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VG Würzburg, Urteil v. 30.11.2022 – W 5 K 22.30389
Titel:

Zuerkennung subsidiären Schutzes für einen ehemaligen Soldaten aus dem Jemen

Normenketten:
VwGO § 102 Abs. 2, § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 3e, § 4 Abs. 1 S. 1, S. 2, Abs. 3, § 77 Abs. 1
Anerkennungs-RL Art. 4 Abs. 4, Art. 15b
Leitsätze:
1. Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSd § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG ist in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b Anerkennungs-RL (ABl. L 337, S. 9) auszulegen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine unmenschliche Behandlung ist die absichtliche, dh vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweist. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylbewerber aus dem Jemen, subsidiärer Schutz, zuerkannt, Flüchtlingseigenschaft, abgelehnt, Asylantrag, Jemen, ehemaliger Offizier, Huthi-Milizen, unmenschliche, erniedrigende Behandlung, inländische Fluchtalternative, drohende Verelendung, RL 2011/95/EU
Fundstelle:
BeckRS 2022, 38674

Tenor

I. Die Ziffern 3 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 6. Mai 2022 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens hat der Kläger 1/3 und die Beklagte 2/3 zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.   

Tatbestand

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Der Kläger begehrt asylrechtlichen Schutz.
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1. Der am ... 1976 in …Jemen geborene Kläger ist jemenitischer Staatsangehöriger, arabischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens. Seine Ehefrau und vier Kinder leben in S. … Er reiste am 25. Oktober 2021 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 8. Dezember 2021 einen Asylantrag.
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Bei seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 8. Februar 2022 gab der Kläger im Wesentlichen an: Er sei Berufssoldat gewesen und habe sich - nachdem die Houthi-Milizen im Jahr 2014 an die Macht gekommen seien - gegenüber der Regierung verweigert, am Krieg teilzunehmen. Da er auf einer „schwarzen Liste“ des Verteidigungsministeriums gestanden habe, sei er nach Indien gereist, wo er ein Studium aufgenommen habe. Es sei ein Haftbefehl gegen seine Person ergangen, sein Vater sei aufgesucht und er selbst sei in Indien telefonisch kontaktiert worden. Dabei sei ihm vorgehalten worden, als Offizier ohne Erlaubnis das Land verlassen zu haben. Bei einer Rückkehr in den Jemen würden ihn die Houthi-Milizen auffordern, sich am Krieg zu beteiligen, was er ablehne.
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2. Mit Bescheid vom 6. Mai 2022 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1 des Bescheids), auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie die Gewährung subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4) und dem Kläger wurde die Abschiebung in den Jemen oder einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Zur Begründung führte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Wesentlichen aus: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Kläger sei kein Flüchtling i.S.d. § 3 AsylG. Es fehle an einem Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG. Eine sich aus der als Desertation zu wertende Flucht nach Indien ergebene Verfolgungsgefahr sei spätestens mit Bildung einer neuen und in der Stadt Aden gebildeten Übergangsregierung nicht mehr existent. Dies habe der Kläger durch mehrmalige Aufenthalte 2019, 2020 und 2021 im Jemen untermauert. Hinsichtlich der geltend gemachten Rekrutierungsgefahr durch die Huthi-Milizen könne sich der Kläger selbst bei Wahrunterstellung nicht auf eine begründete Furcht vor politischer Verfolgung berufen. Eine politisch-oppositionelle Haltung sei jedenfalls in Bezug auf die befürchtete Zwangsrekrutierung nicht zum Ausdruck gebracht. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Dass tatsächlich eine ernsthafte Gefährdung des Klägers durch eine zwangsweise Rekrutierung seitens der Huthi-Milizen vorgelegen habe oder aktuell noch vorliege, werde in Zweifel gezogen. Er habe lediglich angegeben, von früheren Offizieren und militärischen Weggefährten angesprochen worden zu sein, sich ihnen und damit den Huthi-Milizen anzuschließen. Hieraus könne aber keine Rekrutierungsabsicht, geschweige denn ein Zwang zum militärischen Dienst abgeleitet werden. Auch eine Schutzfeststellung nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG scheide aus. Zwar bestehe im Jemen ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Es bestehe jedoch keine ernsthafte individuelle Bedrohung aufgrund willkürlicher Gewalt. Der vorliegend festgestellte Grad willkürlicher Gewalt erreiche nicht das für eine Schutzgewährung erforderliche hohe Niveau, demzufolge jedem Betroffenen allein wegen seiner Anwesenheit im Konfliktgebiet ohne weiteres Schutz nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG gewährt werden müsste. Der Kläger habe zuletzt dauerhaft in S. … gelebt, wo die Voraussetzungen für einen eklatant erhöhten Gefährdungsgrad für alle Zivilpersonen nicht gegeben seien. Individuelle gefahrerhöhenden Umstände seien nicht ersichtlich. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AsylG sei nicht gegeben. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Jemen führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Es sei davon auszugehen, dass der mit 45 Jahren zwar nicht mehr jung zu nennende, aber doch durchaus arbeitsfähige und gesunde Antragsteller auch ohne nennenswertes Vermögen, im Falle einer Rückkehr durch die Mithilfe und Arbeit auf den landwirtschaftlichen Flächen der Familie seine Existenz durch die Erwirtschaftung landwirtschaftlicher Produkte sichern könne. Hinzu komme, dass ein tragfähiges familiäres Netzwerk vorhanden sei. Das abgeschlossene Studium dürfte ihm zumindest ein unregelmäßiges Zubrot ermöglichen. Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AsylG führen würde. Entsprechendes sei nicht vorgetragen worden. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liege nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Dies sei hier nicht der Fall.
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3. Am 17. Mai 2022 ließ der Kläger über den Klägerbevollmächtigten Klage erheben und sinngemäß beantragen,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. Mai 2022 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
weiter hilfsweise festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Jemen vorliegt.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf die Aussagen des Klägers in seiner Anhörung vor dem Bundesamt verwiesen. Es drohe dem Kläger aufgrund einer Zwangsrekrutierung durch die Huthis eine Verfolgung aus politischen Gründen. Das gelte gerade vor dem Hintergrund, dass der Kläger als früherer Offizier der jemenitischen Armee wegen seiner Ausbildung besondere Qualifikationen aufweise. Dem Kläger seien Fälle von Freunden bzw. früheren Armeekollegen bekannt, denen es nicht gelungen sei, aus dem Jemen zu fliehen und sich nicht dem Zugriff der Huthi-Milizen zu entziehen. Im Weiteren werde auf die Urteile des VG K. … vom ... 2022 (...), des VG S. …-H. … vom …2021 (...) und des VG W. … vom ... 2022 (...) Bezug genommen. Ergänzend sei noch anzumerken, dass der Waffenstillstand im Jemen im Oktober 2022 ausgelaufen und eine neue Eskalation des Krieges zu erwarten sei, mit den einhergehenden zusätzlichen humanitären Verschlechterungen für die Zivilbevölkerung. Bei dem Kläger seien daher zumindest die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt.
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4. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beantragte für die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde auf die Begründung des angegriffenen Bescheids verwiesen.
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5. Mit Beschluss vom 21. Juli 2022 übertrug die Kammer den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter.
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6. In der mündlichen Verhandlung am 17. November 2022 wurde der Kläger informatorisch angehört. Hinsichtlich der Einzelheiten des Sitzungsverlaufs wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
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7. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die trotz Ausbleibens der Beklagtenseite in der mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), hat im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang - nämlich im Hilfsantrag auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes - Erfolg. Im Übrigen - nämlich hinsichtlich des Hauptantrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft - ist die Klage unbegründet.
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Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG. Die Ziffern 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. Mai 2022 sind daher rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Hingegen hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 AsylG, weshalb die Ablehnung derselben in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt.
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1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, weil ihm im Zeitpunkt seiner Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden in der Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch einen nichtstaatlichen Akteur drohte und die somit begründete Verfolgungsvermutung nach Art. 4 Abs. 4 QRL nicht durch stichhaltige Gründe widerlegt wurde.
