Inhalt

VG München, Beschluss v. 21.12.2022 – M 18 S 22.5698
Titel:

Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme, Örtliche Zuständigkeit, Altersfeststellungsverfahren, Auslegung Zweifelsfall

Normenketten:
SGB VIII § 42a
SGB VIII § 42f
VwGO § 80 Abs. 5
Schlagworte:
Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme, Örtliche Zuständigkeit, Altersfeststellungsverfahren, Auslegung Zweifelsfall
Fundstelle:
BeckRS 2022, 38054

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme durch das Stadtjugendamt der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 11. November 2022 wird bis zur Feststellung der Volljährigkeit durch ein medizinisches Gutachten zur Altersbestimmung angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, die vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers nach § 42a SGB VIII bis zur Feststellung der Volljährigkeit durch ein medizinisches Gutachten zur Altersbestimmung bzw. bis zu einer Entscheidung des Gerichts im Hauptsacheverfahren wiederaufzugreifen und fortzusetzen.
III. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit des Bescheides der Antragsgegnerin vom 11. November 2022, mit dem seine vorläufige Inobhutnahme beendet wurde.
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Am 2. November 2022 kam der Antragsteller im Young Refugee Center im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin an und wurde durch diese vorläufig in Obhut genommen. Bei der Registrierung seiner persönlichen Daten gab er an, afghanischer Staatsangehöriger zu sein und am ... 2006 geboren zu sein.
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Am 11. November 2022 führte das Stadtjugendamt der Antragsgegnerin ein Alterseinschätzungsgespräch zur Überprüfung der Minderjährigkeit des Antragstellers durch. Hierzu legte der Antragsteller Fotografien eines Taskira-Dokumentes in englischer und deutscher Sprache vor. Die Originaltaskira sei ihm bei der Flucht in der Türkei oder Griechenland abgenommen worden und eine Neuausstellung sei in Afghanistan beantragt. Ein türkischer Ausweis sei ihm ebenfalls in Griechenland abgenommen worden.
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In der Festsetzung des Alters auf Grundlage des Erstgesprächs hielt das Stadtjugendamt der Antragsgegnerin unter der Rubrik „Geburtsdatum“ fest, dass der Antragsteller offensichtlich und ohne weiteres eine erkennbar volljährige Person sei.
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Mit Bescheid vom 11. November 2022 wurde unter Verweis auf die fehlende Minderjährigkeit des Antragstellers die vorläufige Inobhutnahme beendet. Der Antragsteller habe keine beweiskräftigen bzw. ausreichend legalisierten Ausweispapiere oder sonstige Dokumente vorgelegt, welche die Minderjährigkeit belegen könnten. Zudem sei die Minderjährigkeit nach Durchführung einer qualifizierten Inaugenscheinnahme des Antragstellers zweifelsfrei ausgeschlossen worden. Das äußere Erscheinungsbild des Antragstellers sei offensichtlich und ohne weiteres dasjenige einer volljährigen Person. Zudem habe der Antragsteller im Rahmen der inhaltlichen Angaben deutliche Wiedersprüche zum Geburtsdatum und Alter getätigt. Auch das Verhalten des Antragstellers sei entsprechend einer volljährigen Person und er kommuniziere reif auf Augenhöhe.
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Mit Schriftsatz vom 14. November 2022, eingegangen am 17. November 2022, erhob der Antragsteller Klage gegen den Bescheid vom 11. November 2022. Über dieses Verfahren (M 18 K 22.5697) ist noch nicht entschieden.
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Zudem beantragte der Antragsteller mit gleichem Schreiben,
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gem. § 123 VwGO die Antragsgegnerin zu verpflichten, den Antragsteller sofort vorläufig in Obhut zu nehmen und in einer geeigneten Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen.
