Titel:
Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots (Einzelfall, Jemen)
Normenketten:
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Auch in Ansehung der schlechten humanitären Bedingungen im Jemen ist derzeit eine Rückkehr in den Jemen nicht für jeden alleinstehenden jungen Mann zwangsläufig aus humanitären Gründen ausgeschlossen; kommen jedoch weitere persönliche Umstände, wie Versorgung von Ehefrau, minderjährigen Kindern sowie weiteren nahen Angehörigen hinzu, droht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Verelendung, die weder durch internationale Hilfen im Jemen noch durch denkbare Rückkehrhilfen kompensiert werden kann. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylbewerber aus dem Jemen, subsidiärer Schutz, abgelehnt, Abschiebungsverbot, zuerkannt, Jemen, Existenzminimum
Rechtsmittelinstanzen:
VGH München, Urteil vom 03.07.2023 – 15 B 23.30185
BVerwG Leipzig, Beschluss vom 04.10.2023 – 1 B 41.23
Fundstelle:
BeckRS 2022, 38632
Tenor
I. Die Ziffern 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Februar 2022 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt asylrechtlichen Schutz.
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1. Der am … … 1993 in S* …Jemen geborene Kläger ist jemenitischer Staatsangehöriger, arabischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er reiste am 14. Oktober 2021 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 12. November 2021 einen Asylantrag.
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Bei seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 10. Januar 2022 gab der Kläger im Wesentlichen an: Er habe die Ausreise wegen der Lage in seinem Heimatland angetreten. Es gebe dort keine Arbeit und keine Sicherheit. Es gebe Luftangriffe durch Flugzeuge und man könne dort nicht leben. Im Jahr 2015 sei ihm und anderen Angestellten der Justizvollzugsanstalt gekündigt worden. Bei der daraufhin abgehaltenen Demonstration sei auf ihn geschossen worden und er sei am Nacken verletzt worden. Er habe als Omnibusfahrer gearbeitet; das Geld habe aber nicht richtig gereicht.
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2. Mit Bescheid vom 15. Februar 2022 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1 des Bescheids), auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie die Gewährung subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4) und dem Kläger wurde die Abschiebung in den Jemen oder einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Zur Begründung führte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Wesentlichen aus: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Kläger sei kein Flüchtling i.S.d. § 3 AsylG. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt habe der Kläger keine konkrete aktuelle individuelle Verfolgung darlegen können. Es fehle auch an einem Kausalzusammenhang zwischen dem geschilderten Übergriff auf seine Person und der fünf oder sechs Jahre späteren Ausreise. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Insbesondere eine Schutzfeststellung nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG scheide aus. Zwar könne im Jemen ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt nicht ausgeschlossen werden. Es bestehe jedoch keine ernsthafte individuelle Bedrohung aufgrund willkürlicher Gewalt. Der vorliegend festgestellte Grad willkürlicher Gewalt erreiche nicht das für eine Schutzgewährung erforderliche hohe Niveau, demzufolge jedem Betroffenen allein wegen seiner Anwesenheit im Konfliktgebiet ohne weiteres Schutz nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG gewährt werden müsste. Die bewaffneten Auseinandersetzungen im Gouvernement Amanat al-Asima zwischen den Konfliktparteien wiesen kein ausreichend hohes Niveau auf. Individuelle gefahrerhöhenden Umstände lägen nicht vor. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AsylG sei nicht gegeben. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Jemen führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Es bestünden keine durchgreifenden Zweifel daran, dass dem Kläger als gesundem und arbeitsfähigem Mann im Anschluss an eine Rückkehr in den Jemen die Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz möglich sein werde. Er sei auch nicht von Hilfe und Unterstützung durch im Heimatland verbliebene oder sich im Ausland aufhaltende Angehörige ausgeschlossen. Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AsylG führen würde. Entsprechendes sei nicht vorgetragen worden. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liege nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Dies sei hier nicht der Fall.
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3. Am 25. Februar 2022 ließ der Kläger über den Klägerbevollmächtigten Klage erheben und sinngemäß beantragen,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. Februar 2022 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
weiter hilfsweise festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Jemen vorliegt.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf die Aussagen des Klägers in seiner Anhörung vor dem Bundesamt verwiesen. Dem Kläger sei zumindest subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zuzuerkennen. Im Weiteren werde auf die Urteile des VG K* … vom … … 2022 (* * …*), des VG S* …-H* … vom … … 2021 … * …*) und des VG W* … vom … … 2022 (* * * …*) Bezug genommen. Höchst vorsorglich stehe jedenfalls ein Abschiebungsverbot. Der Kläger habe bereits vor seiner Flucht sich und seine Familie kaum ernähren können. Ergänzend sei noch anzumerken, dass der Waffenstillstand im Jemen im Oktober 2022 ausgelaufen und eine neue Eskalation des Krieges zu erwarten sei, mit den einhergehenden zusätzlichen humanitären Verschlechterungen für die Zivilbevölkerung. Bei dem Kläger seien daher zumindest die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt.
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4. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beantragte für die Beklagte,
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Zur Begründung wurde auf die Begründung des angegriffenen Bescheids verwiesen.
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5. Mit Beschluss vom 21. Juli 2022 übertrug die Kammer den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter.
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6. In der mündlichen Verhandlung am 17. November 2022 wurde der Kläger informatorisch angehört. Der Klägerbevollmächtigte nahm die auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage zurück; das Verfahren wurde insoweit eingestellt (* * * …*). Hinsichtlich der Einzelheiten des Sitzungsverlaufs wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
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7. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage, über die trotz Ausbleibens der Beklagtenseite in der mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), hat im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang - nämlich im Hilfsantrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK - Erfolg. Im Übrigen - nämlich hinsichtlich des Antrags auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes - ist die Klage unbegründet.
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Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Die Ziffern 4 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. Februar 2022 sind daher rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Hingegen hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG, weshalb die Ablehnung derselben in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt.
