Inhalt

VG München, Urteil v. 16.11.2022 – M 18 K 18.3763
Titel:

Hilfe für junge Volljährige, Stationäre Unterbringung, Kostenübernahme für selbstbeschaffte Maßnahme (Stattgabe), Systemversagen, Hilfeplanverfahren, Befreiungsanspruch

Normenketten:
SGB VIII § 34
§ 35a SGB VIII i.d.F vom 23.12.2016
SGB VIII § 36a Abs. 3
§ 41 SGB VIII i.d.F. vom 11.9.2012
BGB § 257
Schlagworte:
Hilfe für junge Volljährige, Stationäre Unterbringung, Kostenübernahme für selbstbeschaffte Maßnahme (Stattgabe), Systemversagen, Hilfeplanverfahren, Befreiungsanspruch
Fundstelle:
BeckRS 2022, 38053

Tenor

I.    Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 11. Juli 2018 verpflichtet, die Klägerin von Forderungen der ... und Oberbayern für erbrachte stationäre Jugendhilfeleistungen vom 1. August 2018 bis 31. Oktober 2019 entsprechend der Rechnung vom 15. November 2022 in Höhe von 52.134 EUR freizustellen. 
II.    Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt die Übernahme der Kosten für ihre stationäre Unterbringung vom 1. August 2018 bis 31. Oktober 2019 als Maßnahme der Jugendhilfe.
2
Die am ... 1999 geborene Klägerin war seit dem 7. August 2012 im Rahmen der Jugendhilfe stationär untergebracht. Ab ihrer Volljährigkeit wurde der Klägerin durch den Beklagten Hilfe für junge Volljährige gemäß § 41 i.V.m. § 34 SGB VIII in Form des betreuten Wohnens gewährt.
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Im Hilfeplanprotokoll des Beklagten vom 1. Februar 2018 wird hinsichtlich des Ziels der Stabilisierung und Entwicklung der Persönlichkeit der Klägerin ausgeführt, dass die seelische Stabilität der Klägerin gefestigt werde, die Klägerin ihre eigenen Emotionen besser regulieren könne und die Klägerin Bereitschaft zeige, an Auffälligkeiten im Sozialverhalten zu arbeiten. Zudem sei Ziel, dass die Klägerin Belastungen, wie zum Beispiel Stress und Druck, erkenne und Maßnahmen ergreife. Hinsichtlich der schulischen und beruflichen Orientierung wurde als Ziel ausgeführt, dass die schulische bzw. berufliche Zukunft geklärt sei. Weiteres Ziel war ein sicherer Umgang mit behördlichen Angelegenheiten sowie die Beantragung einer Sozialwohnung und notwendiger Gelder zur Bewältigung eines selbständigen Lebens.
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Mit bestandskräftigem Bescheid vom 14. März 2018 wurde der Klägerin ab 1. März 2018 weiterhin Hilfe für junge Volljährige gemäß §§ 41, 34 SGB VIII durch Übernahme der Kosten für die Unterbringung im betreuten Wohnen bewilligt. Die Hilfe wurde unter dem Vorbehalt des Widerrufs gewährt für den Fall, dass die Ergebnisse der jeweiligen Hilfeplanung zeigen würden, dass die Voraussetzungen für die Hilfe weggefallen seien oder sich geändert hätten. Zudem wurde die Hilfe zunächst bis 31. Juli 2018 befristet.
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In dem Hilfeplanprozessbericht der betreuenden Einrichtung vom 25. April 2018 wird ausgeführt, dass die Klägerin ein Zimmer in einer Wohnung der Einrichtung bewohne; sie teile sich die Wohnung mit zwei Mitbewohnerinnen. Den Besuch der … habe die Klägerin abgebrochen; sie habe zum 1. September 2018 eine Ausbildungsstelle als Fachinformatikerin erhalten. Hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung und des Sozialverhaltens wird ausgeführt, dass sich die Klägerin aufgrund diverser Probleme in ihrem Familiensystem seit Ende November 2017 in einer Krise befinde, die sie sehr belastet habe. Sie sei immer wieder in eine Negativschleife gekommen, habe große Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle. Sie sei in den letzten Monaten vielfältigen Belastungsfaktoren ausgesetzt gewesen, die letztendlich dazu geführt hätten, dass sie sich am 23. Februar 2018 aufgrund ihres labilen psychischen Zustands und suizidaler Gedanken auf einer geschlossenen Krisenstation einer Klinik für Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie aufnehmen habe lassen. Die Benachrichtigung über die beabsichtigte Beendigung der Jugendhilfemaßnahme durch das Jugendamt zum 31. Juli 2018 habe zu existenziellen Ängsten und wohl zu einer Überforderung beigetragen, wodurch die Gesamtsituation eskaliert sei. Im Rahmen ihrer persönlichen Krise seien sukzessive vielfältige Themen aufgekommen, die bis dahin keine Rolle gespielt hätten oder in der Krise erheblich verstärkt worden seien. Insofern hätten sich bei der Klägerin Stimmungsschwankungen, ihr auffälliges Sozialverhalten, ihre Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle extremer dargestellt. Auch ihre Schlafstörungen hätten deutlich zugenommen. Die Klägerin zeige dabei auch Bedarf an Betreuung in den Abend- bzw. Nachtstunden. Bekannt sei auch geworden, dass die Klägerin sich seit Januar immer wieder übergeben habe müssen und neben dem Konsum von Alkohol auch seit Jahren ein kontinuierlicher Konsum von Cannabis stattgefunden habe. Ebenfalls habe die Klägerin Ritalin konsumiert. Fraglich sei, ob andere Drogen immer noch eine Rolle spielen würden. Aus diversen Gründen habe sich die Klägerin am 26. März 2018 aus dem Klinikum vorzeitig entlassen. Sie benötige weiterhin ein hohes Maß an Sicherheit und Zuwendung. Insofern werde ausdrücklich die Weiterführung der Jugendhilfe befürwortet. Zudem sei aufgrund der vielfältigen Themen und des komplexen Hilfebedarfs die Frage zu klären, in welchem Rahmen Stabilität wieder bestmöglich hergestellt werden könne. Einen weiteren Klinikaufenthalt sowie die Einnahme von Medikamenten schließe die Klägerin derzeit aus. Die Unterbringung in einer therapeutischen Wohngruppe für junge Erwachsene könne sie sich vorstellen. Aus Sicht der Einrichtung sei eine intensivere Betreuungsform zu empfehlen.