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Zur Begründung des Antrags wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass aus den vorgelegten Fotografien des Taskira-Dokumentes hervorgehe, dass er im Jahre 2006 geboren sei. Zudem sei bei einer Altersfeststellung in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zu veranlassen. Der Antragsteller sei jederzeit bereit gewesen, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Das gesetzlich in § 42f SGB VIII vorgeschriebene Verfahren sei daher nicht vollständig durchgeführt worden und daher rechtswidrig. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof habe entschieden, ein Zweifel könne nur dann ausgeschlossen werden, wenn die Berufung auf die Minderjährigkeit evident rechtsmissbräuchlich erscheint; dies sei hier nicht der Fall. Zudem sei die Urkunde nicht ausreichend von den Fachkräften des Stadtjugendamtes als Indiz für seine Minderjährigkeit gewertet worden. Eine vorläufige Inobhutnahme sei daher notwendig um wesentliche Nachteile abzuwenden, die unwiederbringlich entstehen würden, wenn er sich weiterhin in einer Einrichtung für Erwachsene aufhalten müsse.
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Mit Schriftsatz vom 25. November 2022 teilte die Antragsgegnerin dem Gericht mit, dass der Antragsteller bereits am 16. November 2022 aus ihrem Zuständigkeitsbereich umverteilt worden sei und beantragte,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sie durch den mittlerweile erfolgten Ortswechsel nicht mehr für die vorläufige Inobhutnahme örtlich zuständig sei.
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Mit ergänzendem Schriftsatz vom 30. November 2022 führte die Antragsgegnerin aus, dass nach § 88a SGB VIII der örtliche Träger für die vorläufige Inobhutnahme zuständig sei, in dessen Bereich sich der jeweilige Mensch vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufhalte. Da sich der Antragsteller nicht mehr im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin aufhalte, würde die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme gegenüber der Antragsgegnerin die Anwendung des § 88a Abs. 1 SGB VIII durchbrechen.
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Die Antragsgegnerin führt weiter aus, die Volljährigkeit sei rechtmäßig in einem Altersfeststellungsverfahren nach § 42f SGB VIII festgestellt worden. Ein Anspruch auf eine vorläufige Inobhutnahme bestehe nicht. Die Volljährigkeit sei durch die für Jedermann ohne Weiteres erkennbare Volljährigkeit des Antragstellers zweifelsfrei mittels der qualifizierten Inaugenscheinnahme festgestellt worden. Schlüssige und glaubhafte Angaben zum bisherigen Entwicklungsverlauf, die Rückschlüsse auf sein Alter erlaubten, habe der Antragsteller nicht getätigt. Beweiskräftige Dokumente hätten durch den Antragsteller nicht vorgelegt werden können; die Fotografien des Taskira-Dokumentes seien keine ausreichenden Beweismittel. Zuletzt wies die Antragsgegnerin darauf hin, dass die RL 2013/32/EU gemäß ihres Art. 3 Abs. 1 nur für Anträge auf internationalen Schutz sowie die Aberkennung internationalen Schutzes anwendbar sei. Dies sei aber kein Begehren, welches durch § 42f SGB VIII gewährt werden könne, so dass Art. 25 Abs. 5 der Richtlinie keine Verpflichtung im Rahmen der Altersfeststellung nach dem SGB VIII begründe. An dieser Rechtsauffassung halte die Antragsgegnerin - entgegen der Rechtsprechung des BayVGH - fest. Eine entsprechende Anwendung scheitere hier bereits an der fehlenden Kompetenz der EU zur inhaltlichen Regelung des Kinder- und Jugendhilferechts. Dem deutschen Gesetzgeber obläge ausschließlich die Ausgestaltung des Kinder- und Jugendhilferechts. Die behauptete untrennbare Verbindung des jugendhilferechtlichen Inobhutnahmeverfahrens mit dem Asylverfahren unbegleiteter Minderjähriger Flüchtlinge könne nicht nachvollzogen werden.
