Titel:
Vorläufiger Rechtsschutz gegen Ausweisungsverfügung
Normenketten:
AufenthG § 11 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1, § 53 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5
Leitsatz:
Die seit 2019 gültige Neufassung des § 11 Abs. 1 und 2 AufenthG, wonach ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gesondert angeordnet werden muss, ändert nichts daran, dass in einer behördlichen Befristungsentscheidung (§ 11 Abs. 2 S. 1 AufenthG (idF bis zum 20.8.2019)) regelmäßig auch die Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots von bestimmter Dauer zu sehen ist. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Ausweisung, Erhebliche Straffälligkeit, Betäubungsmittelkriminalität, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Befristung, erhebliche Straffälligkeit, einheitlicher Verwaltungsakt
Fundstelle:
BeckRS 2022, 38059
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,-- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland sowie die Anordnung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes.
2
Er ist …ischer Staatsangehöriger, wurde 1991 in …, …, geboren und reiste eigenen Angaben zufolge erstmals am … … 2015 in das Bundesgebiet ein, nachdem er zuvor bereits in Griechenland erfolglos ein Asylverfahren betrieben hatte. Sein beim Bundesamt für Migration (Bundesamt) gestellter Asylantrag wurde mit Bescheid vom 11. August 2017 als unzulässig abgelehnt. Klage- und Eilverfahren blieben erfolglos (M 23 K 17.47473 und M 23 S 17.47474). Seit dem … … 2017 ist der Antragsteller im Besitz einer fortlaufend verlängerten Duldung. Eine Aufenthaltsbeendigung erfolgte mangels Vorliegens von Reisedokumenten bislang nicht. Der Antragsteller wurde in der Folge mehrfach auf seine Passpflicht hingewiesen und zur Passbeschaffung aufgefordert.
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In den Jahren 2016 bis 2022 trat der Antragsteller im Bundesgebiet strafrechtlich wie folgt in Erscheinung:
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- Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Freising vom 21. Dezember 2016 wurde der Antragsteller wegen Hausfriedensbruchs zu einer Geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen zu je 10,00 Euro verurteilt, da er sich trotz Hausverbots in einer Asylbewerberunterkunft aufgehalten hatte (5 Cs 311 Js 38051/16).
5
- Mit Urteil des Amtsgerichts Freising vom 30. Mai 2017 wurde der Antragsteller wegen Hausfriedensbruchs zu einer Geldstrafe in Höhe von 60 Tagessätzen zu je 10,00 Euro verurteilt, da er sich trotz Hausverbots in einer Asylbewerberunterkunft aufgehalten hatte (4 Ds 311 Js 12432/17).
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- Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Erding vom 31. Oktober 2019 wurde der Antragsteller wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe in Höhe von 150 Tagessätzen zu je 20,00 Euro verurteilt (Cs 311 Js 24018/19).
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- Mit weiterem Strafbefehl des Amtsgerichts Erding vom 5. Dezember 2019 wurde der Antragsteller wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe in Höhe von 15 Tagessätzen zu je 10,00 Euro verurteilt (Cs 503 Js 39885/19).
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- Mit staatsanwaltschaftlicher Verfügung vom 17. März 2020 wurde in einem Ermittlungsverfahren gegen den Antragsteller wegen fahrlässiger Brandstiftung nach § 154 Abs. 1 StPO von einer Verfolgung der Tat abgesehen.
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- Mit Urteil des Amtsgerichts Landshut vom 11. November 2020 (Az. 01 Ls 503 Js 4296/20) wurde der Antragsteller wegen gewerbsmäßiger unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in einem minder schweren Fall, des gewerbsmäßigen unerlaubten Handelstreibens mit Betäubungsmitteln in 18 tatmehrheitlichen Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln, des vorsätzlichen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln und des unerlaubten Aufenthalts ohne Pass zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Der Antragsteller hatte zwischen dem 7. Februar 2020 und dem 10. März 2020 in 18 Fällen Marihuana an Dritte verkauft und übergeben. In einem Fall erfolgten Verkauf und Übergabe an eine minderjährige Person. Ferner hatte der Antragsteller mit einem anderweitig Verfolgten am 6. April 2020 147,8 Gramm Marihuana von einer dritten Person erworben. Zudem hielt er sich im Bundesgebiet auf, ohne seine Passpflicht zu erfüllen.
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Der Antragsteller war in diesem Zusammenhang am 6. April 2020 vorläufig festgenommen worden und befand sich vom 7. April 2020 bis zum 24. Mai 2020 in Untersuchungshaft. Nach Außervollzugsetzung des Untersuchungshaftbefehls mit Beschluss des Amtsgerichts Landshut vom 9. Juni 2020 verbüßte der Antragsteller vom 25. Mai 2020 bis zum 25. Oktober 2020 Ersatzfreiheitsstrafen aus den Verurteilungen durch das Amtsgericht Erding vom 31. Oktober 2019 und vom 5. Dezember 2019. Am 25. Oktober 2020 wurde der Antragsteller zunächst aus der Haft entlassen.