6
Als Anlagen wurden mit Einverständnis der Klägerin der Bericht der Klinik für Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie vom 26. März 2018 beigefügt sowie eine Stellungnahme der Therapeutin der Klägerin vom 22. März 2018.
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Entsprechend dem Bericht der Fachklinik wurden bei der Klägerin eine mittelgradige depressive Episode (ICD 10: F 32.1), V.a. emotional-instabile Persönlichkeitsstörung (ICD 10: F 60.31) sowie psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol (ICD 10: F10. 1) diagnostiziert. Nachdem die Klägerin während ihres gesamten Aufenthalts glaubhaft von Suizidalität distanziert gewesen sei, hätten bei fehlender Eigen- und Fremdgefahr keine Rückhaltegründe bestanden, sodass von einer Fahndung abgesehen worden sei. Es wurden Abstinenz von Alkohol und suchterzeugenden Substanzen, psychiatrisch- /psychotherapeutische Weiterbehandlung sowie Labor- und EKG-Kontrollen nach Leitlinien empfohlen.
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In der Stellungnahme des Lehrinstituts, an dem die Klägerin therapeutisch angebunden war, vom 22. März 2018 wird ausgeführt, dass die Klägerin sich seit dem 27. April 2017 in psychotherapeutischer Behandlung (Verhaltenstherapie) befinde. Es seien 60 Einzeltherapiesitzungen beantragt und genehmigt worden; bisher seien davon 29 Sitzungen in Anspruch genommen worden. Die Therapie erfordere „ein hohes Maß an Sicherheit und Stabilität insbesondere für äußere Rahmenbedingungen“. Auch sei die Rückfallwahrscheinlichkeit und Verschlechterung stark erhöht, wenn die Lebensumstände unsicher würden. Aufgrund dieser Faktoren werde eine Weiterführung der Jugendhilfemaßnahme befürwortet, um die Therapiefortschritte zu unterstützen und eine Weiterentwicklung zur Selbstständigkeit zu fördern.
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In dem in der Akte befindlichen und von der zuständigen sozialpädagogischen Fachkraft unterschriebenen Hilfeplan des Beklagten vom … … 2018 wird festgestellt, dass hinsichtlich der Rahmenziele lediglich die berufliche Situation der Klägerin geklärt sowie ein Sozialwohnungsantrag gestellt seien. Im Übrigen seien die Rahmenziele nur teilweise bzw. nicht erreicht. Eine Veränderung der Leistung müsse nicht erfolgen, weiterer Zusatzleistungen außerhalb der Regelleistungsangebote zur Zielerreichung bedürfe es nicht. Unter „zusätzliche Vereinbarungen/Anmerkungen“ wird ausgeführt, dass die Klägerin im lebenspraktischen Bereich lediglich Unterstützungsbedarf bei behördlichen Angelegenheiten und der Beantragung finanzieller Mittel habe. Der Umgang mit Geld gestalte sich ohne Probleme. Ebenfalls könne sich die Klägerin im eigenen Haushalt gut versorgen (Haushalt, Einkaufen, Kochen, etc.), die Klägerin sei sehr selbstständig.
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Entsprechend dem in der Akte befindlichen Teamprotokoll „Weiterbewilligung“ für die Teamsitzung des Beklagten vom 19. Juni 2018 wurde von der zuständigen sozialpädagogischen Sachbearbeitung die Weiterbewilligung der Hilfemaßnahme für sechs Monate ab dem 1. August 2018 vorgeschlagen.
11
In einer E-Mail vom 27. Juni 2018 teilte der Sachbereich Familienhilfe des Beklagten der die Klägerin betreuenden Einrichtung mit, dass in dem Fachteam des Beklagten vom 19. Juni 2018 die Entscheidung getroffen worden sei, die Hilfe zu beenden. Man sehe durchaus einen Bedarf für die Klägerin, der sich allerdings im therapeutischen Rahmen befinde. Die Ziele der stationären Jugendhilfe seien erreicht. Sollte die Klägerin einen unterstützenden ambulanten Bedarf feststellen, könne sie sich gerne mit einem Motivationsschreiben an das Jugendamt wenden.
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Mit Schreiben vom 3. Juli 2018 bestellte sich der Bevollmächtigte für die Klägerin gegenüber dem Beklagten und beantragte in deren Auftrag die Fortsetzung der Hilfe für junge Volljährige gemäß §§ 41, 34 SGB VIII durch Übernahme der Kosten für die stationäre Unterbringung über den 31. Juli 2018 hinaus. Der Hilfebedarf bestehe weiterhin. Die Klägerin bedürfe insbesondere hinsichtlich des Übergangs von der schulischen in die betriebliche Ausbildung sowie der fortbestehenden familiären Konflikte der Unterstützung durch die Einrichtung.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 11. Juli 2018 lehnte der Beklagte den Antrag ab; die Hilfe für junge Volljährige ende gemäß dem Bescheid vom 14. März 2018 mit dem 31. Juli 2018. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Ziele der Jugendhilfe erreicht und der Jugendhilfebedarf ausgeschöpft seien. Da die Klägerin ab Herbst eine Ausbildungsstelle antrete und keine erheblichen Defizite in der eigenständigen Lebensführung festgestellt worden seien, sei die Hilfe mit Ablauf des Bewilligungszeitraums aus dem Bescheid vom 14. März 2018 beendet. Die Klägerin zeige eine altersentsprechende Entwicklung in ihrer Persönlichkeitsentwicklung in den Bereichen Selbstständigkeit, lebenspraktische Fähigkeiten, Organisationsvermögen, etc. Minimale Defizite könnten lediglich im Rahmen einer ambulanten Unterstützung bearbeitet werden. Ein weiterer Bedarf könne vielleicht im psychischen Bereich gesehen werden, eine entsprechende Diagnostik bezüglich des § 35a SGB VIII sei von der Klägerin selbst durch ihr Verhalten in der Fachklinik verhindert worden. Diese Diagnostik sei aber eine Grundvoraussetzung für eine derart gestaltete Jugendhilfe. Eine therapeutische und psychiatrische Unterstützung werde als notwendig angesehen. Die bisherige Hilfegewährung werde nicht mehr als geeignet angesehen. Der Antrag sei aus diesen Gründen abzulehnen.
