Inhalt

VG München, Beschluss v. 15.12.2022 – M 3 S 22.50694
Titel:

Dublin-Verfahren (Zypern)

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Eine Rücküberstellung nach Zypern kommt derzeit nicht in Betracht, denn es liegen hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Zypern systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Zielstaat Zypern, Nichtvulnerabler Personenkreis, Systemische Mängel (bejaht), Drohende Obdachlosigkeit über erheblichen Zeitraum, Abschiebungsanordnung, Zypern, Rücküberstellung, Dublin-Rückkehrer, Aufnahmebedingungen, systemische Schwachstellen, Obdachlosigkeit, Existenzminimum
Fundstelle:
BeckRS 2022, 38079

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 30. November 2022 mit dem Aktenzeichen M 3 K 22.50693 wird hinsichtlich Nr. 3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 22. November 2022 mit dem Gesch.-Z.: … angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
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Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Zypern im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
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Der Antragsteller erhob am 30. November 2022 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid vom 22. November 2022, zugestellt am 23. November 2022, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 3 K 22.50693) und beantragt zugleich,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Zypern anzuordnen.
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Zur Begründung wird vorgetragen, es sei ausdrücklich im Flughafenverfahren vorgegangen worden. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig sei in § 18a AsylG nicht vorgesehen. Das Bundesamt hätte nicht offenlassen dürfen, ob § 29 Abs. 1 Satz 1 AsylG oder § 29 Abs. 1 Satz 5 AsylG gegeben sei. Der Bescheid bestehe ganz überwiegend aus Textbausteinen. Der Antragsteller habe in seiner Anhörung vorgetragen, dass sein Asylantrag in Zypern abgelehnt worden sei. Ein Asylverfahren könne nur als erfolglos abgeschlossen behandelt werden, wenn eine Wiederaufnahme des Verfahrens nicht möglich sei. Hierzu fehlten im Bescheid jegliche Ausführungen. Das zypriotische Rechtssystem weise schwerwiegende Mängel auf, wie ein beigefügtes Urteil bestätige. Der Kläger habe ohne Unterkunft, Verpflegung und Arbeitserlaubnis auf der Straße leben müssen. Es sei nicht auszuschließen, dass derzeit einem nach Zypern zu überstellenden Asylbewerber eine Situation extremer materieller Not drohe, in der die Befriedung der elementarsten Grundbedürfnisse nicht mehr gewährleistet sei.
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Die Antragsgegnerin legte die Behördenakten vor und beantragt
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den Antrag abzulehnen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Feststellungen des streitgegenständlichen Bescheides, denen gefolgt wird, verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG) sowie auf die Gerichtsakten beider Verfahren und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
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Der Antrag gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig und begründet.
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Entfaltet ein Rechtsbehelf - wie hier (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) - von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Sofern die Klage dagegen bei summarischer Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein wird, tritt das Interesse an der sofortigen Vollziehung zurück.
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Gemessen an diesen Maßstäben geht die Interessenabwägung im vorliegenden Fall zugunsten des Antragstellers aus. Nach summarischer Prüfung wird seine Klage gegen die Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid voraussichtlich Erfolg haben. An der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen bei summarischer Prüfung im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 HS. 2 AsylG) Zweifel.
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Zwar ist die Antragsgegnerin aufgrund des Eurodac-Ergebnisses nach kursorischer Prüfung im Ausgangspunkt zutreffend von einer Zuständigkeit Zyperns in Bezug auf den in der Bundesrepublik Deutschland gestellten Asylantrag des Antragstellers ausgegangen.
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Aber vorliegend ist die Zuständigkeit nach summarischer Prüfung gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, (Dublin III-VO) auf die Antragsgegnerin übergegangen, weil eine Überstellung an Zypern als den zuständigen Mitgliedstaat an Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO scheitern würde. Denn es liegen hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Zypern systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen.
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Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 - juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 - juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris). Der bloße Umstand, dass in der Bundesrepublik die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im schutzgewährenden Mitgliedstaat, kann nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die tatsächliche Gefahr einer grundrechtsverletzenden Behandlung besteht (vgl. EuGH, U. v. 19.3.2019 - C-297/17 [Ibrahim] - juris Rn. 93 f.).