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Die Berufung des Antragstellers gegen das Urteil des Amtsgerichts Landshut vom 11. November 2020 wurde mit Urteil des Landgerichts Landshut vom 15. April 2021 (Az. 2 Ns 503 Js 4296/20) mit der Maßgabe verworfen, dass die Verurteilung wegen vorsätzlichen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln entfiel und der Antragsteller zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt wurde. Das Urteil enthält die Feststellung, dass die Sozialprognose des Antragstellers besonders negativ sei.
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Die Haftstrafe aus dieser Verurteilung trat der Antragsteller zunächst nicht an. Am 1. Juli 2021 wurde er polizeilich festgenommen und zum Zwecke der Verbüßung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Landshut in die JVA … verbracht. Das Haftende ist für den 12. Mai 2023 vorgesehen.
13
Mit Schreiben vom 4. Oktober 2021 wurde der Antragsteller vom Landratsamt E. zu seiner beabsichtigten Ausweisung angehört. Er äußerte sich hierzu mit Schreiben vom 16. Oktober 2021 und brachte vor, dass in … eine mächtige Familie hinter ihm her sei und nach seinem Leben trachte. Eine Abschiebung dorthin sei daher ausgeschlossen, da Lebensgefahr bestehe. Kurz nach seiner Entlassung werde er die Bundesrepublik Deutschland freiwillig in Richtung Portugal verlassen.
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Mit Bußgeldbescheid des Hauptzollamts L. vom 17. Januar 2022 wurde gegen den Antragsteller wegen Ausübung einer Beschäftigung ohne eines hierzu berechtigenden Aufenthaltstitels eine Geldbuße in Höhe von 100,00 Euro festgesetzt.
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Mit weiterem Schreiben vom 18. Januar 2022 teilte der Antragsteller mit, auf jeden Fall in Europa bleiben zu wollen. Wenn er seinen Reisepass bei den Behörden vorlege, müsse er in seine Heimat zurückkehren, was er nicht wolle. Er habe seine Taten eingesehen und wolle nie wieder eine Straftat begehen. Er habe Verwandte in Portugal und wolle daher dorthin gehen.
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Mit Schreiben vom 26. Januar 2022 forderte das Landratsamt E. den Antragsteller auf, bis spätestens 1. Februar 2022 mitzuteilen, wo sich sein Reisepass befinde und dessen Vorlage zu veranlassen. Hierauf erklärte der Antragsteller mit Schreiben vom 27. Januar 2022, dass die Gültigkeitsdauer seines Reisepasses abgelaufen sei und er diesen auch nicht mehr im Besitz habe.
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Mit Bescheid vom 29. März 2022, dem Antragsteller übergeben am 31. März 2022, wurde der Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Nr. 1) und „das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 6 Jahre ab dem Tag der Ausreise befristet“ (Nr. 2). Zur Begründung führte das Landratsamt E. im Wesentlichen aus, dass die Ausweisung auf § 53 Abs. 1 AufenthG beruhe. Bei dem Antragsteller liege ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vor, da er zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden sei und der Verurteilung zudem eine Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz zugrunde gelegen habe. Ein normiertes Bleibeinteresse bestehe nicht. Die Abwägung ergebe, dass das Ausweisungsinteresse deutlich überwiege. Der Antragsteller habe keine Familie im Bundesgebiet und sei in … geboren. Eine Rückkehr nach … und dortige Eingliederung sei dem Antragsteller zumutbar. Der illegale Drogenhandel gehöre zum Bereich der besonders schweren Kriminalität. Der Schutz der Bevölkerung vor Betäubungsmitteln stelle ein Grundinteresse der Gesellschaft dar. Hinsichtlich der weiteren Begründung wird auf den Bescheid verwiesen.
18
Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller beim Bayerischen Verwaltungsgericht München am 26. April 2022 Klage erheben lassen mit dem Antrag, den Bescheid vom 29. März 2022 aufzuheben (M 27 K 22.2308).
19
Gleichzeitig beantragt er,
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die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
21
Eine Klage- und Antragsbegründung erfolgten nicht.
22
Das Landratsamt E. hat am 17. Mai 2022 die Behördenakten vorgelegt und beantragt für den Antragsgegner,
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den Antrag abzulehnen.
24
Zur Begründung wird auf den streitgegenständlichen Bescheid verwiesen.