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Der Bevollmächtigte der Klägerin erhob mit Schreiben vom 31. Juli 2018, eingegangen am 1. August 2018, Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragte zuletzt in der mündlichen Verhandlung vom 16. November 2022:
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Der Beklagte wird verpflichtet, die Klägerin unter Aufhebung des Bescheides vom 11. Juli 2018 von den Kosten in Höhe von 52.134 EUR für die Unterbringung im evangelischen … … im Wege der Hilfe für junge Volljährige freizustellen.
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Zur Begründung der Klage wurde ausgeführt, dass die familiären und persönlichen Verhältnisse der Klägerin nach wie vor labil seien. Insbesondere im Übergang von der schulischen in die berufliche Ausbildung bestehe Unterstützungsbedarf. Dies sei typischer Hilfebedarf einer Hilfe für junge Volljährige. Die Klägerin habe daher Anspruch auf Übernahme der Kosten für Hilfe für junge Volljährige gemäß § 41 Abs. 1 SGB VIII. Insoweit sei unerheblich, ob für die Ausgestaltung der Hilfe gemäß § 41 Abs. 2 SGB VIII § 34 oder § 35a SGB VIII zugrunde gelegt werde. Im Hinblick auf die Ausführungen des Beklagten zur Diagnostik gemäß § 35a SGB VIII im angefochtenen Bescheid werde darauf hingewiesen, dass die Klägerin diese zu keinem Zeitpunkt verhindert habe. Im Übrigen sei es Aufgabe des Leistungsträgers und nicht des Hilfesuchenden, gemäß § 35a Absatz 1a SGB VIII eine entsprechende Stellungnahme einzuholen.
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Mit Schreiben vom 15. November 2018 legte der Bevollmächtigte der Klägerin ein Gutachten nach § 35a SGB VIII einer Facharztpraxis für Kinder- und Jugendpsychiatrieund Psychotherapie vom 8. Oktober 2018 vor. In diesem wird ausgeführt, dass die Klägerin erstmals im Oktober 2016 und zuletzt im September 2018 in der Praxis untersucht worden sei. Als Diagnose werden emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, Borderlinetypus (ICD 10: F 60.31), schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden (ICD 10: 12.1) sowie eine deutliche Beeinträchtigung der psychosozialen Anpassung in mindestens ein oder zwei Bereichen diagnostiziert. In der Zusammenfassung und Empfehlung wird ausgeführt, dass man eine körperlich altersgemäß entwickelte, jedoch psychoemotional verjüngt wirkende 19-jährige junge Frau kennen gelernt habe. Anhand der Vorgeschichte, Zeugnisse, Exploration sowie Verhaltensbeobachtungen und Untersuchungsbefunde lasse sich bei durchschnittlicher intellektueller Leistungsfähigkeit der Vorbefund einer emotional-instabilen Persönlichkeitsentwicklung vom Typ Borderline bestätigen. Um die emotionale und persönliche Entwicklung der Klägerin zum Zeitpunkt eines neuen Lebensabschnitts mit Beginn der Ausbildung und bei der vorliegenden Diagnose möglichst positiv zu unterstützen, sehe man den Verbleib der jungen Frau innerhalb des betreuten Wohnens als elementar an. Die Klägerin sei bereits seit eineinhalb Jahren beim gleichen Träger angebunden, was innerhalb ihres von Umbrüchen gekennzeichneten Lebens eine relativ lange Zeit sei und eine vertrauensvolle Basis geschaffen habe. Neben dem betreuten Wohnen wäre es zusätzlich empfehlenswert, eine ISE-Maßnahme zu installieren, die auf Abruf in Krisenzeiten wirksam werde. Auch eine Verlängerung der Psychotherapie sei wichtig, um die Klägerin im Umgang mit ihrer Diagnose darin zu unterstützen, Stimmungsspitzen relativieren zu lernen und Probleme adäquat (und ohne Einnahme von Drogen/Alkohol) lösen zu können. Die Untersuchungsbefunde würden in ihrer Auswirkung eine deutliche Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit der Klägerin zeigen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit weiche die seelische Gesundheit dadurch für länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand ab. Somit sei die Eingliederung sowie die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt. Deshalb solle die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII vom Kostenträger geprüft werden.
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Der Beklagte beantragte mit Schreiben vom 15. November 2018,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde ergänzend zum streitgegenständlichen Bescheid ausgeführt, dass ein wesentlicher Teil der Hilfeziele erreicht worden sei. Dies betreffe insbesondere die Ziele hinsichtlich einer eigenverantwortlichen Lebensführung, welche die stationäre Unterbringung über das 18. Lebensjahr hinaus rechtfertigen würde. Die teilweise erreichten Ziele könnten mittels einer therapeutischen Anbindung alleine bewältigt bzw. mittels der angebotenen ambulanten Hilfe zielführend erreicht werden. Auch aus der Stellungnahme der Fachklinik vom 26. März 2018 ergebe sich kein Jugendhilfebedarf. Die behandelnden Ärzte kämen zum Ergebnis, dass grundsätzlich eine psychiatrische bzw. psychotherapeutische Weiterbehandlung zielführend sei. Dies erfordere aber keine pädagogische Maßnahme.