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Am 22. Dezember 2022 wurde dem Gericht durch die Regierung von Oberbayern mitgeteilt, dass der Antragsteller wohl verlegt worden sei, allerdings keine Daten hierzu verfügbar seien. Auch eine Information durch die Antragsgegnerin unterblieb.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakte im Hauptsacheverfahren (M 18 K 22.5697) sowie der vorgelegten Behördenakte verwiesen.
II.
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Der entsprechend auszulegende Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers ist zulässig und begründet.
18
Der Antrag ist nicht bereits mangels Angabe der aktuellen, ladungsfähigen Anschrift des Antragstellers unzulässig.
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Zwar gehört regelmäßig die Angabe der ladungsfähigen Anschrift des Antragstellers auch zu den Anforderungen an einen zulässigen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz, § 80 Abs. 5 i.V.m. § 82 VwGO (vgl. zur Klageschrift: Eyermann/Hoppe, 16. Aufl. 2022, VwGO § 82 Rn. 3). Hinsichtlich der Angabe der ladungsfähigen Anschrift sind jedoch Einschränkungen und Ausnahmen notwendig, um den eröffneten Rechtsweg nicht unzumutbar zu erschweren (Eyermann/Hoppe, 16. Aufl. 2022, VwGO § 82 Rn. 4). Mit vorliegenden Verfahren begehrt der Antragsteller gerade seine weitere Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung. Mangels (zunächst) aufschiebender Wirkung seiner Rechtsbehelfe wurde er jedoch umgehend offenbar mehrfach verlegt und die Daten durch die zuständigen Behörden nicht ordnungsgemäß erfasst. Dem Antragsteller ist es in dieser Situation derzeit nicht vorzuwerfen, dass er seine jeweils neue aktuelle Anschrift nicht umgehend dem Gericht mitgeteilt hat. Vielmehr hatte das Gericht bereits mit Schreiben vom 18. November 2022 die Antragsgegnerin angehalten, dafür Sorge zu tragen, dass der Antragsteller nicht aus ihrem Zuständigkeitsbereich verlegt wird. Zwar ist eine solche Verlegung bereits vor Eingang dieses Schreibens bei der Antragsgegnerin erfolgt. Unabhängig davon hat das Gericht mit dieser Bitte gegenüber der Antragsgegnerin hinreichend deutlich gemacht, dass diese bis zu einer Entscheidung in der Sache eine Fürsorgepflicht gegenüber dem Antragsteller insbesondere im Hinblick auf seine weitere Unterbringung zukommt. Es obliegt daher der Antragsgegnerin den derzeitigen Unterbringungsort des Antragstellers zu ermitteln.
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Der gestellte Antrag war gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der zulässig eingelegten Klage des Antragstellers vom 14. November 2022 gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme am 11. November 2022 gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO auszulegen.
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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht in Fällen, in denen gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage oder des Widerspruchs entfällt, diese auf Antrag anordnen oder wiederherstellen.
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Die Antragsgegnerin hat mit Bescheid vom 11. November 2022 die vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers beendet. Gemäß § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII haben Widerspruch und Klage gegen die Entscheidung des Jugendamts, aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII abzulehnen oder zu beenden, keine aufschiebende Wirkung. Der gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme gerichteten Klage des Antragstellers kommt folglich keine aufschiebende Wirkung zu. Statthafter Rechtsbehelf im vorläufigen Rechtsschutz ist demnach in der vorliegenden Verfahrenskonstellation im Hinblick auf § 123 Abs. 5 VwGO ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO.
23
Der so verstandene Antrag ist auch begründet.
24
Der Antrag richtet sich zu Recht gegen die Antragsgegnerin, da diese den streitgegenständlichen Bescheid erlassen hat, § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO.