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1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
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Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Eine Verletzung von Art. 3 EMRK kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat können nur in begründeten Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen (vgl. hierzu: BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris).
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Angesichts der besonderen Umstände des hiesigen Einzelfalls kann unter Berücksichtigung der aktuellen Sicherheitslage und der humanitären Situation im Jemen davon ausgegangen werden, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Jemen nicht in der Lage sein wird, sich eine den Anforderungen des Art. 3 EMRK entsprechende Existenz zu sichern.
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Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fasst im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung am 17.12.2021, S. 14 ff.) die Sicherheitslage im Jemen wie folgt zusammen:
„Der Krieg im Jemen brach im Jahr 2014 aus, als die Huthi weite Teile des Landes, darunter die Hauptstadt Sanaa, überrannten. Seit 2015 versucht eine von Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition, die Huthi mit Luftangriffen zurückzudrängen, und die Regierung wiederherzustellen. Beiden Seiten werden schwere Verstöße gegen die Menschenrechte vorgeworfen (TAZ 10.12.2021).
Das Land ist instabil und von bewaffneten Konflikten geprägt. Es bestehen erhebliche Sicherheitsrisiken. Die Entwicklung der Lage ist ungewiss In verschiedenen Landesteilen bekämpfen sich Regierungstruppen (unterstützt durch eine ausländische Koalition) und verschiedene aufständische Gruppierungen. Es finden regelmäßig Luftangriffe auf verschiedene Ziele statt. Auch Sana’a und Aden sind immer wieder von bewaffneten Auseinandersetzungen und Angriffen mit Raketen und Drohnen betroffen. Im Land und in den Küstengewässern werden auch Minen eingesetzt (EDA 30.08.2021).
Zeitweise werden Blockaden über sämtliche Land-, Flug- und Schiffsverbindungen verhängt (EDA 30.08.2021). Im ganzen Land besteht ein hohes Risiko von terroristischen Akten gegen in- und ausländische Personen und Einrichtungen, einschließlich gegen humanitäre Organisationen. Regelmäßig fordern Anschläge Todesopfer und Verletzte (EDA 30.08.2021). Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) operierte im Jemen nicht immer unter ihrem eigentlichen Namen, sondern nannte sich z.B. im Jahr 2011 bei seiner teilweisen Eroberung von Abyan und Shabwa „Gefolgsleute der Scharia“ („Ansar al-Shariah“). Als die Gruppe 2014 bis 2015 die Stadt Mukallah besetzte, trat sie unter dem Namen „Söhne von Hadramawt“ („Sons of Hadramawt“) auf (SCSS 5.1.2021).
Im Indischen Ozean und auch in den jemenitischen Gewässern ist Piraterie verbreitet, besonders im Golf von Aden (EDA 30.08.2021).
Die Gewährleistung der Sicherheit durch staatliche Behörden ist nicht sichergestellt. Der bewaffnete Konflikt zwischen Huthi-Rebellen und der Regierung und ihren Unterstützern dauert weiter an. Anfang August 2019 kam es zu schweren Gefechten zwischen südlichen Separatisten und der Regierung loyalen Truppen in der Hafenstadt Aden. In der Folge kommt es immer wieder zu Kämpfen zwischen diesen Gruppen in den südlichen Provinzen Abyan, Shabwai sowie vereinzelt in Aden selbst. Daneben kommt es auch in Taiz immer wieder zu Kämpfen. Teile des Landes sind von täglichen Bombardierungen, Raketenangriffen und Kampfhandlungen am Boden betroffen. Die weiterhin fortdauernden Kampfhandlungen stellen für die Zivilbevölkerung weiterhin eine erhebliche Gefährdung dar. Ein Ende des Jemen-Konflikts ist nicht absehbar (AA 15.12.2021).
Die staatlichen Institutionen sind landesweit nur noch sehr eingeschränkt funktionsfähig. Bereits im September 2014 hatten Milizen der schiitisch-zaiditischen Huthi-Bewegung die Kontrolle über weite Landesteile, darunter auch die Hauptstadt Sanaa, übernommen und auch Teile der Sicherheitskräfte unter ihre Kontrolle gebracht. Die staatlichen Sicherheitsorgane sind nur bedingt funktionsfähig und können im Einzelfall keinen ausreichenden Schutz garantieren (AA 15.12.2021).
Es kommt weiterhin sehr rasch zu Versorgungsengpässen und Massendemonstrationen, zum Teil verbunden mit gewaltsamen Ausschreitungen (AA 15.12.2021). Bei Demonstrationen kann es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen den Demonstranten und den Sicherheitskräften kommen (EDA 30.08.2021).
Nach sechs Jahren saudischer Militäraktionen im Jemen haben diese keines der Ziele erreicht: Präsident Hadi befindet sich weiter im Exil, und seine Regierung ist schwach, während die Huthi aktuell stärker sind als zu Kriegsbeginn. Angesichts hunderttausender Toter und der weltweit schlimmsten humanitären Krise ist der Jemen so weit fragmentiert, dass es unwahrscheinlich erscheint, dass aus ihm wieder ein einziger Staat werden kann - oder eine Zweiteilung wie vor 1990. Es gibt stattdessen viele Jemen, kleine Gebiete, die von einer steigenden Zahl an bewaffneten Gruppen gehalten werden, und die unterschiedliche Ziele verfolgen. Keine der bewaffneten Gruppen hat genug Macht, um den Rest des Landes zu beherrschen. Aber fast alle diese Gruppen besitzen genug Truppenstärke und Munition, um ein eventuelles nationales Friedensabkommen zu torpedieren, wenn sie ihre Interessen nicht adäquat vertreten sehen sollten (BI 25.3.2021).
The Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) schätzt, dass seit Beginn der regionalen Intervention im Jemen im März 2015 bis Oktober 2021 über 145.000 JemenitInnen durch Gewalt getötet wurden (CRS 23.11.2021). In einem am 23.11.2021 veröffentlichten Report gibt das UNEntwicklungsprogramm (UNDP) an, bis Ende des Jahres 2021 mit 377.000 Kriegstoten seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2014 zu rechnen. Rund 60% der Todesfälle werden dabei den indirekten Folgen des Krieges zugerechnet, etwa Hunger oder mangelnde medizinische Versorgung. Betroffen sind zumeist Kinder unter fünf Jahren, die 70% der Todesopfer stellen (BAMF 29.11.2021). Ausländische Beobachter verurteilten die Menschenrechtsverletzungen durch alle Konfliktparteien (CRS 23.11.2021). Es gab zahlreiche Berichte über willkürliche oder rechtswidrige Tötungen durch derzeitige oder ehemalige Mitglieder der Sicherheitskräfte der Regierung. Auch politisch motivierte Tötungen durch nichtstaatliche Akteure, einschließlich der Houthi-Truppen, militanter sezessionistischer Elemente und terroristischer und aufständischer Gruppen, die sich zu Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) oder zur Organisation Islamischen Staat bekennen, setzten sich im Laufe des Jahres fort (USDOS 30.3.2021).
Die lange Zeit geteilte Hafenstadt Hodaida am Roten Meer fiel plötzlich unter komplette Houthi-Kontrolle, nachdem sich die mit Präsident Hadi verbündeten Truppen aus dem Gebiet zurückgezogen hatten (PolGeoNow 1.12.2021). Die Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und den Huthi-Rebellen vertrieben seit November mehr als 25.000 Menschen aus der Umgebung der Hafenstadt Hodaida. Drei Fünftel der Zivilisten flohen in die von der Regierung gehaltenen Gebiete, der Rest zu den Rebellen (TAZ 10.12.2021).
Die bewaffnete Gruppe der Huthi hat seit September wahllos Artillerie und ballistische Raketen in bewohnte Gebiete der Provinz Marib abgefeuert, was zu zivilen Opfern, darunter Frauen und Kindern, und zu einer neuen Welle ziviler Vertreibungen geführt hat. Die Angriffe sind Teil der verschärften Kämpfe zwischen den Huthi-Kräften und der jemenitischen Regierung und ihren verbündeten Streitkräften um Marib. Die Kämpfe tragen dazu bei, dass sich die humanitären Bedingungen für Millionen von Zivilisten und Binnenvertriebenen in der Region verschlechtern. Der große militärische Vormarsch der Huthi-Kräfte zur Eroberung Maribs, der rohstoffreichen Provinz 170 Kilometer östlich von Sanaa und eine der letzten Hochburgen der jemenitischen Regierungstruppen, begann 2020 und hat sich seit Februar intensiviert. Zivilisten und Vertriebene in Marib befinden seit fast zwei Jahren in dieser Lage, und einige leiden unter schweren Entbehrungen. Die Huthi führten wiederholt wahllose Angriffe auf zivile Gebiete durch und blockierten humanitärer Hilfe (HRW 24.11.2021, vgl. CRS 23.11.2021).
Die Provinz Marib ist weiterhin ungeminderter Schauplatz von Gefechten, wobei die nicht international anerkannte Regierung der Huthi langsam an Boden gegenüber den von Saudi-Arabien unterstützten Truppen von Präsident Hadi gewinnt (PolGeoNow 1.12.2021). Marib ist die letzte von der Regierung kontrollierte Großstadt im nördlichen Teil des Landes (BAMF 27.9.2021).
Die Stadt Marib im Jemen ist von einst wenigen hunderttausend Einwohnern zu einer Millionenstadt angewachsen - einigen Schätzungen zufolge bis zu fast drei Millionen Menschen. In dem seit sieben Jahren andauernden jemenitischen Bürgerkrieg hat sich die Stadt zur wichtigsten Zufluchtsstätte der im Land Vertriebenen entwickelt (TAZ 10.12.2021).
War Marib bis Anfang des Jahres noch ein Ruhepol im jemenitischen Bürgerkrieg und daher als Fluchtort beliebt, ist die Stadt inzwischen der am heftigsten umkämpfte Ort in diesem Krieg. Die Huthi-Rebellen versuchen derzeit, zunächst das Umland von Marib zu erobern. Die Stadt selbst kontrollieren noch die jemenitischen Regierungstruppen, die von Saudi-Arabien unterstützt werden. Bisher ist es vor allem die saudische Luftwaffe, die die Rebellen mit ihrem Bombardement noch abhält, sich bis an den Stadtrand vorzukämpfen (TAZ 10.12.2021).
Seit Oktober 2021 haben die Huthi-Truppen die Kontrolle über die Bezirke Al-Abdiyah und Harib im südlichen Gouvernement Marib übernommen, während die Kämpfe in den Bezirken al-Jubah und Jabal Murad andauern und 93.000 Zivilisten zwingen, aus ihren Häusern zu fliehen und in der Stadt Marib, die bereits zwei Millionen Vertriebene beherbergt, Sicherheit zu suchen. Der Oktober 2021 war der tödlichste Monat seit Jahren im Gouvernement mit mehr als 100 Zivilisten, darunter Kinder, die getötet oder verwundet wurden (HRW 24.11.2021).
Die Anti-Huthi-Koalition unter Führung Saudi-Arabiens hat zwischen dem 23.11.2021 und 27.11.2021 mehrere Luftschläge gegen Ziele in Sanaa durchgeführt. Laut Angaben der Koalition richteten sich die Bombardierungen gegen militärische Einrichtungen. Die Huthi hingegen geben an, dass auch Wohnhäuser und eine Fabrik beschädigt worden seien und vermeldeten zwei Tote. Die Huthi hatten am 20.11.2021 mehr als ein Dutzend Drohnen gegen Ziele in Saudi-Arabien abgefeuert. In einem am 23.11.2021 veröffentlichten Report gibt das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) an, bis Ende des Jahres 2021 mit 377.000 Kriegstoten seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2014 zu rechnen. Rund 60% der Todesfälle werden dabei den indirekten Folgen des Krieges zugerechnet, etwa Hunger oder mangelnde medizinische Versorgung. Betroffen sind zumeist Kinder unter fünf Jahren, die 70% der Todesopfer stellen (BN 29.11.2021).