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Der Bevollmächtigte der Klägerin teilte mit Schreiben vom 13. Dezember 2021 mit, dass die Klägerin am 31. Oktober 2019 aus der Einrichtung ausgezogen sei und seit Februar 2020 mit ihrem Freund bei dessen Vater lebe. Voraussichtlich im Juni 2022 beende sie ihre Ausbildung zur Fachinformatikerin Systemintegration. Die Ausbildung sei aufgrund eines längeren Klinikaufenthalts 2020/2021 verlängert worden. Als Anlage waren eine sozialpädagogische Stellungnahme der Einrichtung vom 10. Juli 2018 ein Hilfeplanprozessbericht der Einrichtung vom 25. April sowie ein Abschlussbericht vom 18. November 2019 beigefügt.
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In dem Hilfeplanprozessbericht vom 25. April 2019 wird zusammenfassend ausgeführt, dass die Klägerin in den Monaten nach der Einstellung der Jugendhilfe durch den Beklagten immer wieder über suizidale Gedanken berichtet habe, sich aber stets von akuten Umsetzungsplänen distanziert habe. Im Oktober 2018 habe sich die Klägerin von ihrem damaligen Partner getrennt. Ab November 2019 seien bei ihr wieder verstärkt Stimmungsschwankungen und ein noch extremeres Sozialverhalten - was im Detail ausgeführt wird - zu beobachten gewesen. Die Mitbewohnerin hätte geäußert, dass sie große Angst vor der Klägerin aufgrund des massiven Sozialverhaltens habe, was letztlich zu einem Umzug der Mitbewohnerin geführt habe. In den Betreuungstreffen habe sich die Klägerin in diesen Wochen immer wieder sehr gereizt, forsch und rücksichtslos gegenüber ihren Mitmenschen gezeigt. Zudem zeigte sich die Klägerin hinsichtlich ihres Medikamentenmissbrauchs uneinsichtig, was letztendlich zu einem Betreuerwechsel führte. Ab September 2018 habe die Klägerin ihre Ausbildung als Fachinformatikerin in der Fachrichtung Systemintegration begonnen. Mit der Klägerin musste dabei thematisiert werden, was bei Betriebsfesten ein angemessenes Verhalten auch in Bezug auf den Konsum von Alkohol ist. Mehrfach wurde durch den Arbeitgeber rückgemeldet, dass sie die Probezeit nicht bestehe. Sie müsse an ihrer quirligen Art und Weise arbeiten und sich die Verhaltensweisen in einem Wirtschaftsunternehmen besser aneignen. Auch an ihrer Konzentrationsschwäche müsse die Klägerin dringend arbeiten. Diese geriet daraufhin sehr unter Druck. Mit der Klägerin seien deshalb regelmäßige Termine mit dem psychologischen Fachdienst der Einrichtung eingeführt worden. Hinsichtlich des lebenspraktischen Bereichs sei die Klägerin sehr selbstständig.
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In dem Abschlussbericht vom 18. November 2019 der Einrichtung wird hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung der Klägerin ausgeführt, dass diese sehr kommunikativ, patent und schlagfertig, jedoch auch sehr geprägt von einer Sprunghaftigkeit sei, was es sehr schwer mache, mit ihr konstruktiv, kontinuierlich und prozesshindernd an einem Thema zu arbeiten. Sie habe Schwierigkeiten gehabt Kritik anzunehmen, sich schnell nicht wertgeschätzt und missverstanden gefühlt und hierauf oft heftig reagiert, was ihr meist Konflikte mit ihren Mitmenschen ein gehandelt habe. Das sich wehrende Verhalten der Klägerin habe sich durch alle Themen und Lebensbereiche gezogen. Man habe mit der Klägerin verschiedene zukünftige Aufenthaltsmöglichkeiten thematisiert. Am 9. Oktober 2019 habe die Klägerin schließlich mitgeteilt, dass sie zu ihrem Freund in eine andere Stadt ziehen werde. Sowohl im Arbeitsbereich als auch hinsichtlich des gemeinsamen Wohnens waren vielfach Gespräche und Vermittlungen durch die Einrichtung erforderlich. Ihre psychische Verfassung wechselte schnell und war immer wieder geprägt von depressiven Einbrüchen und einer grundlegenden negativen Stimmung. Der Drogenkonsum der Klägerin war lediglich marginal Thema in der letzten Betreuungsphase, während eine tiefere Bearbeitung des übermäßigen Alkoholkonsums nicht möglich war. Die Treffen mit der Klägerin waren in der Regel mindestens einmal in der Woche. Die Klägerin sei nunmehr wesentlich stabiler als im März 2018 und in ihrer Persönlichkeit gefestigter sowie ihr Umfeld stabiler.
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Mit Beschluss vom 27. Juli 2022 bewilligte das Gericht der Klägerin unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten Prozesskostenhilfe mit der Maßgabe, dass sie monatliche Raten in Höhe von 182 EUR zu zahlen habe.
25
Der Bevollmächtigte der Klägerin legte mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2022 ein Schreiben der … … und Oberbayern vor, mit dem die offenen Kosten im Zeitraum vom 1. Oktober 2018 bis 31. Oktober 2019 mit 52.134 EUR beziffert wurden und korrigierte den Klageantrag dementsprechend auf Übernahme bzw. Erstattung dieser Kosten.
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Mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2022 beantragte der Träger der Jugendhilfeeinrichtung seine Beiladung, was mit Beschluss vom 8. November 2022 erfolgte.
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Mit Schriftsatz vom 15. November 2022 legte der Bevollmächtigte der Klägerin eine Rechnung des Beigeladenen an die Klägerin vom 4. November 2022 für Betreuungszeiten vom 1. August 2018 bis 31. Oktober 2019 in Höhe von 52.134 EUR vor.
