Inhalt

LG München I, Beschluss v. 02.06.2022 – 27 O 6642/21
Titel:

Aussetzung eines Kapitalanleger-Musterverfahrens

Normenkette:
KapMuG § 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 5, § 6, § 8 Abs. 1, § 24 Abs. 2
Leitsatz:
Ein Sachvortrag zur Begründung eines Klageanspruchs ist schlüssig und damit als Prozessstoff erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Das Gericht muss anhand des Parteivortrags beurteilen können, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der an eine Behauptung geknüpften Rechtsfolge erfüllt sind. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kapitalanleger-Musterverfahren, Aussetzung, Vorlagebeschluss, Parteivortrag
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 28.07.2022 – 3 W 822/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 38920

Tenor

1. Das Verfahren gegen den Beklagten zu 1) … wird gemäß § 8 Abs. 1 KapMuG im Hinblick auf das Kapitalanleger-Musterverfahren Aktenzeichen 101 KAP 1/22 des Bayerischen Obersten Landesgericht ausgesetzt.
2. Die Klagepartei wird darauf hingewiesen, dass die anteiligen Kosten des Musterverfahrens zu den Kosten des Rechtsstreits gehören, wenn die Klage nicht innerhalb von einem Monat ab Zustellung dieses Aussetzungsbeschlusses zurückgenommen wird, § 24 Abs. 2 KapMuG.

