eine Ausweisung auf die vorgetragenen Gründe nicht in rechtmäßiger Weise gestützt werden könne. Der Bescheid sei rechtswidrig und daher aufzuheben. Die seitens der Beklagten getätigte Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG zwischen dem Ausweisungsinteresse und dem Bleibeinteresse und die daraus gewonnenen Erkenntnisse, dass das Ausweisungsinteresse überwiege, sei nach klägerischer Auffassung fehlerhaft. Insbesondere werde darauf hingewiesen, dass Verbindungen des Klägers nach Marokko nicht vorhanden seien. Zuzugeben sei, dass aufgrund der Verwirklichung einer Katalogtat nach § 54 Abs. 1 AufenthG das Ausweisungsinteresse besonders schwer wiege. Die Abwägung sei jedoch fehlerhaft erfolgt. Der Kläger sei in Deutschland geboren und hier verwurzelt, eine Ausweisung als „faktischer Inländer“ daher unverhältnismäßig. Der Kläger beherrsche die arabische Sprache nur bruchstückhaft und könne sie weder lesen noch schreiben. Seine Muttersprache sei deutsch. Zwar habe der Kläger weder Frau noch Kinder. Jedoch würden in Deutschland seine Brüder mitsamt Familien leben, die als deutsche Staatsangehörige integriert seien. Im Übrigen sei eine Ausweisung aufgrund der Erkrankung des Klägers (paranoide Schizophrenie) sowie der geistigen Behinderung unverhältnismäßig. Die medizinische Versorgung in Marokko sei nicht gewährleistet.
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Der durch seinen Betreuer gestellte Antrag vom 30. April 2020 auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 16. November 2022 abgelehnt.
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Die Beklagte beantragt,
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Im Wesentlichen wurde angeführt, dass der streitgegenständliche Bescheid rechtmäßig sei. Der Kläger sei insbesondere wegen Gewaltdelikten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 5 Monaten verurteilt worden. Im Falle des § 54 Abs. 1a Buchstabe d AufenthG sei das Tatbestandsmerkmal der Serienmäßigkeit erfüllt. Es bestehe die konkrete Gefahr weiterer schwerer Gewalttaten. Entscheidend sei, dass die Therapie noch nicht abgeschlossen sei. Die Frage der Schuldfähigkeit sei für die Ausweisung bzw. die Frage der Wiederholungsgefahr nicht relevant. Entscheidend sei die objektive Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Betreffend die Sprachkenntnisse werde auf die Ausführungen im Bescheid verwiesen. Ergänzend werde darauf hingewiesen, dass sich aus der Akte ergebe, dass die Mutter des Klägers erst im Juli 1978 nach Deutschland eingereist sei, also 3 Jahre vor der Geburt des Klägers. Aus einer Beschuldigtenvernehmung von März 1986 ergebe sich, dass die Mutter des Klägers mangels Sprachkenntnissen nicht vernommen werden konnte. Aus einem Strafurteil vom … Februar 1987 ergebe sich, dass die Mutter des Klägers Schulden aus einem Hausbau in Marokko habe und ihre drei Kinder bei ihrer Mutter bzw. Schwester leben würden. 1992 habe die Mutter des Klägers im Rahmen eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels eine Heimatadresse in Marokko angegeben. Die Ausländerakte enthalte Passkopien mit Grenzstempeln aus Marokko und Spanien aus 2007, 2009, 2010, 2016.
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Am … November 2022 fand mündliche Verhandlung statt. Die Beteiligten wiederholten ihre bereits schriftsätzlich gestellten Anträge.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgelegte Behördenakte, die Gerichtsakte sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 23. November 2022 verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist nicht begründet.
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Die im streitgegenständlichen Bescheid verfügte Ausweisung des Klägers und das sechs- bzw. achtjährige Einreise- und Aufenthaltsverbot sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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1. Die Ausweisung des Klägers erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 12; U.v. 30.7.2013 - 1 C 9.12 - juris, Rn. 8) als rechtmäßig.
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Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
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a. Der weitere Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet stellt eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar, da mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass er erneut erheblich straffällig wird (vgl. zum Prognosemaßstab BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris).
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Bei der anzustellenden Prognose bezüglich einer Wiederholungsgefahr ist zu beachten, dass jede sicherheitsrechtliche Gefahrenprognose nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts eine Korrelation aus Eintrittswahrscheinlichkeit und (möglichem) Schadensausmaß ist. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist, auch wenn dies nicht bedeutet, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit eine Wiederholungsgefahr begründet (vgl. BVerwG, U. v. 4.10.2012 - 1 C 13/11 - juris, Rn. 18).