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Es muss weiter unterschieden werden zwischen gesunden und arbeitsfähigen Schutzberechtigten einerseits, für die eine „harte Linie“ gilt, sowie vulnerable Personen andererseits (also insbesondere Kinder, unbegleiteten Minderjährige, Hochschwangere, erheblich kranken oder behinderten Menschen), bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass sie unabhängig vom eigenen Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten, wesentlich größer ist. So ist jedenfalls bei kleineren Kindern aufgrund einer besonderen Vulnerabilität eine Obdachlosigkeit auch nicht vorrübergehend hinnehmbar (vgl. VGH Mannheim, U. v. 7.7.2022 - A 4 S 3696/21 - juris Rn. 40, 47).
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Jedenfalls bei ernsthaften Zweifeln, ob Aufnahmebedingungen im Mitgliedsstaat nach diesen Maßstäben gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK verstoßen, muss die Beurteilung auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach ausreichenden tatsächlichen Grundlage beruhen. So kann es sowohl verfassungs- als auch europa- und konventionsrechtlich geboten sein, dass Informationen über die Verhältnisse in einem anderen Staat und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden eingeholt werden (vgl. BVerfG, B. v. 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 15 f.).
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Gemessen an diesen Maßstäben ist diese Vermutung im konkreten Fall nach summarischer Prüfung erschüttert, da dem Antragsteller bei einer Rücküberstellung nach Zypern aus den vorliegenden Erkenntnissen eine längere Periode der Obdachlosigkeit und damit einhergehend eine konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK droht.
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Das Gericht geht vorliegend - wie auch das Bundesamt - hierbei davon aus, dass der Antragsteller sich noch im laufenden Asylverfahren in Zypern befindet. Auf eine entsprechende Anfrage des Bundesamts an Zypern (Bl. 117 der Behördenakte), wurde nichts Gegenteiliges mitgeteilt (Bl. 121 der Behördenakte). Der Vortrag des Klägers, sein Asylantrag sei bereits abgelehnt worden, ist nachweislos geblieben. Er hätte aber spätestens im vorliegenden Verfahren einen entsprechenden Nachweis vorlegen müssen und können, insbesondere da sich auch der streitgegenständliche Bescheid (Seite 5) explizit auf den fehlenden Nachweis bezieht.
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Die jüngere, nationale verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung geht in Bezug auf Zypern davon aus, dass eine Rücküberstellung derzeit nicht in Betracht kommt (VG Hannover, B.v. 26.8.2022 - 2 B 3362/22 - juris; VG Bremen, B.v. 3.5.2022 - 1 V 187/22 - juris; VG Köln, U.v. 28.1.2021 - 20 K 14780/17.A - juris in sog. Drittstaatenkonstellationen). Die europäische Rechtsprechung zum Thema zeigt sich - soweit ersichtlich - uneinheitlich (eine Rücküberstellung ablehnend: Rechtbank Den Haag, E.v. 31.3.2021 - NL 21.2036 - abrufbar unter https://deeplink.rechtspraak.nl/uitspraak?id=ECLI:NL:RBDHA:2021:3434; E.v. 15.12.2021 - NL 21.17448 - abrufbar unter https://deeplink.rechtspraak.nl/uitspraak?id=ECLI:NL:RBDHA:2021:14245; a.A. Raad van State, E.v. 9.2.2021 - 201908789/1/V3 - abrufbar unter https://caselaw.euaa.europa.eu/pages/viewcaselaw.aspx?CaseLawID=2561; Kærunefnd útlendingamála, E.v. 24.8.2022 - KNU22060025 - abrufbar unter https://caselaw.euaa.europa.eu/pages/viewcaselaw.aspx?CaseLawID=2803).