Die bewaffnete Gruppe der Huthi hat seit September 2021 wahllos Artillerie und ballistische Raketen in bewohnte Gebiete des jemenitischen Gouvernements Marib abgefeuert, was zu zivilen Opfern, darunter Frauen und Kindern, und zu einer neuen Welle ziviler Vertreibungen geführt hat. Die Angriffe sind Teil der verschärften Kämpfe um Marib zwischen den Huthi-Kräften und der jemenitischen Regierung und ihren verbündeten Streitkräften. Die Kämpfe tragen dazu bei, dass sich die humanitären Bedingungen für Millionen von Zivilisten und Binnenvertriebenen in der Region verschlechtern. Der große militärische Vormarsch der Huthi-Kräfte zur Eroberung des Gouvernements Marib, des rohstoffreichen Gouvernements 170 Kilometer östlich von Sanaa, einer der letzten Hochburgen der jemenitischen Regierungstruppen, begann 2020 und hat sich seit Februar 2021 intensiviert. Zivilisten und Vertriebene in Marib sind seit fast zwei Jahren im Fadenkreuz gefangen, einige leiden unter schwerer Entbehrung. Die Houthi greifen wiederholt und scheinbar wahllos zivile Gebiete an und blockieren den Zugang zu humanitärer Hilfe (HRW 24.11.2021).
Seit dem 17.9.2021 sind bei Kämpfen in den Gouvernments Marib und Shabwa mindestens 190 Soldaten ums Leben gekommen, davon rund 130 auf Seiten der Huthi. Die Huthi-Rebellen haben ihren Vormarsch auf die Stadt Marib im September 2021 nochmals intensiviert und griffen nun auch verstärkt aus dem benachbarten Gouvernement Shabwa an, wo sie erst kurz zuvor einige Bezirke erobert hatten. Marib ist die letzte von der Regierung kontrollierte Großstadt im nördlichen Teil des Landes und reich an Öl und Gas (BN 27.9.2021).
Es gab zahlreiche Berichte über willkürliche oder rechtswidrige Tötungen durch derzeitige oder ehemalige Mitglieder der ROYG-Sicherheitskräfte. Politisch motivierte Tötungen durch nichtstaatliche Akteure, einschließlich der Huthi-Truppen, militanter sezessionistischer Elemente und terroristischer und aufständischer Gruppen, die sich zu Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) oder zu einer Tochterorganisation des sogenannten Islamischen Staats (ISIS) bekennen, gab es auch im Laufe des Jahres 2020 (USDOS 30.3.2021).
Seit Oktober 2021 haben die Huthi-Truppen die Kontrolle über die Bezirke Al-Abdiyah und Harib im südlichen Gouvernement Marib übernommen, während die Kämpfe in den Bezirken al-Jubah und Jabal Murad andauern. 93.000 Zivilisten wurden dadurch gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen und in der Stadt Marib im Norden, die bereits zwei Millionen Vertriebene beherbergt, Sicherheit zu suchen. Die Bodenkämpfe zwischen der bewaffneten Huthi-Gruppe und den jemenitischen Regierungstruppen gehen weiter, während die Huthi-Kräfte das Gouvernement von drei Fronten aus umkreisen: von al-Jawf im Norden, al-Baydah im Süden und Sirwah und Nehem im Westen. Der Oktober 2021 war der tödlichste Monat seit Jahren im Gouvernement, mit mehr als 100 Zivilisten, darunter Kinder, die getötet oder verwundet wurden. Am 3.10.2021 haben laut jemenitischer Regierungsbehörden, drei Huthi-Raketen das Viertel al-Rawdah in der Stadt Marib getroffen, die zwei Kinder getötet und 33 Menschen, darunter auch Kinder, verletzt haben (HRW 24.11.2021).“
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Die Sicherheitslage wurde in jüngerer Vergangenheit zudem durch einen mehrmonatigen Waffenstillstand geprägt, über den im Wesentlichen folgende Erkenntnisse bestehen:
„Am 02.04.22 hat in Jemen ein zweimonatiger Waffenstillstand begonnen. Dieser wurde separat mit beiden Kriegsparteien von der UN ausgehandelt, der Beginn fällt auf den ersten Tag des muslimischen Fastenmonats Ramadan. Der Waffenstillstand umfasst ebenfalls eine teilweise Lockerung der saudischen See- und Luftblockade, sodass bereits am 03.04.22 der erste von 18 geplanten Tankern mit Treibstoff den Hafen von Hodeida anlaufen konnte. Daneben sollen wöchentlich bis zu zwei kommerzielle Passagierflüge zwischen Sanaa und Ägypten bzw. Jordanien ermöglicht werden.“ (BAMF, briefing notes vom 4. April 2022).
„Der am 02.04.22 in Kraft getretene Waffenstillstand (vgl. BN v. 04.04.22) hat die Ausweitung von humanitären Hilfsprogrammen ermöglicht. Dennoch kommt es weiterhin zu Kampfhandlungen, insbesondere in der Gegend um die umkämpfte Stadt Marib im gleichnamigen Gouvernement. Als Teil der Waffenruhe wurden im Vorfeld ein Gefangenenaustausch sowie die Öffnung des Flughafens Sanaa für zwei kommerzielle Flugverbindungen pro Woche nach Ägypten und Jordanien vereinbart. Beides wurde bislang nicht umgesetzt, letzteres aufgrund Uneinigkeit bezüglich der Nutzung von durch Houthi-Behörden ausgestellte Reisepässe.“ (BAMF, briefing notes vom 25. April 2022).