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§ 4 Abs. 1 AsylG setzt die Bestimmungen der RL 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 304 v. 30.9.2004, S. 2 - 2, ABl. L 304 v. 30.9.2004, S. 12 - 23) - Qualifikationsrichtlinie (QRL) -, insbesondere deren Art. 15 ff., in deutsches Recht um. Diese bilden nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes zu den Vorläuferregelungen des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG einen einheitlichen, in sich nicht weiter teilbaren Streitgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14/10 - DVBl. 2011, 1565 f.; BayVGH, U.v. 20.1.2012 - 13a B 11.30427 - juris). Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG gilt als ernsthafter Schaden die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
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Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die zuletzt genannte Vorschrift der Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337, S. 9) - QRL - dient, ist dieser Begriff jedoch in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b QRL auszulegen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) legt Art. 15b QRL wiederum in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zu Art. 3 EMRK aus (z.B. EuGH, U.v. 17.2.2009 - Elgafaji, C - 465/07 - juris Rn. 28; ebenso BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris Rn. 22 ff. m.w.N.). Danach ist eine unmenschliche Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden (EGMR, U.v. 21.1.2011 - 30696/09 - ZAR 2011, 395, Rn. 220 m.w.N), die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen (EGMR, U.v. 11.7.2006 - Jalloh, 54810/00 - NJW 2006, 3117/3119 Rn. 67). Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen. Eine Bestrafung oder Behandlung ist nur dann als unmenschlich oder erniedrigend anzusehen, wenn die mit ihr verbundenen Leiden oder Erniedrigungen über das in der Bestrafungsmethode enthaltene, unausweichliche Leidens- oder Erniedrigungselement hinausgehen, wie z.B. bei bestimmten Strafarten wie Prügelstrafe oder besonders harten Haftbedingungen.
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Aufgrund des Vortrags des Klägers vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung geht der erkennende Einzelrichter davon aus, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr in seine Heimatregion im Jemen von einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG durch Angehörige der Houthi-Rebellen bedroht sein wird. Der Kläger hat bereits vor dem Bundesamt als Hauptgrund angegeben, dass er bei Rückkehr in den Jemen von den Houthi-Milizen aufgefordert werden würde, sich an dem Krieg zu beteiligen (vgl. Bl. 8 des Anhörungsprotokolls). Die Houthis hätten gewusst, dass der Kläger Soldat gewesen sei und sie benötigten seine Kenntnisse und Fähigkeiten im Krieg, z.B. für beschlagnahmtes militärisches Gerät der früheren Regierung (Bl. 9 des Anhörungsprotokolls). Das Gericht hält es in der spezifischen Situation des Klägers - insbesondere seiner langjährigen Armeezugehörigkeit - für hinreichend wahrscheinlich, dass dieser in das Blickfeld der Houthi-Milizen geraten und im Fall der Verweigerung von militärischen Diensten festgenommen und/oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt werden bzw. sonstige Schäden erleiden kann, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.v. § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG darstellen. Der Kläger hat dabei auch deutlich gemacht, dass er bereits konkret in das Visier der Huthi-Rebellen geraten sei und dass nach seiner Person wiederholt gefragt und sein Vater zuhause aufgesucht worden sei. Bei seinen Darlegungen in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger insoweit auf das Gericht einen glaubwürdigen Eindruck gemacht; er hat die Fragen des Gerichts in nachvollziehbarer Weise und mit erkennbarer emotionaler Betroffenheit beantwortet.