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Der Kläger wurde zuletzt mit Urteil des Landgerichts München am … Juli 2019 wegen Diebstahls in zwei Fällen sowie wegen Raubes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung sowie wegen räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von drei Jahren und fünf Monaten verurteilt. Die Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus wurde angeordnet. Die Straftaten des Klägers stellen Verstöße gegen das hohe Gut der körperlichen Unversehrtheit sowie das Eigentum dar. Besonders schwer wiegt in diesem Zusammenhang, dass der Kläger auch nicht davor zurückschreckte, gegenüber betagten Personen gewalttätig zu werden. Mit Blick auf den ordnungsrechtlichen Charakter der Ausweisungsverfügung ohne Belang ist im Rahmen der anzustellenden Prognose einer bestehenden Wiederholungsgefahr, ob die Delinquenz des Klägers im Zustand der vollen oder verminderten Schuldfähigkeit erfolgt ist (vgl. in diesem Zusammenhang BayVGH, B.v. 2020 - 10 ZB 20.536 - juris Rn. 6 ff.). Hinzukommt, dass sich der Betäubungsmittelkonsum des Klägers bzw. die darauf basierenden oder damit in Zusammenhang stehenden immer gleichen Verhaltensweisen, die dann in die Straffälligkeit münden, wie ein roter Faden durch seinen bisherigen Werdegang ziehen. Der Kläger hat die der Ausweisung zugrundeliegenden Straftaten bei Entweichungen aus dem bestehenden - wenn auch zu den Tatzeitpunkten nicht mehr geschlossenen - Maßregelvollzug begangen. In diesem Zusammenhang ist zudem von Bedeutung, dass sich der Kläger seit über 15 Jahren nahezu durchgehend in der Unterbringung befindet und die in diesem Zusammenhang angestellten (Thera-pie-) Maßnahmen offenbar nicht ansatzweise dazu geführt haben, dass der Kläger in ein straffreies und geordnetes Leben (zurück) findet. Auch die zuletzt vorgelegten Berichte des …Klinikums vom … Mai 2022 (Bl. 78 ff. GA) und … Juni 2022 (Bl. 93 ff. BA) lassen keine andere Beurteilung zu. Ausweislich der vorgelegten Therapieberichte befindet sich der Kläger weit entfernt von einem stabilen Zustand, der eine positive Prognose ermöglich würde. Nach wie vor sind die seit Jahren bestehenden und immer wieder in den Berichten erwähnten Grundprobleme dieselben. Krankheitsgefühl und Krankheitseinsicht waren durchgängig nicht oder nur brüchig vorhanden. Der Kläger verfügt vor allem nicht über ausreichend Einsicht und redliche Motivation was die kontinuierliche Einnahme der Medikamente und seine grundsätzliche Therapie anbelangt. Ohne regelmäßige Medikamenteneinnahme besteht aber die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger wieder straffällig werden wird (… v. 23.5.2020, S. 14 … v. 13. 6.2022). Der Kläger scheint sich weder einsthaft mit seiner inzwischen chronifizierten Erkrankung, noch mit seiner Straffälligkeit, seinem Drogen-/Cannabiskonsum - er verherrlicht diesen laut …-Bericht mitunter - und der Notwendigkeit einer konsequenten Medikamenteneinnahme auseinander zu setzen (vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere auch den Bericht der … vom 23.5.2020, v.a. S. 12, Bl. 78 ff. GA). Von einer sicheren Compliance außerhalb des stationären Rahmens kann laut aktueller Berichte der … nach wie vor nicht ausgegangen werden. All dies wäre als ein erster Schritt erforderlich, um eine günstige Prognose anstellen zu können. Der Inhalt der Berichte der … deckt sich auch mit dem Eindruck, den das Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung am … November 2022 von dem Kläger gewinnen konnte. Zwar hat der Kläger in einer ruhigen und angemessenen Art und Weise an der mündlichen Verhandlung teilgenommen und Fragen beantwortet. Gleichwohl führte der Kläger auch dort auf die Frage des Gerichts, wie es ihm gehe und ob er seine Medikamente nehme, aus, dass er immer durchgehend seine Medikamente genommen habe und die Straftaten nur deshalb passiert seien, weil er die ganze Zeit in der Unterbringung verbracht habe und auch einmal „Party“ haben machen wollen. Er benehme sich ohnehin die ganze Zeit. Auch diese Aussage zeigt, dass der Kläger die Dimension seiner Sucht- und Krankheitsproblematik nicht erfasst hat. Für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr ohne Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, ob er dazu nicht fähig oder nicht willens ist. Solange der Kläger über keine erfolgreich abgeschlossene Therapie verfügt und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende nicht glaubhaft gemacht hat (vgl. dazu etwa BayVGH, B.v. 2.2.2022 - 10 ZB 21.3030 - juris Rn. 3; B.v. 29.3.2022 - 20 ZB 21.1021 Rn. 10), ist unter Berücksichtigung der vorliegenden Gesamtumstände nach wie vor von einer beachtlich wahrscheinlichen Wiederholungsgefahr auszugehen. Auf die Ausführungen des Gerichts zur Annahme der Wiederholungsgefahr im Rahmen der Ablehnung des Antrags auf Prozesskostenhilfe wird im Übrigen Bezug genommen.