„Das am 02.04.22 in Kraft getretene Waffenstillstandsabkommen, welches zunächst für zwei Monate angesetzt war, wurde am 02.06.22 um weitere zwei Monate verlängert. Obwohl die Waffenruhe weitgehend eingehalten wurde, wurden die Kampfhandlungen nicht vollständig eingestellt; mindestens 19 Zivilpersonen, darunter Kinder, wurden bei Kampfhandlungen in den Gouvernements Taizz und al-Dhali getötet. Die Waffenruhe umfasst weitere Vereinbarungen (vgl. BN v. 04.04.22), welche zum Großteil umgesetzt wurden. Eine Ausnahme bildet die Belagerung der Stadt Taizz, die entgegen getroffener Absprachen nicht beendet wurde. Die Stadt Taizz im 7 gleichnamigen Gouvernement ist zweigeteilt: Ein Teil befindet sich unter Kontrolle der Anti-Houthi-Koalition, der andere Teil wird seit 2016 von den Houthis belagert und ist vom Rest des Landes weitgehend abgeschnitten. Gespräche zwischen der jemenitischen Regierung, den Houthis und der UN über das Ende der Belagerung dauern an.“ (BAMF, briefing notes vom 13. Juni 2022).
„Wie am 18.07.22 bekannt wurde, drängt die UN auf eine Verlängerung des aktuellen Waffenstillstands um sechs Monate. Die momentane Waffenruhe war am 02.04.22 für zunächst zwei Monate in Kraft getreten und wurde Anfang Juni 2022 um weitere zwei Monate verlängert; bei Nichtverlängerung endet sie am 02.08.22. Der Waffenstillstand hat zu einem signifikanten Rückgang von Kampfhandlungen geführt, komplett eingestellt wurden diese jedoch zu keinem Zeitpunkt. Zuletzt wurde am 23.07.22 ein Kind getötet und zehn weitere Personen verletzt, als die Houthis ein Wohngebiet in der Stadt Taizz unter Beschuss genommen hatten.“ (BAMF, briefing notes vom 25. Juli 2022).
„Am Dienstag gab der UN-Sonderbeauftragte für Jemen Hans Grundberg bekannt, dass der Waffenstillstand in dem Land um weitere zwei Monate bis zum 2. Oktober verlängert wurde. Die Verlängerung beinhaltet eine Verpflichtung der Regierung und der Houthi-Rebellen, die Verhandlungen zu intensivieren, um so bald wie möglich ein erweitertes Abkommen zu erreichen. (…) Der von den Vereinten Nationen vermittelte Waffenstillstand trat erstmals am 2. April für zunächst zwei Monate in Kraft. Er wurde im Juni um weitere zwei Monate verlängert. Dies markiert die längste Periode relativer Ruhe im Jemen seit mehr als sieben Jahren des Konflikts. Zu den im vergangenen Monat gemeldeten Errungenschaften gehörten eine 60-prozentige Verringerung der zivilen Opfer und eine fast 50-prozentige Verringerung der Vertreibungen. Darüber hinaus sind 26 Treibstoffschiffe in Hudaydah eingelaufen, und es gab 36 Hin- und Rückflüge zwischen Sanaa und Jordaniens Hauptstadt Amman und Kairo, Ägypten. Grundberg betonte, dass das Hauptziel des Waffenstillstands weiterhin darin bestehe, der Zivilbevölkerung konkrete Hilfe zu leisten und ein günstiges Umfeld für eine friedliche Beilegung des Konflikts durch einen umfassenden politischen Prozess zu schaffen.“ (UNRIC - Regionales Informationszentrum der Vereinten Nationen, Waffenstillstand im Jemen um weitere zwei Monate verlängert, 3. August 2022, Internetveröffentlichung: https://unric.org/de/030822-jemen).
„Die am 02.04.22 durch die UN vermittelte Waffenruhe ist zum 02.10.22 ausgelaufen, eine Verlängerung konnte nicht erzielt werden. Die Houthis und die international anerkannte Regierung machen sich gegenseitig für die Nichtverlängerung verantwortlich. Streitpunkte waren Berichten zufolge u.a. die Gehälter von Angestellten im öffentlichen Dienst im Allgemeinen und die Bezahlung von Polizei- und Militärstreitkräften im Speziellen. Die international anerkannte Regierung verlangt zudem ein Ende der Blockade der Stadt Taizz durch die Houthis, diese wiederum fordern die uneingeschränkte Öffnung des Flughafens Sanaa sowie des Hafens von Hodeida. Beide waren im Zuge der Waffenruhe teilweise geöffnet worden. Die UN bemüht sich weiterhin um eine erneute Waffenruhe. Unterdessen haben die Kriegsparteien ihre Truppen in den Gouvernements Marib und Taizz verstärkt, in den Gouvernements al-Dhali und Lahij kam es zu ersten Gefechten; in Lahij kamen dabei insgesamt acht Soldaten beider Seiten ums Leben.“ (BAMF, briefing notes vom 10. Oktober 2022).