25
Gibt das Gericht einem Antrag im einstweiligen Rechtsschutz statt und ordnet die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen die Beendigung einer vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO an, hat dies zur Folge, dass die Wirksamkeit bzw. Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes der Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme gehemmt wird (Beckonline, Schoch in: Schneider/Schoch, VwGO, § 80 Rn. 90-94, Stand: 15.12.2022). Unabhängig davon, ob man der Meinung folgt der Verwaltungsakt sei in seiner Wirksamkeit oder in seiner Vollziehbarkeit vorläufig gehemmt, darf die erlassende Behörde aufgrund der gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme nicht mehr bis zum Ausgang des Hauptsacheverfahrens durchführen bzw. vollziehen.
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Sofern - wie im vorliegenden Verfahren - bereits die Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsaktes erfolgt ist, ermöglicht es § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO dem Gericht im Fall eines Erfolges des Eilrechtsantrags anzuordnen, dass diese Vollziehung wieder aufzuheben ist. Ziel dieser gerichtlichen Anordnung ist die (vorläufige) Wiederherstellung des status quo ante. Die Vollziehung einer Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme lässt sich nur dadurch wieder „aufheben“ im Sinne von § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO, dass erneut eine vorläufige Inobhutnahme in der ursprünglichen Jugendhilfeeinrichtung erfolgt. § 88a SGB VIII steht dem nicht entgegen, denn in der Maßnahme liegt keine erneute vorläufige Inobhutnahme. Die bisherige vorläufige Inobhutnahme ist infolge der gerichtlichen Eilentscheidung gegen ihre Beendigung rechtlich noch nicht endgültig inexistent, sondern deren Rechtswirkungen sind vorläufig wiederherzustellen. Die erneute vorläufige Inobhutnahme in einer Jugendhilfereinrichtung stellt sich daher rechtlich lediglich als erneute Vollziehung der ursprünglichen vorläufigen Inobhutnahmeverfügung nach § 88a Abs. 1 SGB VIII oder § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII dar (Lange in: Schlegel/Voelzke, juris PK-SGB VIII, 3. Aufl., § 88a SGB VIII Rn. 27, Stand: 01.08.2022 unter Bezugnahme auf DIJuF-Rechtsgutachten vom 23.1.2020, JAmt, 2020, 152). Dementsprechend wird durch eine solche Anordnung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes auch nicht die Regelung des § 88a SGB VIII durchbrochen, wie die Antragsgegnerin meint (im Ergebnis auch: OVG NW, B.v. 9.6.2020 - 12 B 638/20 - juris Rn. 39; VG Hannover, B.v. 11.11.2016 - 3 B 5176/16 - juris Rn. 26; VG Gera, B.v. 23.8.2021 - 6 E 859/21 Ge - juris Rn. 59).
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Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vom Gericht vorzunehmende Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten des Antragstellers aus.
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Im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigene originäre Ermessensentscheidung, wobei es zwischen dem in der gesetzlichen Regelung - hier § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII - zum Ausdruck kommenden Interesse der Behörde an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen hat. Bei der zu treffenden Abwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen.
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Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der zugrundeliegende Bescheid bei dieser Prüfung hingegen als rechtswidrig und das Hauptsacheverfahren damit voraussichtlich als erfolgreich, ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig zu verneinen. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens hingegen offen, kommt es zu einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen.
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Die Abwägung gebietet es hier, dem privaten Aufschubinteresse des Antragstellers gegenüber dem öffentlichen Interesse Vorrang zu gewähren. Denn nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist davon auszugehen, dass der angegriffene Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. November 2022 rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt (s. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung genügt nach summarischer Prüfung vorliegend nicht den in § 42f SGB VIII niedergelegten gesetzlichen Anforderungen. Die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme dürfte daher rechtswidrig sein.
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Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Nach §§ 42a Abs. 1 Satz 2, 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII umfasst die Inobhutnahme die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen. Anspruchsberechtigt nach der vorgenannten Norm sind ausschließlich Kinder und Jugendliche, also nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 SGB VIII Personen, die noch nicht 18 Jahre alt sind. Volljährige dürfen dahingegen nicht in Obhut genommen werden.