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In der mündlichen Verhandlung vom 16. November 2022 erklärte der Beklagte hinsichtlich der Rechnung des Beigeladenen vom 4. November 2022, dass an der Höhe der Rechnung in Bezug auf die erbrachten Leistungen gegenüber der Klägerin keine Zweifel bestünden. Der Beigeladene hat bis zuletzt keinen Antrag gestellt.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 16. November 2022, den Inhalt der Gerichtsakte sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

30
Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Freistellung hinsichtlich der Forderungen des Beigeladenen für erbrachte stationäre Jugendhilfeleistungen vom 1. August 2018 bis 31. Oktober 2019 nach § 36a SGB VIII in Verbindung mit § 35a, 41 SGB VIII. Der ablehnende Bescheid vom 11. Juli 2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, sodass er aufzuheben war, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
31
Der Klage ist der in der mündlichen Verhandlung gestellte Klageantrag auf Verpflichtung des Beklagten zur Freistellung der Kosten für eine in der Vergangenheit liegende selbstbeschaffte Maßnahme zugrunde zu legen.
32
Für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist im vorliegenden Verfahren auf den Zeitpunkt bis zu dem Auszug der Klägerin aus der Jugendhilfeeinrichtung abzustellen. Zwar ist regelmäßig im Rahmen von Verpflichtungsklagen - wozu auch die Klage auf Kostenerstattung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII zählt (vgl. VG München, U.v. 7.7.2021 - M 18 K 18.2218 - juris Rn. 66 m.w.N.) - auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abzustellen. Vorliegend hat der Beklagte jedoch erkennbar mit dem Bescheid vom 11. Juli 2018 auch eine Entscheidung für den gesamten zukünftigen Zeitraum getroffen und an dieser Entscheidung - trotz Vorlage weiterer Unterlagen im Klageverfahren - bis zur mündlichen Verhandlung festgehalten.
33
Nach § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten für eine Hilfe grundsätzlich nur dann zu übernehmen, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Eine solche positive Entscheidung des Beklagten liegt vorliegend nicht vor.
34
Für den Fall, dass Hilfen abweichend von § 36a Abs. 1 und 2 SGB VIII vom Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn (1.) der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat, (2.) die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und (3.) die Deckung des Bedarfs (a) bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder (b) bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat.
35
§ 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sichert mit diesen Tatbestandsvoraussetzungen die Steuerungsverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe; dieser soll die Leistungsvoraussetzungen sowie mögliche Hilfemaßnahmen unter Zubilligung eines angemessenen Prüfungs- und Entscheidungszeitraums jeweils pflichtgemäß prüfen können und nicht nachträglich als bloße Zahlstelle für selbstbeschaffte Maßnahmen fungieren (BayVGH, B.v. 25.6.2019 - 12 ZB 16.1920 - juris Rn. 35). Liegt hingegen ein Systemversagen in dem Sinne vor, dass das Jugendamt gar nicht, nicht rechtzeitig oder nicht in einer den Anforderungen entsprechenden Weise über eine begehrte Hilfeleistung entschieden hat, darf ein Leistungsberechtigter im Rahmen der Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII an Stelle des Jugendamtes den sonst diesem zustehenden und nur begrenzt gerichtlich überprüfbaren Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. In dieser Situation ist er - obgleich ihm der Sachverstand des Jugendamts fehlt - dazu gezwungen, im Rahmen der Selbstbeschaffung eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu treffen mit der Folge, dass sich die Verwaltungsgerichte hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbstbeschafften Hilfe auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung des Leistungsberechtigten zu beschränken haben. Ist die Entscheidung des Leistungsberechtigten in diesem Sinne fachlich vertretbar, kann ihr im Nachhinein nicht etwa mit Erfolg entgegnet werden, das Jugendamt hätte eine andere Hilfe für geeignet oder notwendig gehalten (BVerwG, U.v. 18.10.2012 - 5 C 21/11 - juris Rn. 33 f.; U.v. 9.12.2014 - 5 C 32/13 - juris m.w.N.).
36
Die Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sind für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. August 2018 bis 31. Oktober 2019 erfüllt.
37
1) Die Klägerin hat sich im Sinne des § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII die streitgegenständliche stationäre Jugendhilfe selbst beschafft und der Beklagte war durch das laufende Hilfeplanverfahren hinreichend über den Wunsch der Klägerin auf Weiterbewilligung der Maßnahme über den 31. Juli 2018 hinaus informiert. Dementsprechend ist vorliegend bezüglich der in Kenntnissetzung des Beklagten nicht erst auf den am 3. Juli 2018 förmlich gestellten Antrag auf Fortsetzung der Maßnahme durch den Bevollmächtigten der Klägerin abzustellen.
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2) Zudem lagen während des gesamten Zeitraums die Voraussetzungen für die Gewährung einer Hilfe für junge Erwachsene nach § 41 SGB VIII a.F. i.V.m. § 34 SGB VIII sowie zudem ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII i.V.m. § 41 SGB VIII vor, § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII. Der Beurteilungsspielraum hinsichtlich der geeigneten Maßnahme ist zudem aufgrund des Systemversagens des Beklagten auf die Klägerin übergegangen.
39
2.1) Nach § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (in der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung vom 11.9.2012 - im Folgenden: a.F.) soll jungen Volljährigen Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Für die Ausgestaltung der Hilfe gelten nach § 41 Abs. 2 SGB VIII a.F. § 27 Absatz 3 und 4 sowie die §§ 28 bis 30, 33 bis 36, 39 und 40 SGB VIII entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Personensorgeberechtigten oder des Kindes oder des Jugendlichen der junge Volljährige tritt.
40
Die Klägerin hatte während des streitgegenständlichen Zeitraums einen Anspruch auf Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII a.F., da ihre Persönlichkeitsentwicklung zu einer eigenverantwortlichen und selbstständigen Lebensführung noch nicht gewährleistet war.