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Zypern gehört zu den EU-Ländern, in denen bezogen auf die Bevölkerungszahl die höchste Zahl von Flüchtenden Asylerstanträge stellt und dies mit steigender Tendenz. Waren es im Jahr 2018 noch 7.761 Erstanträge, so stieg die Zahl im Jahr 2019 auf 13.259. Im Jahr 2021 stieg der Prozentsatz der Neuankömmlinge auf 90% gegenüber den bereits im Land befindlichen Antragstellern, die 10% der Asylbewerber ausmachten. Die steigende Zahl von Asylsuchenden hat zu einer Verschärfung der bereits zuvor bestehenden Probleme bei den Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen geführt. Die Gesamtzahl der Asylbewerber hat im Jahr 2021 16.000 erreicht, während die Kapazität der Aufnahmezentren auf etwa 2.500 Personen begrenzt ist (AIDA - Asylum Information Database, Cyprus Refugee Council (CRC, Autor), veröffentlicht von: European Council on Refugees and Exiles (ECRE), Stand: April 2021, S. 76)
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Bei Dublin-Rückkehrern, die noch keine abschließende Entscheidung in ihrem Asylverfahren erhalten haben, wird das Verfahren fortgesetzt. Sie haben dementsprechend ein Recht auf materielle Versorgung (Unterbringung, Verpflegung, Kleidung und ein Taggeld). Haben sie keine eigene Unterbringungsmöglichkeit werden sie in das offene Unterbringungszentrum für Asylwerber Kofinou gebracht, falls dort Plätze verfügbar sind (AIDA, Stand: April 2021, S. 51). Da dieses einzige ständige Aufnahmezentrum für Asylbewerber nur über eine geringe Kapazität zwischen 300 und 400 Plätzen verfügt, die vornehmlich mit vulnerablen Personengruppen belegt werden, (CRC, Addressing housing needs of vulnerable asylum seekers, S. 7) und nach wie vor voll belegt ist (US Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2021 - Cyprus, S. 20), müssen sich die meisten Asylbewerber eine private Unterbringung suchen. Dafür können sie beim Sozialamt der zuständigen Wohnsitzgemeinde materielle Versorgung beantragen, deren Zuerkennung etwa 2-3 Monate (bzw. 2-6 Monate laut AIDA, Stand: April 2021, S. 51) dauert und für die einige administrative Hürden zu nehmen sind (Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen, Länderinformationsblatt Zypern, Stand 14. Januar 2022, S. 11).
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Die materielle Versorgung für Asylbewerber - für den Antragsteller als alleinstehenden Mann maximal insgesamt 361,- € - gewährleistet nach Auskunft verschiedener Quellen (NGO, UNHCR, Bürgerbeauftragter, Kommissar für die Rechte des Kindes) keinen würdigen Lebensstandart (AIDA, Stand: April 2021, S. 79 m.w.N.).
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Zudem arbeiten die zypriotischen Sozialdienste nicht effizient, so dass viele Menschen ohne grundlegenden Dinge wie Lebensmittel, Mietzuschüsse oder medizinische Versorgung bleiben (Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen, Länderinformationsblatt Zypern, Stand 14. Januar 2022, S. 12). Viele Asylwerber, einschließlich Familien mit Kindern, leben in Armut und sind stark auf Wohltätigkeitsorganisationen angewiesen, um Grundbedürfnisse wie Nahrung zu decken (Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen, Länderinformationsblatt Zypern, Stand 14. Januar 2022, S. 12).
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Insbesondere die Beschaffung von Wohnraum gestaltet sich für Asylbewerber schwierig. Zum einen bestehen praktische Schwierigkeiten bei der Beschaffung bestimmter Voraussetzungen wie Mietvertrag, Kaution und/oder Vorschusszahlungen, die nicht von den Sozialdiensten übernommen werden, zum anderen hat der rasche Anstieg der Nachfrage nach Wohnraum in städtischen Gebieten zu einem starken Anstieg der Mietpreise geführt, wodurch die Kluft zwischen den zugewiesenen Ressourcen und den Mietpreisen noch größer wird (AIDA, Stand: April 2021, S. 80 f.). So hat die Kombination aus einer strikt restriktiven Politik in Bezug auf den finanziellen Beitrag des Staates und einem starken Anstieg der Mieten sowie die hohe Zahl der Neuankömmlinge zu einem besorgniserregenden Problem der Obdachlosigkeit geführt; dieses wird verschärft durch die derzeitigen Praxis des Sozialamtes, Unterbringungsmaßnahmen nur für sehr wenige, besonders schutzbedürftige Personen durchzuführen (Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen, Länderinformationsblatt Zypern, Stand 14. Januar 2022, S. 15 m.w.N.).
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Die Mehrheit der Asylbewerber verfügt über keine angemessene Unterkunft oder ist gar von Obdachlosigkeit und Mittellosigkeit betroffen. Berichten zufolge schlafen viele Asylbewerber in Parks unter freiem Himmel oder vorübergehend bei Freunden, Verwandten oder Fremden, wobei sie oft auf dem Boden schliefen und keinen angemessenen Zugang zu Hygieneeinrichtungen hätten (US Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2021 - Cyprus, S. 20).