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Hinsichtlich der humanitären Situation im Jemen führt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung am 17.12.2021, S. 41 ff.) im Wesentlichen aus:
„Die humanitäre Lage im Jemen sei niemals schlimmer gewesen als jetzt. Laut UN droht eine Hungersnot. Mehr als 20 Millionen Jemeniten benötigen humanitäre Hilfe und Schutz. Zwei von drei Menschen im Jemen benötigen Nahrungsmittelhilfe, medizinische Versorgung oder andere lebensrettende Unterstützung durch humanitäre Organisationen. Rund 400.000 Mädchen und Buben unter fünf Jahren seien unterernährt, denen Tod droht, wenn sie keine Hilfe bekommen (ARD 1.3.2021). Die Konfliktparteien behindern die Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten, Kraftstoff und anderen Gütern, die für das Überleben der Bevölkerung unabdingbar sind, und die bewaffnete Gruppe der Huthi schränkt die Arbeit humanitärer Hilfsorganisationen weiterhin willkürlich ein. Die internationalen Finanzmittel für humanitäre Hilfe waren 2020 nur noch halb so hoch wie im Vorjahr. Dies verschärft auch die Nahrungsmittelknappheit und wirkt sich negativ auf die Trinkwasser-, Sanitär- und Gesundheitsversorgung der Bevölkerung aus (AI 7.4.2021). Der Konflikt und die Unsicherheit haben die jemenitische Wirtschaft schwer getroffen. Ein erfolgreicher Wiederaufbau nach dem Konflikt wird kostspielig sein - und da die inländischen Gesamteinnahmen weniger als 5% des BIP betragen (Weltbank, 2020) - muss ein Großteil dieses Geldes aus privaten und externen Quellen kommen. Eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung erfordert einen effektiven und gesunden Privatsektor, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (UNDP 23.11.2021). Jemen ist seit Jahren das ärmste Land im Nahen Osten und Nordafrika (MENA) und leidet nun unter der schlimmsten humanitären Krise der Welt. Die seit 2015 anhaltenden Kämpfe haben die Wirtschaft des Landes verwüstet, was zu einer ernsten Ernährungsunsicherheit geführt und wichtige Infrastrukturen zerstört hat. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen waren im Jahr 2021 24,3 Millionen Menschen von Hunger und Krankheit bedroht, von denen etwa 14,4 Millionen akut auf Hilfe angewiesen waren. Hinzu kommt, dass etwa 20,5 Millionen Jemeniten ohne sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen leben und 16,2 Millionen Menschen aufgrund von Ernährungsunsicherheit und Unterernährung dringend Nothilfe benötigen. Wellen von Währungsabwertungen in den Jahren 2018 und 2019 haben zu einem anhaltenden Inflationsdruck auf den jemenitischen Riyal geführt, der die humanitäre Krise noch verschärft hat. Die Unterbrechung der Infrastruktur und der Finanzdienstleistungen hat die Tätigkeit des Privatsektors stark beeinträchtigt. Für mehr als 40% der jemenitischen Haushalte ist es schwierig auch nur das Nötigste an Lebensmitteln zu kaufen. Die Armut verschlimmert sich; während sie vor der Krise fast die Hälfte der rund 29 Millionen Einwohner des Jemen betraf, sind jetzt schätzungsweise drei Viertel davon betroffen - 71% bis 78% der Jemeniten. Frauen sind stärker betroffen als Männer (WB 1.11.2021). Im Rahmen einer Geberkonferenz am 23.9.2021 wurden weitere 600 Mio. USD an Hilfsmitteln für Jemen zugesagt, nachdem im März bereits 1,7 Mrd. USD an Hilfszusagen zusammengekommen waren. Benötigt werden laut UN-Generalsekretär Guterres jedoch insgesamt 3,85 Mrd. USD, somit bleibt nach wie vor eine Finanzierungslücke von über 1 Mrd. USD bestehen. Das Welternährungsprogramm hat im Rahmen der Geberkonferenz berichtet, dass Nahrungsmittelhilfen im Oktober 2021 gekürzt werden müssen, sollten keine neuen Gelder bereitgestellt werden. 16 Mio. Menschen im Jemen wären dann von Hunger bedroht (BN 27.9.2021). Die Machtergreifung der Huthi, die Luftangriffe der Koalition und die aktiven Kämpfe machten es für humanitäre Organisationen aufgrund von Sicherheitsrisiken schwierig, viele Gebiete des Landes zu erreichen (USDOS 30.3.2021). Auch die Versorgungssituation in den Flüchtlingscamps verschlechtert sich zusehends (BN 29.11.2021).“
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Das Auswärtige Amt beschreibt die Auswirkungen des Konflikts auf Zivilpersonen im Jemen, insbesondere in der Region Aden, in seiner Anfragebeantwortung gegenüber dem Verwaltungsgericht Leipzig (AA vom 18.6.2020) wie folgt:
„Bereits vor Ausbruch des aktuellen Konflikts vor fünf Jahren war Jemen das ärmste Land auf der Arabischen Halbinsel und im weltweiten·Vergleich einer der am wenigsten entwickelten Staaten. Die Verfügbarkeit von Lebensmitteln ist in Aden gegeben und im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ gut. Jedoch sind diese in ganz Jemen für viele nicht oder nur sehr eingeschränkt bezahlbar. Die Wasser- und Stromversorgung fällt häufig aus, auch die medizinische Versorgung befindet sich auf dem Niveau eines armen Entwicklungslandes. Die Situation hat sich durch die Verbreitung von Covid-19, insbesondere in Aden, weiter verschärft. Humanitäre Hilfe spielt in allen Landesteilen eine große Rolle. Angesichts des politisch und geographisch bedingten leichteren Zugangs zu den südlichen Landesteilen Jemens und insbesondere der Region Aden, werden dort Bedürftige mit großer Wahrscheinlichkeit erreicht. In Jemen herrscht weit verbreitete Arbeitslosigkeit, auch in der Region Aden.