41
Der Vertreter des Beklagten erklärte in der mündlichen Verhandlung vom 16. November 2022, dass der Beklagte im Rahmen seiner Beurteilung zwar die Voraussetzungen des § 41 SGB VIII a.F. als erfüllt ansah, jedoch eine stationäre Jugendhilfeleistung als nicht mehr erforderlich erachtet habe. In der Begründung des streitgegenständlichen Bescheides vom 11. Juli 2018 wird hierzu ausgeführt, dass „die Ziele der Jugendhilfe erreicht und der Jugendhilfebedarf ausgeschöpft“ seien, „keine erheblichen Defizite in der eigenständigen Lebensführung festgestellt“ worden seien, die Klägerin „eine altersentsprechende Entwicklung in ihrer Persönlichkeitsentwicklung in den Bereichen Selbstständigkeit, lebenspraktische Fähigkeiten, Organisationsvermögen etc.“ zeige und „minimale Defizite lediglich im Rahmen einer ambulanten Unterstützung bearbeitet“ werden könnten. Unabhängig davon, dass diese Ausführungen hinsichtlich des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen des § 41 SGB VIII a.F. teilweise widersprüchlich erscheinen, verkennt der Beklagte bei seiner Beurteilung die im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung zu berücksichtigenden Kompetenzen. Zwar hat der Gesetzgeber erst mit der Neufassung des § 41 SGB VIII zum 3. Juni 2021 (BGBl. I, S. 1444) das Tatbestandsmerkmal der Persönlichkeitsentwicklung hin zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und selbstständigen Lebensführung ergänzt, insoweit handelt es sich jedoch lediglich um eine Präzisierung der bereits zuvor geltenden Rechtslage (vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 19/26107, S. 94; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert/Andreas Dexheimer, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 41 Rn. 3).
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In der sozialpädagogischen Praxis gilt eine Persönlichkeitsentwicklung dann als geglückt, wenn ein junger Mensch stabile, selbstakzeptierte und gesellschaftlich anschlussfähige Wahrnehmungs-, Denk-, Erlebens- und Verhaltensweisen entwickelt hat. Daher sind u.a. folgende Kriterien für die Beurteilung des Stands der Persönlichkeitsentwicklung relevant: Differenzierte und realitätsgerechte Wahrnehmung der eignen Personen und Umwelt, Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein, positives Selbstbild, autonome Entscheidungsfindung, emotionale Ausdrucksmöglichkeit, Impuls- und Affektkontrolle, situations- und personenangemessenes Verhalten (LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert/Andreas Dexheimer, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 41 Rn. 7). Eine Hilfe ist etwa dann notwendig, wenn der junge Erwachsene angesichts individueller Beeinträchtigungen (z.B. psychischer oder physischer Belastungen, Abhängigkeiten, Delinquenz, Behinderungen) oder sozialer Benachteiligungen (v.a. fehlender schulischer oder beruflicher Ausbildung) nicht zu gesellschaftlicher Integration in der Lage ist oder ihm die Fähigkeit fehlt, die Anforderungen des täglichen Lebens zu bewältigen bzw. Konfliktsituationen in altersgemäß üblicher Art und Weise überwinden zu können. Notwendig ist die Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung mithin dann, wenn eine Hilfe zur Erziehung oder Eingliederungshilfe bei Eintritt der Volljährigkeit noch nicht abgeschlossen ist, eine Entwicklungsverzögerung aufgrund einer Suchtmittelabhängigkeit festzustellen ist, ein akutes Abgleiten in das Drogenmilieu oder in Kriminalität zu befürchten ist oder eine Ausbildungs- oder Beschäftigungsmaßnahme noch nicht beendet ist (Berneiser in Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkommentar Sozialrechtsberatung, 2. Aufl. 2018, § 41 SGB VIII, Rn. 6 f.). Lediglich das Abstellen auf die Fähigkeit der eigenständigen Haushaltsführung, ein guter Umgang mit finanziellen Mitteln sowie eine positive Zukunftsprognose mit einer Berufsausbildung (so der Beklagte in seiner Klageerwiderung vom 15. November 2018) können dementsprechend eine altersgerechte Persönlichkeitsentwicklung (mit nur noch „minimalen Defiziten“) nicht ausreichend begründen (siehe aber hierzu: BeckOK SozR/Winkler, 66. Ed. 1.9.2022, SGB VIII § 41 Rn. 7.1 wonach in der Literatur vorgeschlagen werde, als maßgebliche Kriterien der Verselbstständigung den Lebensunterhalt, Wohnung, Gesundheit, Bildung sowie Informationsmöglichkeiten heranzuziehen), vielmehr beurteilt sich dies auch anhand der Fähigkeit ein altersentsprechendes Verhalten in der Schule und am Arbeitsplatz sowie der Freizeit- und Urlaubsgestaltung zu zeigen (Winkler in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, Stand 1.9.2020, § 41 SGB VIII Rn. 7a).
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Gerade diese Kriterien waren bei der Klägerin jedoch erheblich beeinträchtigt. Neben ihren existenziellen Ängsten und phasenweise auftretenden Medikamentensowie Alkoholmissbrauchs zeigte die Klägerin besondere Auffälligkeiten im Sozialverhalten die regelmäßig zu erheblichen Konfliktsituationen führten. Die Beurteilung durch den Beklagten, dass hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung lediglich minimale Defizite vorlägen, ist dementsprechend fehlerhaft. Hierauf beruht die - dementsprechend ebenso fehlerhafte - Beurteilung des Beklagten, dass bei der Klägerin lediglich ein geringfügiger ambulanter Hilfebedarf gegeben sei, was schließlich zu der Ablehnung der beantragten Leistung führte. Bereits aufgrund dieser nicht den Anforderungen entsprechenden Entscheidung über eine begehrte Hilfeleistung liegt ein Systemversagen bei dem Beklagten im Sinne der Rechtsprechung (s.o.) vor.
44
2.2) Der Beurteilungsspielraum hinsichtlich der geeigneten Hilfe ging daher auf die Klägerin über.
45
Zwar kommt grundsätzlich dem Jugendhilfeträger bei der Entscheidung, welche Hilfeform im Einzelfall geeignet und erforderlich ist, ein rechtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Denn nach ständiger Rechtsprechung unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Maßnahme einem kooperativen sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung der Fachkräfte des Jugendamts und des betroffenen Hilfeempfängers, der nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern vielmehr eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation beinhaltet, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich in diesem Fall darauf, dass allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden, keine sachfremden Erwägungen in die Entscheidung eingeflossen und der oder die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist daher nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (OVG SH, B.v. 3.2.2021 - 3 MB 50/20 - juris Rn. 11, BayVGH, B.v. 6.2.2017 - 12 C 16.2159 - juris Rn. 11 m.w.N.).