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Unabhängig davon gefährdet der Aufenthalt des Klägers auch im Hinblick auf generalpräventive Gründe die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Eine Ausweisung aufgrund von Körperverletzungsdelikten hat stets auch eine generalpräventive Funktion. Denn eine solche setzt ein deutliches Signal, dass die körperliche Unversehrtheit in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ein hohes Rechtsgut darstellt und dieses Delikt nicht nur strafrechtliche Konsequenzen zeitigt, sondern auch ausländerrechtliche. Das Ausweisungsinteresse ist vorliegend auch aktuell. Die Ausweisung stellt damit eine geeignete Maßnahme dar, um andere Ausländer von solchen Delikten abzuhalten. Es besteht die ständige Praxis der Beklagten, Gewalttäter auszuweisen.
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b. Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der gegenläufigen Interessen ergibt darüber hinaus, dass das öffentliche Interesse an der Ausweisung das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt und die Ausweisung nicht unverhältnismäßig ist, § 53 Abs. 1 AufenthG.
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Da der Kläger mit Urteil des Landgerichts München vom … Juli 2019 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und 5 Monaten verurteilt wurde, liegt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S. des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor. Im Übrigen sind mit Blick auf die durch den Kläger begangenen Eigentums- und Gewaltdelikte die Tatbestände des § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchstabe b und d AufenthG erfüllt.
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Dem steht auf Seiten des Klägers das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse im Sinne von § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber, weil der Kläger über eine Niederlassungserlaubnis verfügt und sich seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG).
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Das Gericht ist jedoch mit der Beklagten der Auffassung, dass im Falle des Klägers das öffentliche Interesse an der Ausweisung die persönlichen Bleibeinteressen des Klägers auch unter Berücksichtigung der weiteren nach § 53 Abs. 2 AufenthG beachtlichen Umstände und Art. 6 GG und Art. 8 Abs. 2 EMRK überwiegt. Insoweit wird auf die Begründung des Bescheids Bezug genommen, der das Gericht folgt. Richtig ist insbesondere, dass die Beklagte zurecht berücksichtigt hat, dass der Kläger aufgrund seiner Geburt in Deutschland und seines mindestens seit seinem fünften Lebensjahr durchgängigen Aufenthalts in der Bundesrepublik zu einem „faktischen Inländer“ geworden ist. Zu berücksichtigen sind jedoch auch die geringen Integrationsleistungen des Klägers. Zwar ist es ihm gelungen, den Hauptschulabschluss zu machen. Beruflich konnte er jedoch nie Fuß fassen. Über eine abgeschlossene Ausbildung verfügt er nicht. Zuletzt hat sich der Kläger mit Mini-Jobs durchgeschlagen (Bl. 165 f. BA). Eine Perspektive, wie es nach der Zeit der Unterbringung weitergehen soll, war auch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht erkennbar. Der Kläger verfügt zudem über keine eigene Kernfamilie oder sonst schützenswerte Bindungen im Inland. Mit Blick darauf ist auch zu berücksichtigen, dass sich der Kläger seit fast 16 Jahren durchgehend in der Unterbringung befindet. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass die Eltern bzw. die Mutter des Klägers - welche auch bei der mündlichen Verhandlung anwesend war - sowie die Geschwister des Klägers noch in Deutschland sind. Jedoch ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass Familienmitglieder gerade auf den Beistand des Klägers in besonderem Maße angewiesen sind.