Allgemein gilt, dass sich der Arbeitsmarkt sowohl für ungelernte als auch für ausgebildete Arbeitskräfte schwierig darstellt. Soziale Sicherungssysteme bestehen nicht. Vielmehr ist es üblich, dass Arbeitslose innerhalb der Großfamilien finanziell aufgefangen und mitfinanziert werden. Zuverlässige Statistiken bzgl. der Arbeitslosenzahlen gibt es für Jemen nicht. Im Süden verdingen sich junge Männer, die keine Arbeit finden, häufig bei Milizen.“
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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge führte zur humanitären Lage in den „briefing notes“ vom 4. Juli 2022 aus:
„Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) hat am 26.06.22 bekannt gegeben, die Lebensmittelrationen in Jemen weiter reduzieren zu müssen. Für rd. fünf Mio. Personen werden nun weniger als 50% der empfohlenen täglichen Nahrungsmittelzufuhr bereitgestellt, weitere acht Mio. Menschen erhalten ab sofort nur noch 25% der täglichen empfohlenen Ration. Als Grund gab das WFP u.a. die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs sowie fehlende Finanzierung an. Bereits im Januar 2022 musste das WFP aufgrund unzureichender Finanzierung die Lebensmittelrationen in Jemen reduzieren (vgl. BN v. 03.01.22).“
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In den „briefing notes“ des Bundesamts vom 18. Juli 2022 heißt es weiter:
„Am 15.07.22 teilte Hossam Elsharkawi, Regionaldirektor der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC), mit, dass sich die humanitäre Situation seit dem Waffenstillstand nicht verbessert habe. Dies liege vor allem an den gestiegenen Preisen für Lebensmittel, welche durch den Krieg in der Ukraine verursacht werden. Er machte in diesem Zusammenhang auch auf die vulnerable Lage von Kindern aufmerksam, welche zum Teil bereits aufgrund von Mangelernährung sterben. Zudem wies er auf die aktuelle Problematik von verunreinigtem Trinkwasser hin; dies sei seit einigen Wochen eines der Hauptprobleme in Jemen.“
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Ausgehend von diesen schlechten humanitären Bedingungen kann der Kläger unter Berücksichtigung seiner individuellen Lebensverhältnisse ein Abschiebungsverbot nach Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK beanspruchen. Dabei geht das Gericht zwar nicht davon aus, dass derzeit für jeden alleinstehenden jungen Mann eine Rückkehr in den Jemen zwangsläufig aus humanitären Gründen ausgeschlossen ist. Im Einzelfall des Klägers ist jedoch zum einen zu berücksichtigen, dass die tatsächlichen Chancen für ihn, eine zur Finanzierung seines Existenzminimums auskömmliche (Gelegenheits-)Arbeit zu finden, als sehr schlecht einzustufen sind. Entsprechendes hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch nachvollziehbar dargestellt. Zu den bereits allgemein schlechten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt tritt hinzu, dass der Kläger neben seiner eigenen Person auch seine Ehefrau und zwei minderjährige Kinder, die nach den vorstehenden Erkenntnismitteln der schlechten humanitären Situation in besonders gravierender Weise ausgesetzt sind, mitzuversorgen hat. Der Kläger hat zudem in glaubhafter Weise erhebliche Schwierigkeiten bei der Finanzierung der gemeinsamen Mietswohnung und der medizinischen Behandlung seines krebskranken Bruders geschildert. Ferner hat der Kläger überzeugend dargestellt, dass er sich infolge der Ausreise verschulden musste und dass seine Familie auf internationale Hilfsorganisationen angewiesen war. Nach den Erkenntnissen in der mündlichen Verhandlung erscheint es sehr zweifelhaft, dass der Kläger eine auskömmliche Hilfe durch Familienangehörige oder von Dritter Seite erhalten wird. Da die wirtschaftliche Situation im Jemen landesweit vergleichbar schlecht ist, kann der Kläger auch nicht auf einen anderen Landesteil verwiesen werden (vgl. VG Leipzig, U.v. 26.1.2022 - 8 K 1880/19.A - n.v.). Die ihm im Ergebnis der Gesamtbetrachtung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit drohende Verelendung kann auch nicht durch denkbare Rückkehrhilfen kompensiert werden. Da im hiesigen Einzelfall somit ausreichende Anhaltspunkte für eine Verelendung und existenzielle Bedrohung des Klägers bestehen, ist von einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auszugehen.
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2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG. Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
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2.1. Dem Kläger droht nach Überzeugung des Gerichts nicht die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG. Er hat hierzu bereits keine Tatsachen vortragen lassen.
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2.2. Der Kläger hat auch nicht aufzeigen können, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden durch Folter oder durch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht.
28
Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die zuletzt genannte Vorschrift der Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (ABl L 337, S. 9) - QRL - dient, ist dieser Begriff jedoch in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b QRL auszulegen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) legt Art. 15b QRL wiederum in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zu Art. 3 EMRK aus (z.B. EuGH, U.v. 17.2.2009 - Elgafaji, C - 465/07 - juris Rn. 28; ebenso BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris Rn. 22 ff. m.w.N.). Danach ist eine unmenschliche Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden (EGMR, U.v. 21.1.2011 - 30696/09 - ZAR 2011, 395, Rn. 220 m.w.N.), die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen (EGMR, U.v. 11.7.2006 - Jalloh, 54810/00 - NJW 2006, 3117, 3119). Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen. Eine Bestrafung oder Behandlung ist nur dann als unmenschlich oder erniedrigend anzusehen, wenn die mit ihr verbundenen Leiden oder Erniedrigungen über das in der Bestrafungsmethode enthaltene, unausweichliche Leidens- oder Erniedrigungselement hinausgehen, wie z.B. bei bestimmten Strafarten wie Prügelstrafe oder besonders harten Haftbedingungen. In der mündlichen Verhandlung am 17. November 2022 hat der Kläger keine relevanten individuellen Fluchtgründe vorgetragen. Soweit er auf den Übergriff auf seine Person als Demonstrant im Jahr 2015 - so die Angabe des Klägers vor dem Bundesamt - bzw. 2016 - so die Einlassung des Klägers in der mündlichen Verhandlung - rekurriert, fehlt es schon an einer zielgerichteten Verfolgungshandlung gegen seine Person und überdies am Kausalzusammenhang zu seiner erst Jahre später erfolgten Ausreise. Auch hinsichtlich einer ihm drohenden Zwangsrekrutierung durch die Houthi-Milizen hat der Kläger nichts Konkretes vorgebracht. Es liegt nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Gesamteindruck viel näher, dass der Kläger aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage und humanitären Situation den Jemen verlassen hat. Das Vorbringen ist somit nicht geeignet, eine Situation aufzuzeigen, die für den Kläger eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG erwarten lässt.
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2.3. Dem Kläger droht auch keine individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.
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Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht. Der (zwischen den Beteiligten unstreitigen) Frage nach dem Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts muss nicht weiter nachgegangen werden, denn es fehlt jedenfalls an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt.