46
Liegt jedoch ein Systemversagen vor, so darf ein Leistungsberechtigter, wie bereits dargestellt, im Rahmen der Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII an Stelle des Jugendamtes den sonst diesem zustehenden Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. Die selbstbeschaffte Hilfe ist sodann in Hinblick auf ihre Geeignetheit und Erforderlichkeit lediglich einer fachlichen Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung des Leistungsberechtigten zu unterziehen.
47
Die Entscheidung der Klägerin, trotz der ablehnenden Bescheidung durch den Beklagten, weiterhin in der stationären Einrichtung des Beigeladenen zu verbleiben und dessen Leistungen im Umfang wie zuvor in Anspruch zu nehmen, erscheint zumindest vertretbar.
48
Aufgrund des vielfach bestehenden weiteren jugendhilferechtlichen Bedarfs der Klägerin im Rahmen ihrer Persönlichkeitsentwicklung (s.o.) durfte die Klägerin davon ausgehen, dass sie weiterhin einer stationären Unterbringung nach § 41 SGB VIII a.F. i.V.m. § 34 SGB VIII bedurfte.
49
Zwar hat die Einrichtung sowohl in dem Hilfeplanprozessbericht vom 25. April 2018 als auch nochmals in einer E-Mail vom 6. Juni 2018 an den Beklagten ausgeführt, dass aufgrund der instabilen Verfassung und des hohen Bedarfs der Klägerin eine Beendigung der Jugendhilfe nicht zu verantworten sei, sondern vielmehr eine intensivere Betreuungsform für die Klägerin mit einem Ansprechpartner rund um die Uhr für dringend erforderlich erachtet werde. Aufgrund der Weigerung des Beklagten, der Klägerin weiterhin stationäre Hilfe zu bewilligen, ist davon auszugehen, dass es der Klägerin jedoch als Selbstzahlerin und ohne entsprechenden Bewilligungsbescheid durch den Beklagten tatsächlich nicht möglich gewesen wäre, einen Betreuungsvertrag mit einer anderen Einrichtung mit intensiverer Betreuung - welche wohl zum damaligen Zeitpunkt geeigneter gewesen wäre - abzuschließen. Dementsprechend ist die Entscheidung der Klägerin - wohl insbesondere auf der Beratung des Beigeladenen und dessen Bereitschaft beruhend, sie weiterhin in der Einrichtung zu betreuen - dort weiter zu verbleiben, vertretbar.
50
Auch wenn die Klägerin und der Beigeladene über diese weitere Betreuung keinen förmlichen Vertrag insbesondere auch mit der Klärung der finanziellen Folgen geschlossen haben, ist zumindest von einem konkludenten Vertragsschluss hinsichtlich einer kostenpflichtigen Leistung durch den Beigeladenen auszugehen.
51
Der Beigeladene führte hierzu in dem Hilfeplanprozessbericht vom 25. April 2019 lediglich aus, dass die Klägerin gegen die Entscheidung des Beklagten Klage eingereicht habe und weiterhin im Rahmen des Betreuten Wohnens betreut werde. In dem Abschlussbericht des Beigeladenen vom 18. November 2019 wird ergänzend erwähnt, dass der Beigeladene sich - auch wenn das Jugendamt die Hilfe nicht mehr bewilligt habe - nach den regulären Standards verhalten und sich darauf eingestellt habe, dass der Aufenthalt der Klägerin an ihrem 21. Geburtstag zum 21. März 2020 ende. Nachdem der Klägerin von dem Beigeladenen offenbar zumindest aufgezeigt wurde, dass sie für eine weitere Betreuung durch den Beigeladenen gegen den Beklagten Klage erheben müsse, ist davon auszugehen, dass diesem Rat zugrunde lag, dass der Beklagte hierdurch zu einer nachträglichen Bewilligung bzw. Übernahme der der Klägerin durch die weitere Betreuung entstehenden Kosten verpflichtet wird. Schließlich hat der Beigeladene, wenn auch erst nach gerichtlichem Hinweis, mit Rechnungsdatum vom 4. November 2022 gegenüber der Klägerin die Kosten der Betreuung geltend gemacht.
52
2.3) Neben dem Anspruch der Klägerin auf Hilfe für junge Erwachsene nach § 41 SGB VIII a.F. in Verbindung mit § 34 SGB VIII hatte die Klägerin zudem während des gesamten streitgegenständlichen Zeitraums auch einen Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe für junge Erwachsene nach § 41 SGB VIII a.F. i.V.m. § 35a SGB VIII in der Fassung vom 23.12.2016 (im Folgenden: a.F.).
53
Der Beklagte hat es insoweit fehlerhaft gänzlich unterlassen, das Vorliegen dieses Anspruchs überhaupt zu prüfen, sodass bereits aus diesem Grund ein Systemversagen vorliegt.
54
Ein Anspruch auf Eingliederungshilfe besteht, wenn die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Das Abweichen der seelischen Gesundheit nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII a.F. ist gemäß § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII a.F. durch die Stellungnahme eines Facharztes festzustellen. Welche Hilfeform im Rahmen des Anspruchs aus § 35a Abs. 1 SGB VIII a.F. geleistet wird, richtet sich nach dem jeweiligen Bedarf im Einzelfall, vgl. § 35a Abs. 2 und 3 SGB VIII a.F.
55
Der Beklagte hat bereits bei dem vorausgehenden Hilfeverfahren fehlerhaft unberücksichtigt lassen, dass bei der Klägerin hinreichende Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass ein Anspruch auf Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII a.F. bestehen könnte. Es wäre daher im Rahmen seiner Amtsermittlung Aufgabe des Beklagten gewesen, eine ärztliche Stellungnahme nach § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII einzuholen. Hingegen ist die Beurteilung des Beklagten im Bescheid vom 11. Juli 2018, dass die Klägerin eine solche Diagnostik verhindert habe, sachlich falsch. Lediglich aus der eigenmächtigen Entlassung der Klägerin aus der psychiatrischen Klinik, durfte und konnte der Beklagte nicht schließen, dass die Klägerin sich einer Gutachtenerstellung verweigern würde. Zudem wäre es Aufgabe des Beklagten gewesen, die Klägerin hierzu zunächst aufzufordern und gegebenenfalls im Fall einer Weigerung die entsprechenden Konsequenzen in Bezug auf die Jugendhilfeleistungen aufzuzeigen.