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Das Gericht geht weiterhin davon aus, dass dem Kläger in dieser Situation keine inländische Flucht- bzw. Aufenthaltsalternative zur Verfügung steht. Ein interner Schutz, insbesondere eine Fluchtmöglichkeit im Sinne des § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG, besteht für den Kläger nicht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ihm ein Ausweichen in ein Gebiet, welches von den Houthis nicht kontrolliert wird, nicht zumutbar ist, weil der Kläger dort unter Berücksichtigung der allgemein schlechten humanitären Bedingungen im Jemen (ausführlich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 17.12.2021, S. 41 ff.; vgl. auch Auswärtiges Amt, Anfragebeantwortung gegenüber VG Leipzig vom 18.6.2020) seine Existenz voraussichtlich nicht bestreiten können wird. Der Arbeitsmarkt stellt sich sowohl für ungelernte als auch für ausgebildete Arbeitskräfte als schwierig dar. Soziale Sicherungssysteme bestehen nicht. Es ist üblich, dass Arbeitslose innerhalb der Großfamilien finanziell aufgefangen und mitfinanziert werden. Die tatsächlichen Chancen für den Kläger, als Rückkehrer aus dem Westen eine zur Finanzierung seines Existenzminimums auskömmliche (Gelegenheits-)Arbeit zu finden, sind als sehr schlecht einzustufen. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung plausibel dargestellt, dass ihm im Süden des Landes (z.B. in Aden) besondere Erschwernisse bestehen, da er als aus dem Norden stammend erkannt werden und ihm eine Zugehörigkeit zu den Huthi-Milizen vorgehalten werden würde; zudem wäre er dort weitestgehend auf sich allein gestellt. Die finanzielle Lage seiner Familie hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung ebenfalls als sehr schlecht beschrieben. Er selbst habe keinerlei Ersparnisse oder Grundstücke, habe seine Arbeit verloren, müsse seine Ehefrau und vier Kinder unterstützen und sei seinerseits auf Unterstützung durch Freunde angewiesen. Zudem sei er aufgrund der Ausreise in Höhe von 2.000 US-Dollar verschuldet. Seine Ehefrau und Kinder hätten zu seinem Vater umziehen müssen; sie seien zusätzlich auf dessen finanzielle Hilfe angewiesen. Auf eine auskömmliche Hilfe seiner Familie kann der Kläger nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht - erst recht in einem anderen Landesteil - zurückgreifen. Die dem Kläger bei Ergreifen einer inländischen Fluchtalternative mit hinreichender Wahrscheinlichkeit drohende Verelendung kann auch nicht durch denkbare Rückkehrhilfen kompensiert werden.
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Dementsprechend war dem Kläger der subsidiäre Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zuzuerkennen.
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2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
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Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind (Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe), wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Vorliegend fehlt es an einem entsprechenden Anknüpfungsmerkmal. Handlungsleitendes Motiv für die drohenden Übergriffe auf seine Person ist nicht eine bestimmte (ihm zugeschriebene) politische Überzeugung des Klägers, sondern vielmehr der Versuch der Houthi-Milizen, Zugriff auf den Kläger zu erhalten, um - wie der Kläger im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt selbst ausführte (vgl. S. 9 des Anhörungsprotokolls) - von dessen militärischer Ausbildung und erworbenen Kenntnissen zu profitieren. Bei der Gruppe der wehrfähigen Männer handelt es sich auch nicht um eine bestimmte soziale Gruppe i.S.v. § 3b AsylG. Gleiches gilt für die Gruppe der „ehemaligen Armeeangehörigen“. In beiden Fällen ist nämlich nicht ersichtlich, worin der unveränderbare Hintergrund einer derartigen Personengruppe liegen soll. Mangels einer deutlich abgrenzbaren Identität kann die Gruppe von der Gesellschaft als solche nicht wahrgenommen werden.
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Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung darauf abstellte, dass ihm seine anfängliche Verweigerungshaltung als früherer Armeezugehöriger seitens der Houthi-Milizen als oppositionelle politische Einstellung vorgehalten werde und er deswegen einer an eine politische Überzeugung anknüpfende Verfolgung unterliege, hält das Gericht dies für nicht hinreichend wahrscheinlich. Es hätte bereits nahegelegen, dass der Kläger entsprechende Umstände bereits vor dem Bundesamt vorgetragen hätte; bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hat der Kläger jedoch zu der Befürchtung, dass er gerade wegen einer oppositionellen Einstellung gegenüber den Houthi-Milizen verfolgt werde, nichts Näheres ausgeführt. Insoweit ist das Vorbringen des Klägers in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Vorbringen vor dem Bundesamt auch nicht mehr konsistent, weil die Houthis im Fall einer ihm unterstellten, oppositionellen politischen Überzeugung und einem damit einhergehenden Verfolgungswillen nicht zugleich an seinen militärischen Kenntnissen und Fähigkeiten interessiert sein könnten bzw. keinen entsprechenden Druck auf den Kläger zur Teilnahme an den militärischen Handlungen aufbauen könnten.
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3. Über den Hilfsantrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG musste nicht mehr entschieden werden.
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4. Im Ergebnis war der Klage auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes unter Aufhebung der Ziffern 3 bis 6 des streitgegenständlichen Bescheids stattzugeben und die Klage im Übrigen abzuweisen.
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.