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Für die Feststellung zur Gefahrendichte sind nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen und der Akte willkürlicher Gewalt, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung erforderlich. Hierbei sind nicht nur solche Gewaltakte zu berücksichtigen, die die Regeln des humanitären Völkerrechts verletzen, sondern auch andere Gewaltakte, die wahllos ausgeübt werden und sich auf Zivilpersonen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 4.09 - juris). Zur wertenden Betrachtung gehört jedenfalls auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris). Bei einer Gefahrendichte von 1:800 (= 0,125%) kann dabei im Ausgangspunkt noch nicht von einem hinreichenden Ausmaß willkürlicher Gewalt ausgegangen werden, die eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines ernsthaften Schadens feststellbar werden ließe (vgl. BVerwG, U.v. 17.11. 2011 - 10 C 13.10 - juris). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann allein das Fehlen der Feststellung einer bestimmten Mindestschwelle des Anteils der Opfer an der Gesamtbevölkerung nicht ausreichen, um systematisch und unter allen Umständen die Gefahr einer solchen Bedrohung auszuschließen (EuGH, U.v. 10.6.2021 - C-901/19 - juris). Vielmehr sind alle relevanten Umstände des Einzelfalls umfassend zu berücksichtigen, insbesondere diejenigen, die die Situation des Herkunftslandes des Ausländers kennzeichnen. Konkret fallen darunter insbesondere die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts sowie das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, die eventuell mit Absicht erfolgt (EuGH, U.v. 10.6.2021 - C-901/19 - juris).
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Gemessen an diesen Maßstäben ist aktuell nicht von einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts bei einer Rückkehr in den Jemen auszugehen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung liegt im Herkunftsland des Klägers zwar - wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt - insgesamt eine sehr schlechte Sicherheitslage vor. Diese führt jedoch nicht dazu, dass jedem Angehörigen der Zivilbevölkerung im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Eintritt eines ernsthaften Schadens feststellbar wäre. Die Angaben in den oben bereits genannten Erkenntnismitteln enthalten keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass alle Zivilpersonen in der in den Blick zu nehmenden Zielregion des Klägers - hier voraussichtlich die von den Huthi-Milizen kontrollierte Region Sanaa, bestehend aus der Hauptstadt Sanaa mit ca. 2,5 Mio. Einwohnern und dem Gouvernement Sanaa mit ca. 1,3 Mio. Einwohnern - aufgrund ihrer bloßen Anwesenheit jederzeit und mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit von willkürlichen Gewalthandlungen betroffen sein können. Aus den Erkenntnismitteln lassen sich aktuelle, systematische Angaben zur Anzahl der Opfer und zur Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung - differenziert nach Regionen - nicht bzw. nur ansatzweise (vgl. insbesondere OCHA, Humanitarian Response Plan, Stand: 16.3.2021, S. 11: in ganz Jemen mehr als 2.000 zivile Tote oder Verletzte im Jahr 2020) entnehmen; ausgehend davon lässt sich auch unter Berücksichtigung einer Dunkelziffer keine hinreichende Anzahl an Akten willkürlicher Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung in der Heimatregion des Klägers feststellen. Im Rahmen der anzustellenden Gesamtbetrachtung ist weiter zu berücksichtigen, dass die Kampfhandlungen in der Heimatregion des Klägers aktuell keine derartige Intensität aufweisen, dass mit ausreichender Wahrscheinlichkeit von einer individuellen Betroffenheit eines jeden Zivilisten auszugehen ist. Hinzu kommt, dass die Situation im Jemen nach einer andauernden Konfliktdauer von ca. sieben Jahren und den damit einhergegangenen Kampfhandlungen, die sich teils auch gegen die Zivilbevölkerung richteten, auch durch einen von April bis Oktober 2022 andauernden Waffenstillstand geprägt worden ist. Trotz wiederholter Verstöße gegen die Feuerpause bzw. trotz wiederholter sicherheitsrelevanter Vorfälle - auch in der genannten Region Sanaa (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Jemen, Gesamtaktualisierung am 17.12.2021, S. 17, BAMF, briefing notes vom 28.3.2022 und vom 30.5.2022) - waren in den letzten Monaten keine größeren Militäreinsätze und keine wesentlichen Verschiebungen der Fronten zu verzeichnen. Auch nach Ablauf des Abkommens Ende Oktober 2022 bestehen keine hinreichenden Erkenntnisse darüber, in der Heimatregion des Klägers mit derart massiven Kampfhandlungen zu rechnen wäre, die eine hinreichend verdichtete Gefahrlage für die Zivilbevölkerung begründen könnte. Entsprechend lässt sich in der Heimatregion des Klägers trotz schlechter Sicherheitslage (vgl. vorstehenden Ausführungen) und trotz schlechter medizinischer Versorgungssituation (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Jemen, Gesamtaktualisierung am 17.12.2021, S. 43) anhand der verfahrensgegenständlichen Erkenntnismitteln die erforderliche Gefahrendichte nicht festmachen und ist von der Klägerseite auch nicht aufgezeigt worden. Vielmehr resultiert die insgesamt schlechte Situation nach den einschlägigen Erkenntnismitteln in allererster Linie nicht unmittelbar aus den Kriegshandlungen, sondern aus den aufgezeigten massiven humanitären - d.h. indirekten - Folgen des kriegerischen Konflikts für die Bevölkerung (in diesem Sinne auch VG Leipzig, U.v. 26.1.2022 - 8 K 1880/19.A - n.v.; vgl. auch VG Ansbach, U.v. 26.6.2020 - AN 17.32236 - juris m.w.N.; a.A. VG Schleswig-Holstein, G.v. 20.12.2021 - 9 A 90/21 - juris; B.v. 17.6.2021 - 9 A 114/20 - juris).
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Individuelle gefahrerhöhende Umstände in der Person des Klägers, die zu einer abweichenden Beurteilung führen könnten, sind nicht erkennbar.
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3. Im Ergebnis war der Klage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK unter Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des streitgegenständlichen Bescheids stattzugeben und die Klage im Übrigen abzuweisen.
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.