Gründe

1
Das Verfahren war nach § 8 Abs. 1 KapMuG im Hinblick auf das Kapitalanleger-Musterverfahren Aktenzeichen 101 KAP 1/22 des Bayerischen Obersten Landesgerichts auszusetzen. Die Entscheidung konnte nach § 128 Abs. 4 ZPO ohne mündliche Verhandlung ergehen.
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I. Im vorliegenden Zivilverfahren macht die Klagepartei gegen den Beklagten zu 1) … Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit einem Aktienerwerb an der W. AG geltend.
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Der Kläger erwarb am 18.5.2020 180 … zum Kaufpreis von 15.087,06 Euro. Der Beklagte zu 1) war bis Mitte 2020 Vorstandsvorsitzender … und deren größter Einzelaktionär.
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Bei der … handelte es sich um ein Zahlungsdienstunternehmen. Die … arbeitete im Rahmen ihrer Geschäfte auch mit Partnerunternehmen in Ländern zusammen, in welchen sie keine Lizenz als Zahlungsdienstleister hat, um so Zahlungen abzuwickeln …. Die Verträge sahen dabei vor, dass die Partnerunternehmen Kreditkartentransaktionen für Kunden abwickeln, die durch die … vermittelt wurden. Die … verpflichtete sich hierbei, die Partner von Vermögensverlusten aus der Geschäftsbeziehung schadlos zu halten, wodurch insbesondere Schäden aus der Rückabwicklung von Zahlungsvorgängen sowie gegebenenfalls von Kartennetzwerkorganisation verhängte Strafzahlungen umfasst werden sollten. Die Besicherung sollte hierbei über die Stellung treuhänderisch verwalteter Barsicherheiten auf Treuhandkonten erfolgen.
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Im Juni 2020 teilte … mit, dass Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden € mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht existieren. Dieser Betrag stellte ca. ¼ des Gesellschaftsvermögens dar. Am 25.06.2020 stellte die … Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Das Amtsgericht München hat das Insolvenzverfahren am 25.8.2020 eröffnet.
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Die Firma … führte im Jahr 2020 eine Sonderprüfung durch. Im Rahmen des Ergebnisses dieser Sonderprüfung teilte die … mit, dass keine ordnungsgemäßen Nachweise über die Guthaben auf Treuhandkonten eingeholt werden konnten und ihr keine Bankkontoauszüge, die Zahlungseingänge von rund 1 Milliarde € auf den Treuhandkonten belegen würden, übermittelt wurden.
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Bereits seit dem Jahr 2015 gab es kritische Presseberichterstattung bezüglich der ….
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Die Klagepartei macht gegen den Beklagten Ansprüche aus § 823 Abs. 2 i.V.m. Art. 17 VO Nr. 596/2014, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 331 HGB, 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 119 Abs. 1 Nr. 1, 120 Abs. 15 Nr. 2 WpHG, Art. 15 VO Nr. 596/2014, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB und § 826 BGB geltend. Sie trägt vor, der Beklagte zu 1) sei für die betrügerischen Handlungen bei der … verantwortlich.
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Der Beklagte zu 1) wendet ein, er habe keine Kenntnis zu betrügerischen Vorgängen innerhalb … gehabt. Nach dem Wissen des Beklagten zu 1) seien die Darstellungen der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der … zutreffend gewesen.
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II. Das Landgericht München I hat im Verfahren 3 OH 2767/22, an welchem der Beklagte zu 1) als Antragsgegner beteiligt ist, am 14.03.22 einen Vorlagebeschluss gemäß § 6 KapMuG erlassen und das Verfahren dem Bayerischen Obersten Landesgericht vorgelegt. Das Aktenzeichen des Bayerischen Obersten Landesgericht lautet 101 KAP 1/22.
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Der Vorlagebeschluss ist im Bundesanzeiger veröffentlicht. Im Vorlagebeschluss finden sich unter Ziffer A I die Feststellungsziele, dass die Geschäftsberichte der … für die Jahre 2014 bis 2018 unrichtig sind, da sie falsche Zahlungsmittel und Zahlungsmitteläquivalente enthalten, falsche Umsatzerlöse enthalten, die Risiken aus dem Drittpartnergeschäft (TPA-Geschäft) falsch darstellten, die Segmentberichterstattung nicht den Anforderungen von IFRS 8 entspreche und das Risikofrüherkennungssystem der … falsch darstellten, die … und der Beklagte zu 1) dies wussten und dies auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beruhte.
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In Ziffer A. II enthält der Vorlagebeschluss unter anderem Feststellungsziele eines sittenwidrigen Handelns der … und des Beklagten zu 1).
13
Mit Verfügung vom 31.3.2022 hat das Gericht auf die beabsichtigte Aussetzung nach § 8 Abs. 1 KapMuG hingewiesen. Die Klagepartei hat keine Stellungnahme zur Aussetzung abgegeben. Der Beklagte zu 1) wendet sich gegen eine Aussetzung. Der Rechtsstreit sei bereits entscheidungsreif, da die Klage unschlüssig sei.
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III. Das Verfahren war nach § 8 Abs. 1 KapMuG im Hinblick auf das vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht anhängige Musterverfahren 101 KAP 1/22 auszusetzen. Der Anwendungsbereich des § 1 KapMuG ist eröffnet (1.). Die im Musterverfahren vorgelegten Fragen sind vorgreiflich (2.). Die Klage ist auch schlüssig (3.).
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1. Der Anwendungsbereich nach § 1 KapMuG ist eröffnet. Bei den Jahresabschlüssen der … handelt es sich um öffentliche Kapitalmarktinformationen gemäß § 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 KapMuG.
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2. Das Musterverfahren 101 KAP 1/22 des Bayerischen Oberlandesgerichts ist vorgreiflich. Der Rechtsstreit gegen den Beklagten zu 1) hängt von den Feststellungszielen ab. Die Feststellungsziele des Kapitalanleger-Musterverfahrens umfassen sowohl die Unrichtigkeit der Geschäftsberichte als auch die Kenntnis des Beklagten zu 1) und die Frage sittenwidrigen Handelns durch den Beklagten zu 1).
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3. Die Klage ist schlüssig. Die Klagepartei hat die für eine Haftung des Beklagten zu 1) notwendigen Tatsachen ausreichend vorgetragen. Dies gilt auch bezüglich der Kausalität. Hinsichtlich der Kausalität besteht eine tatsächliche Vermutung, dass die Klagepartei die Aktien nicht erworben hätte, wenn die Jahresabschlüsse zutreffend gewesen wären. In diesem Fall wäre zu erwarten gewesen, dass die …, angesichts der gerichtsbekannten jahrelangen kritischen Presseberichterstattung, bereits zu einem früheren Zeitpunkt Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt hätte (vgl. hierzu OLG München, Beschluss vom 13.12.2021 – 3 U 6014/21).
18
Auch hinsichtlich der Verantwortlichkeit des Beklagten zu 1) erweist sich der Sachvortrag als schlüssig. Ein Sachvortrag zur Begründung eines Klageanspruchs ist schlüssig und damit als Prozessstoff erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Das Gericht muss anhand des Parteivortrags beurteilen können, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der an eine Behauptung geknüpften Rechtsfolge erfüllt sind. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen nicht verlangt werden. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, welche Angaben einer Partei zumutbar und möglich sind. Falls sie keinen Einblick in die Geschehensabläufe hat und ihr die Beweisführung deshalb erschwert ist, darf sie auch vermutete Tatsachen unter Beweis stellen. Sie ist grundsätzlich nicht gehindert, Tatsachen zu behaupten, über die sie keine genauen Kenntnisse hat, die sie aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält (BGH, Versäumnisurteil vom 4.2.2021 – III ZR 7/20).
19
Gemessen an diesem Maßstab erweist sich der klägerische Vortrag als schlüssig. Die Klagepartei hat hinreichende Tatsachen dargetan, welche nahelegen, dass der Beklagte zu 1) von der Unrichtigkeit der Jahresabschlüsse wusste. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bereits die Position, die der Beklagte zu 1) innerhalb … innehatte, nahelegt, dass ihm die Nichtexistenz eines Viertels des Gesellschaftsvermögens aufgefallen ist.