25
Am 5. September 2022 legte das Landratsamt E. die Restakte vor. Hieraus geht hervor, dass der Antragsteller beim Bundesamt am 19. Juli 2022 einen Asylfolgeantrag gestellt hat, welcher mit Bescheid des Bundesamts vom 2. September 2022, dem Antragsteller ausgehändigt am 8. September 2022, als unzulässig abgelehnt wurde (Nr. 1). Ferner wurden der Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 11. August 2017 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG abgelehnt (Nr. 2) sowie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 7 AufenthG angeordnet und auf 12 Monate ab dem Tag der Ausreise befristet (Nr. 3). Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht München am 22. September 2022 Klage erhoben (M 23 K 22.31890) und einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt (M 23 S 22.31891), über welche noch nicht entschieden ist. Im Asylfolgeverfahren hat der Antragsteller angegeben, bereits in Griechenland begonnen zu haben, Cannabis zu konsumieren. In Deutschland seien noch Kräutermischungen hinzugekommen. Er habe bereits einen Therapieplatz und eine Kostenzusage der Krankenkasse. Er habe Angst, noch weiter in die Drogensucht abzurutschen, wenn er nach … zurückkehre. Seit einem Jahr nehme er keine Drogen mehr. Wenn er keinen Therapieplatz erhalte, werde er weiter Drogen nehmen.
26
Ferner findet sich in der Restakte eine Beurteilung des Haftverhaltens des Antragstellers durch die Justizvollzugsanstalt … vom 28. Juli 2022, welche u.a. die Feststellung enthält, dass der Antragsteller am 22. März 2022 unerlaubte Substanzen konsumiert habe.
27
Der Bevollmächtigte des Antragstellers teilte mit Schriftsatz vom 8. November 2022 mit, dass er an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen werde.
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Die mündliche Verhandlung im Klage- und Eilverfahren fand am 17. November 2022 statt. Hinsichtlich des Ergebnisses wird auf das Protokoll vom selben Tag verwiesen. Mit Urteil vom 17. November 2022 wurde die Klage als unbegründet abgewiesen.
29
Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte, die beigezogenen Akten im Asylfolgeverfahren des Antragstellers (M 23 K 22.31890, M 23 S 22.31891) sowie die beigezogene Strafakte (Az. 01 Ls 503 Js 4296/20) Bezug genommen.
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Der Antrag bleibt ohne Erfolg.
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I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist nur teilweise zulässig. Soweit er zulässig ist, ist er unbegründet.
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1. Der Antrag ist nicht statthaft und somit unzulässig, soweit er auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ausweisung in Nr. 1 des Bescheides gerichtet ist. Der Klage kommt insoweit bereits kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zu (§ 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil § 84 Abs. 1 AufenthG insoweit nicht einschlägig ist und auch die sofortige Vollziehung von der Antragsgegnerin nicht angeordnet worden ist.
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2. Statthaft und auch im Übrigen zulässig ist hingegen der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die in Nr. 2 des Bescheides getroffene ausländerbehördliche Verfügung. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die seit … … 2019 gültige Neufassung des § 11 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG (Gesetz vom 15.8.2019, BGBl I S. 1294), wonach ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gesondert angeordnet werden muss, nichts daran ändert, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur früheren Rechtslage in einer behördlichen Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG a.F. regelmäßig auch die Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots von bestimmter Dauer zu sehen ist (vgl. BVerwG, U.v. 21.8.2018 - 1 C 21.17 - juris Rn. 25; BayVGH, B.v. 11.9.2019 - 10 C 18.1821 - juris Rn. 13 m.w.N.; BayVGH, B.v. 17.12.2019 - 9 ZB 19.34094 - juris Rn. 8). Damit handelt es sich um einen einheitlichen, auch in sich nicht teilbaren belastenden Verwaltungsakt (BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 - 1 C 47.20 - NVwZ 2021, 1842 Rn. 10; vgl. auch OVG Lüneburg, Urteil vom 6. Mai 2020 - 13 LB 190/19 - juris Rn. 54 und Beschluss vom 18. März 2021 - 8 ME 146/20 - InfAuslR 2021, 238 <239>; ferner Störmer, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 36 VwVfG Rn. 38), der mit der Anfechtungsklage anzugreifen ist. Ein Ermessensfehler bei der Befristung führt zur Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots insgesamt. Im einstweiligen Rechtsschutz ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft. Denn die aufschiebende Wirkung einer gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot erhobenen Klage entfällt nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG (VGH BW, B.v. 21.1.2020 - 11 S 3477/19 - juris Rn. 17 ff., 73).
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3. Der hiergegen gerichtete Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist jedoch unbegründet. Der Kläger wurde ausgewiesen. Die Ausweisung ist nach summarischer Prüfung rechtmäßig. Hinsichtlich der Begründung wird auf die Ausführungen in den Entscheidungsgründen des Urteils vom 17. November 2022 im Hauptsacheverfahren (M 27 K 22.2308) sowie ergänzend nach § 117 Abs. 5 VwGO auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids verwiesen.
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Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO bei der Befristungsentscheidung sind nicht ersichtlich. Die behördliche Entscheidung hält sich in dem von § 11 Abs. 3 AufenthG festgelegten Rahmen. Auch insoweit wird hinsichtlich der Begründung auf die Ausführungen in den Entscheidungsgründen des Urteils im Hauptsacheverfahren (M 27 K 22.2308) sowie ergänzend nach § 117 Abs. 5 VwGO auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids verwiesen.
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II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 GKG i.V.m. Ziffer 1.5 sowie Ziffer 8.2 des Streitwertkatalogs (halber Auffangstreitwert).