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Die Art und Weise der Altersfeststellung bei infrage kommenden ausländischen Personen ist in § 42f SGB VIII normiert. Nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. In Zweifelsfällen ist auf Antrag des Betroffenen, seines Vertreters oder von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen (§ 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII).
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Aus der Formulierung des § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, wonach die Altersfeststellung „im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme“ durchzuführen ist, ist zu schließen, dass eine vorläufige Inobhutnahme - wie vorliegend auch zurecht am 2. November 2022 geschehen - auch zu erfolgen hat, wenn das Altersfeststellungsverfahren noch nicht durchgeführt und damit das Alter des jungen Menschen noch nicht sicher festgestellt wurde. Dies bestätigt auch § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, der sich ausdrücklich auf eine Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme „aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift“ bezieht (vgl. Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 1.8.2022, § 42f SGB VIII Rn. 28 ff.). Das Ergebnis der Alterseinschätzung ist also nicht Voraussetzung für eine vorläufige Inobhutnahme, vielmehr ist die Alterseinschätzung selbst erst Aufgabe im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 - 12 BV 17.185 - juris Rn. 31). Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass - und so sah es offensichtlich auch der Gesetzgeber vor (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 42f SGB VIII: BT-Drs. 18/6392 S. 20) - die ausländische Person erst dann aus der vorläufigen Obhut des Jugendamtes zu entlassen ist, wenn deren Volljährigkeit festgestellt worden ist. Die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme ist daher erst dann gerechtfertigt, wenn die von Gesetzes wegen aufgestellten Vorgaben zur Feststellung des Alters vom jeweiligen Jugendamt korrekt durchlaufen wurden.
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Dies ist vorliegend nicht geschehen. Am 11. November 2022 fand ein Altersfeststellungsgespräch statt, in dem der Antragsteller keine Ausweispapiere vorlegen konnte (§ 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Die vorgelegten Fotografien des Taskira-Dokumentes stellen keine verlässliche Quelle über die Identität und das Geburtsdatum des Antragstellers dar. Zwar ist die Taskira ein in Afghanistan übliches Identitätspapier, welches auch Voraussetzung für die Ausstellung eines afghanischen Reisepasses ist (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan - Lagebericht -, Stand Juli 2021, S. 26). Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan weist jedoch nach Informationen des Auswärtigen Amtes gravierende Mängel auf. Personenstandsurkunden werden demnach oft erst viele Jahre nachträglich, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen ausgestellt. Zudem seien viele Fälle von Gefälligkeitsbescheinigungen und -aussagen bekannt. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden kann also nicht in jedem Fall ausgegangen werden (vgl. Lagebericht, a.a.O., S. 25). Erschwerend kommt vorliegend hinzu, dass der Antragsteller nur eine Fotografie seiner Taskira vorlegte, so dass mangels Vorlage des Originals bereits nicht überprüft werden konnte, ob es sich hierbei um ein formell echtes Dokument handelt. Unter Berücksichtigung vorstehender Informationen war demnach nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin den vom Antragsteller vorgelegten Taskirafotografien keinen maßgeblichen Beweiswert beimaß (vgl. auch OVG Bremen, B.v. 26.5.2017 - 1 B 64/17 - juris Rn. 6; OVG NRW, B.v. 29.9.2014 - 12 B 923/14 - juris Rn. 10 ff.; VG Berlin, B.v. 18.12.2017 - 9 L 676.17 A - juris Rn. 22). Da auch die Selbstauskunft des Antragstellers keinen zweifelsfreien Beleg für die behauptete Minderjährigkeit bot, hat die Antragsgegnerin daraufhin zurecht eine qualifizierte Inaugenscheinnahme des Antragstellers durchgeführt.