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Hinzu kommt, dass es in Zypern mit Ausnahme von wenigen kleinen, regionalen Wohnungsbauprogrammen, die auf eine sehr geringe Anzahl von schutzbedürftigen Personen abzielen, auch keine offizielle nationale Strategie zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit in der allgemeinen Bevölkerung gibt. Dies bedeutet, dass es an Überwachungs- und Meldemechanismen mangelt mit der Folge, dass Obdachlosigkeit nur begrenzt sichtbar ist und nur wenige tatsächlichen Fälle gemeldet werden (CRC, Addressing housing needs of vulnerable asylum seekers, S. 4). So gibt es keine staatlichen Obdachlosenunterkünfte in Zypern, lediglich einige NGO bieten solche Unterkünfte, allerdings mit sehr begrenzter Kapazität und für begrenzte Zeiträume, an (CRC, Addressing housing needs of vulnerable asylum seekers, S. 8).
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Deshalb ist zum entscheidungserheblich Zeitpunkt davon auszugehen, dass dem Antragsteller aufgrund der administrativen Schwierigkeiten in Zypern und dem damit einhergehenden Ausbleiben materieller Versorgungsbezüge mindestens eine 2-monatige Obdachlosigkeit droht. Zwar kann ihm speziell als nicht-vulnerable Person zugemutet werden, zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz auf - alleinige oder ergänzende - dauerhafte Unterstützungs- oder Hilfeleistungen von vor Ort tätigen nichtstaatlichen Institutionen oder Organisationen zurückzugreifen (BVerwG U.v. 7.9.2021 - 1 C 3.21 - BeckRS 2021, 42834 Rn. 22); allerdings ist in Bezug auf die Unterbringung eine solche Unterstützung für den Antragsteller nicht ersichtlich.
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Art. 3 EMRK verpflichtet nicht, jeder der Hoheitsgewalt unterstehenden Person ein Recht auf Unterkunft zu garantieren, (EGMR, U.v. 2.7.2020 - 28820/13 u.a. - NVwZ 2021, 1121 Rn. 160). Eine Pflicht der Mitgliedstaaten, eine Unterbringung zu gewähren, besteht aber, wenn positives Recht vorschreibt, dass bedürftigen Asylbewerber Unterkunft und angemessene materielle Bedingungen gewährt werden müssen. Ein solches ergibt sich aus der in staatliches Recht übernommenen RL 2003/09/EG des Rates vom 27.1.2003 zur Festsetzung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (EGMR, U.v. 2.7.2020 - 28820/13 u.a. - NVwZ 2021, 1121 Rn. 161).
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Aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt sich, dass die extreme Armut eines Asylbewerbers, der mehrere Monate seine elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigen konnte, sich nicht ernähren, nicht waschen konnte und obdachlos war, Art. 3 EMRK verletzt hat (s. EGMR, U.v. 2.7.2020 - 28820/13 u.a. - NVwZ 2021, 1121 Rn. 164; U.v. 21.1.2011 - 30696/09 - NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 - 8319/07 - NVwZ 2012, 681). Der letzte Punkt bezieht sich insbesondere auf die im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistung einer Unterbringung.
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Um in der konkreten Situation des Antragstellers eine beachtlich wahrscheinliche Obdachlosigkeit über einen erheblichen Zeitraum hinweg und damit eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung nach Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK nach einer Rückführung nach Zypern hinreichend sicher ausschließen zu können, ist aufgrund ernstlicher Zweifel an der derzeitigen tatsächlichen Belastbarkeit des zypriotischen Unterbringungssystems für Asylbewerber erforderlich, dass durch Kooperation mit den zypriotischen Behörden - im Einzelfall oder auch durch eine allgemeine Erklärung der zuständigen Behörden - sichergestellt sein muss, dass bei einer Rückführung eine angemessene Unterbringung - bei Mitwirkung des Asylbewerbers- zeitnah erfolgt. Dies liegt derzeit nicht vor.
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Somit kann der Antrag des Antragstellers nach der aktuellen Sachlage nicht in rechtmäßiger Weise als unzulässig abgelehnt werden.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).