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Dem Kläger ist eine Rückkehr nach Marokko auch sonst möglich und zumutbar. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass der Kläger in Deutschland geboren ist und seine wesentliche Prägung in der Bundesrepublik erfahren hat. Gleichwohl ist es dem Kläger angesichts seiner Delinquenz und der weiterhin von ihm ausgehenden Wiederholungsgefahr zumutbar, in das Land seiner Staatsangehörigkeit zu übersiedeln. Der Kläger verfügt über keine gesicherte berufliche Position. Der Kläger hat in Deutschland den Hauptschulabschluss erreicht, aber nie eine Ausbildung abgeschlossen. Zuletzt hat er auf 400-Euro-Job-Basis gearbeitet. Es ist davon auszugehen, dass die Sprachkenntnisse des Klägers für eine Ausreise ausreichen. Die Eltern des Klägers stammen aus Marokko. Der Kläger hat die ersten Jahre seines Lebens (mindestens 3 Jahre) in Marokko verbracht. Dass er der arabischen Sprache mächtig ist, lässt sich aus den in der Akte vorhandenen Unterlagen ableiten (Zeugnisse, Vernehmung der Mutter). Das Gericht schließt sich insofern den zutreffenden und schlüssigen Ausführungen der Beklagten im Bescheid sowie im Schriftsatz vom … Mai 2020 im Übrigen an. Der Kläger hat darüber hinaus im Rahmen der mündlichen Verhandlung am … November 2022 bestätigt, dass er des durch seine Familie erlernten Dialekts mächtig ist, wenngleich er betonte, dass er weder arabisch schreiben noch lesen könne. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass nach wie vor familiäre Verbindungen nach Marokko bestehen (Schwester der Mutter), sodass es ihm möglich sein wird, sich in Marokko eine Existenz aufzubauen. Die Ausführungen des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung, er kenne in Marokko niemanden und hätte dort auch niemanden, sind insofern und unter Berücksichtigung der Gesamtumstände nicht glaubhaft. Die Ausweisung ist auch unter Berücksichtigung der krankheitsbedingten Umstände des Klägers verhältnismäßig. Anhaltspunkte für etwaige Abschiebungsverbote bestehen nicht. Für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung kommt es ohnehin nicht auf die Prüfung von Abschiebungsverboten an (BayVGH, B.v. 1.2.2019 - 10 ZB 18.2455 - juris Rn. 10; B.v. 16.4.2020 - 10 ZB 20. 536 - juris). Unabhängig davon hat die Beklagte zum einen ausgeführt, dass eine Entlassung aus der Therapie erst erfolgen wird, wenn sich der Zustand des Klägers stabilisiert hat. Zum anderen ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass der Kläger in Marokko keinen ausreichenden Zugang zu einer etwaig notwendigen medizinischen Versorgung haben würde. Ausweislich des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko (Stand November 2022 S. 22 ff.) sind psychiatrische Erkrankungen in Marokko behandelbar. Mittellose Personen können auf Antrag bei der Präfektur eine „Carte RAMED“ zur kostenfreien Behandlung erhalten.
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Die ausgesprochene Ausweisung des Klägers ist nach alledem eine verhältnismäßige Maßnahme, die zur Abwehr der durch seinen Aufenthalt drohenden Gefahren insbesondere geeignet, erforderlich und angemessen ist.
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2. Das in Ziffer 2 verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot lässt keine Rechtsfehler erkennen. Gem. § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist bei einer Ausweisung zwingend ein Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Ausweisungsentscheidung zu erlassen.
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Hinsichtlich der Dauer der Sperrfrist bedarf es gemäß § 11 Abs. 3 AufenthG der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen - das der auch zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt - das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In diesem Rahmen sind auch verfassungsrechtliche Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie die Vorgaben aus Art. 7 Grundrechtecharta, Art. 8 EMRK zu berücksichtigen (BVerwG, U.v. 13.12.2012 - 1 C 20/11 - juris).
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Die Beklagte war bei ihrer Entscheidung vorliegend auf Grund der strafrechtlichen Verurteilung nicht an die Fünfjahresfrist des § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG gebunden, § 11 Abs. 5 AufenthG.
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Bei der mit Freiheitsstrafe von 3 Jahren und fünf Monaten abgeurteilten Tat handelt es sich um ein massives Gewalt- und Eigentumsdelikt. Von dem Kläger geht zudem nach wie vor eine Wiederholungsgefahr aus (s.o.). Auch unter Berücksichtigung der geringen sozialen Bindungen und Integrationsleistungen des Klägers (s.o.) erscheint eine Frist von 6 bzw. 8 Jahren als angemessen, aber auch erforderlich, um einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu begegnen. Die von der Beklagten verfügte Bedingung, bei deren Nichteintritt eine längere Wiedereinreise- und Titelerteilungssperre gelten soll, dient der Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG.
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Im Übrigen kann der Kläger jederzeit einen Antrag auf Verkürzung der von der Beklagten festgesetzten Frist nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG stellen, wenn sich die für die Festsetzung maßgeblichen Kriterien nachträglich ändern sollten.
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3. Die Abschiebungsandrohung stützt sich auf §§ 58, 59 AufenthG. Soweit die Abschiebung aus der Haft bzw. der Unterbringung angekündigt wird (Ziffer. 3 des Bescheides), erfüllt dies die Voraussetzungen von §§ 58 Abs. 3, 59 Abs. 5 AufenthG.
40
Die Klage wird nach alledem mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abgewiesen.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.