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Es lag jedoch ein sog. Zweifelsfall i.S.d. § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII vor, der das Stadtjugendamt der Antragsgegnerin zur Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung zur Altersfeststellung verpflichtet hätte. Derartige Zweifel, welche gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII die Vornahme einer ärztlichen Untersuchung erforderlich machen, bestehen nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs immer dann, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen wird, der Betroffene sei noch minderjährig (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 - 12 BV 17.185 - juris Rn. 33 m.w.N.).
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Ob ein solcher Zweifelsfall vorliegt, unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum umfassender verwaltungsgerichtlicher Kontrolle; eine Einschätzungsprärogative des Jugendamts besteht nicht (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 - 12 BV 17.185 - juris Rn. 34).
38
Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der sich auch die Kammer seit langem angeschlossen hat, kann eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter eines Jugendamts gemäß § 42f Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB VIII lediglich dann als zur Altersfeststellung geeignet angesehen werden, wenn es darum geht, für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle evidenter Minderjährigkeit festzustellen oder eindeutiger Volljährigkeit auszuscheiden. In allen anderen Fällen ist hingegen - ausgehend von der Tatsache, dass eine exakte Bestimmung des Lebensalters weder auf medizinischem, psychologischem, pädagogischem oder anderem Wege möglich ist, alle bekannten Verfahren (auch eine ärztliche Untersuchung) allenfalls Näherungswerte liefern können, manche medizinischen Untersuchungsmethoden zum Teil eine Schwankungsbreite von bis zu fünf Jahren aufweisen und allgemein von einem Graubereich von ca. ein bis zwei Jahren (über der gesetzlichen Altersgrenze von 18 Jahren) auszugehen ist - regelmäßig vom Vorliegen eines Zweifelsfalls auszugehen, der entweder auf Antrag des Betroffenen bzw. seines gesetzlichen Vertreters oder aber von Amts wegen durch das Jugendamt zur Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zwingt (vgl. BayVGH, B.v. 16.12.2021 - 12 CE 21.3033 - n.v.; B.v. 5.4.2017 - 12 BV 17.185 - juris Rn. 38; B.v. 16.8.2016 - 12 CS 16. 1550 - juris Rn. 23; B.v. 18.8.2016 - 12 CE 16.1570 - juris, Rn. 19; B.v. 13.12.2016 - 12 CE 16.2333 - juris, Rn. 31; hierauf Bezug nehmend: OVG NW, B.v. 5.5.2021 - 12 B 477/21 - juris Rn. 49 ff; Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 1.8.2022, § 42f SGB VIII Rn. 28 ff).
39
Soweit die Antragsgegnerin entgegen der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes damit argumentiert, dass die RL 2013/32/EU gemäß ihres Art. 3 Abs. 1 nur für Anträge auf internationalen Schutz sowie die Aberkennung internationalen Schutzes anwendbar sei und eine entsprechende Anwendung bereits an der fehlenden Kompetenz der EU zur inhaltlichen Regelung des Kinder- und Jugendhilferechts scheitere, weist das Gericht darauf hin, dass im jugendhilferechtlichen Altersfeststellungsverfahren entsprechend dem Schutzzweck des Kinder- und Jugendhilferechts zumindest der allgemeine Grundsatz „im Zweifel für die Minderjährigkeit“ (siehe hierzu BGH, B.v. 25.8.2020 - XIII ZB 101/19 - juris Rn. 14) gelten dürfte (vgl. hierzu auch: OVG Bremen, B.v. 22.6.2021 - 2 B 166/21 -, juris Rn. 30).
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Dementsprechend ist im Fall des Antragstellers entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht davon auszugehen, dass dieser für Jedermann ohne weiteres erkennbar, offensichtlich und ohne jeden vernünftigen Zweifel volljährig ist. Die Antragsgegnerin hätte daher eine ärztliche Untersuchung zur Altersfeststellung veranlassen müssen. Die mangels Vorlage aussagekräftiger Ausweispapiere von der Antragsgegnerin zurecht durchgeführte Altersfeststellung mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme, führte vorliegend - entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin - zur Annahme eines Zweifelsfalls.
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Die Antragsgegnerin stützt ihre Entscheidung im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme auf das äußere Erscheinungsbild, die inhaltlichen Angaben sowie das gezeigte Verhalten des Antragstellers. Sofern die Antragsgegnerin das äußere Erscheinungsbild des Antragstellers als offensichtlich und ohne weiteres erkennbar einem Volljährigen zuschreibt, bietet dies keine ausreichende Grundlage für die Annahme von Volljährigkeit, da dies ebenso auch bei einem (reifen) jugendlichen Minderjährigen vorliegen kann. Dasselbe gilt für den Umstand, dass die Antragsgegnerin beim Antragsteller feststellte, dass er sich entsprechend einer volljährigen Person verhalte und reif, auf Augenhöhe kommuniziere. Auch ein 16-jähriger Jugendlicher kann diese Charakteristika aufweisen, insbesondere allein gestellt nach einer mehrwöchigen Flucht aus dem Heimatland. Auch die von der Antragsgegnerin als widersprüchlich gewerteten inhaltlichen Aussagen des Antragstellers bzgl. Geburtsdatum und Alter sowie dessen Verhalten im Gespräch sind nicht geeignet, die Minderjährigkeit des Antragstellers mit Sicherheit auszuschließen. Im afghanischen Kulturraum kommt dem Geburtsdatum und Lebensalter eine deutlich geringere Bedeutung zu. Dementsprechend wird auch in der Taskira, dem üblichen Identitätspapier, regelmäßig nur ein geschätztes aktuelles Lebensalter und kein Geburtsdatum angegeben. Es erscheint daher nicht gänzlich abwegig, dass der Antragsteller tatsächlich nur ein ungefähres Wissen über sein Lebensalter hat. Jedenfalls kann von evident missbräuchlichen Angaben nicht ausgegangen werden. Insgesamt mögen zwar Widersprüche in der Aussage dazu führen, dass diese insgesamt als wenig glaubhaft zu werten ist. Das Vorliegen der tatsächlichen Minderjährigkeit des Antragstellers wird hierdurch jedoch nicht ausgeschlossen.
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Da nach alledem eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der Antragsteller das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat, nicht besteht, erweist sich die Beendigung der Inobhutnahme nach summarischer Prüfung als rechtswidrig, wodurch der Antragssteller in seinen Rechten verletzt wurde. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers war somit anzuordnen.
43
Das Gericht ordnet zudem gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO die Aufhebung der Vollziehung der Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. November 2022 an. Die Antragsgegnerin ist in der Folge verpflichtet, den Antragsteller wieder vorläufig in Obhut zu nehmen und gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ein medizinisches Gutachten zur Altersdiagnostik durchzuführen (so auch: OVG NW, B.v. 9.6.2020 - 12 B 638/20 - juris Rn. 39; VG Hannover, B.v. 11.11.2016 - 3 B 5176/16 - juris Rn. 26; VG Gera, B.v. 23.8.2021 - 6 E 859/21 Ge - juris Rn. 59).
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Dem Gericht ist bewusst, dass die Rückführung des Antragstellers durch die Antragsgegnerin, um diesen erneut vorläufig in Obhut zu nehmen, mit praktischen Problemen behaftet sein kann. Insoweit kann die Antragsgegnerin ihrer materiellen Verpflichtung zur vorläufigen Inobhutnahme des Antragsstellers ggf. auch dadurch nachkommen, indem sie die Amtshilfe des Jugendamtes in Anspruch nimmt, in dessen Bereich sich der Antragsteller nunmehr aufhält (vgl. hierzu allgemein auch DIJuF-Rechtsgutachten vom 23.1.2020, JAmt, 2020, 152).
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.