56
Schließlich legte die Klägerin im gerichtlichen Verfahren am 15. November 2018 über ihren Bevollmächtigten ein Gutachten eines Facharztes nach § 35a Absatz 1a SGB VIII a.F. vom 8. Oktober 2018 vor, wonach bei der Klägerin die seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht. Entgegen seiner Verpflichtung hat der Beklagte dieses Gutachten vollständig negiert und an seiner ablehnenden Entscheidung festgehalten.
57
Das Gericht geht davon aus, dass die Tatbestandsvoraussetzung nach § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII a.F., welche durch das Gutachten vom 8. Oktober 2018 bestätigt wurde, bereits zu Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums ebenfalls vorlagen. Insoweit finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Situation der Klägerin von 1. August 2018 bis zur Erstellung des Gutachtens im Oktober 2018 bzw. der letzten Untersuchung der Klägerin laut Gutachten im September 2018, wesentlich verändert hat.
58
Unzweifelhaft lag bei der Klägerin auch eine hierauf beruhende Teilhabebeeinträchtigung entsprechend § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII a.F. vor.
59
Eine Teilhabebeeinträchtigung ist insbesondere gegeben, wenn dem behinderten jungen Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in sozialer, schulischer oder aber beruflicher Hinsicht erschwert ist, mithin die Integrationsfähigkeit des jungen Menschen beeinträchtigt ist. Hierfür genügt, wenn sich die Störung in einem der relevanten Lebensbereiche auswirkt. Allerdings muss die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sein, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt. Es muss damit eine bestimmte Erheblichkeitsschwelle überschritten werden (LPK-SGB VIII/Jan Kepert/Andreas Dexheimer, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 35a Rn. 19). Die Klägerin hatte aufgrund ihrer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung und der deutlichen Beeinträchtigung ihrer psychosozialen Anpassung eine Vielzahl von erheblichen Konflikten in ihrem sozialen Umfeld, die regelmäßig zu Eskalationen und dem Erfordernis des Einschreitens von Dritten zur Schlichtung führten.
60
Aufgrund des fehlerhaften Verhaltens des Beklagten, einen Anspruch der Klägerin auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII a.F. in Verbindung mit § 41 SGB VIII a.F. überhaupt nicht zu prüfen, ist auch insoweit hinsichtlich der Wahl der geeigneten Maßnahme der Beurteilungsspielraum auf die Klägerin übergegangen.
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2.4) Schließlich erachtet das Gericht auch das Hilfeplanverfahren im Übrigen für nicht sachgerecht, so dass auch darin ein Systemversagen zu sehen ist.
62
Gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII in der Fassung vom 11.9.2012 (im Folgenden: a.F.). i.V.m. § 41 Abs. 2 SGB VIII a.F. ist der junge Erwachsene vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe und vor einer notwendigen Änderung von Art und Umfang der Hilfe zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung hinzuweisen. § 36 Abs. 2 SGB VIII a.F. regelt, dass die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden soll. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe sollen die Fachkräfte zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen bzw. dem jungen Erwachsenen einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält; sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist.
63
Aus dieser Regelung folgen ein subjektiv-rechtlicher Anspruch des Leistungsberechtigten auf qualifizierte Beteiligung im Hilfeplanverfahren und dem korrespondierend eine Pflicht zur Beteiligung auf Seiten des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. Dem Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe ist in sämtlichen Aufgabenfeldern immanent, Kinder, Jugendliche, junge Volljährige und Eltern in der Wahrnehmung ihrer Subjektstellung zu unterstützen bzw. hierzu zu befähigen (vgl. Gesetzesbegründung zum KJSG, BT-Drs. 19/26107, S. 1). Jugendhilfemaßnahmen sind keine Instrumente staatlichen Eingriffs bzw. keine einseitige Entscheidung des Jugendamtes, sondern Leistungen bzw. Angebote an die Betroffenen, bei deren Art, konkreter Ausgestaltung und Inanspruchnahme der Personensorgeberechtigte bzw. im vorliegenden Fall der junge Erwachsenen mitgestalten und darüber mitentscheiden soll. Die Einbeziehung ist ein entscheidendes Element der Leistungsgewährung im Kinder- und Jugendhilferecht. Beteiligung meint nicht nur die Mitwirkung bei der Feststellung bzw. Ermittlung von etwaigen Tatbestandsvoraussetzungen, sondern setzt eine aktive Mitwirkung, eine Partizipation der Betroffenen im Rahmen eines interaktiv gestalteten Prozesses voraus. Die Information bzw. Beratung muss so umfassend sein, dass die Leistungsberechtigten verstehen und nachvollziehen können, dass, warum und welche Maßnahme gerade in ihrem Bedarfsfall geeignet und notwendig ist (von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 36 SGB VIII (Stand: 20.05.2021), Rn. 12). Dementsprechend ist auch bei der Selbstbeschaffung einer aus fachlichen Gründen abgelehnten bzw. vom Hilfeplan ausgeschlossenen Leistung im Hinblick auf § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII a.F. zu prüfen, ob der vom Jugendamt aufgestellte Hilfeplan (bzw. das Hilfekonzept) verfahrensfehlerfrei zustande gekommen, nicht von sachfremden Erwägungen beeinflusst und fachlich vertretbar ist. Diese Prüfung erstreckt sich dabei nicht auf eine reine Ergebniskontrolle, sondern erfasst auch die von der Behörde gegebene Begründung (vgl. hierzu ausführlich: VG München, U.v. 7.7.2021 - M 18 K 18.2218 - juris Rn. 98 f. m.w.N.).
64
Unabhängig davon, auf Grund welcher Überlegungen der Beklagte in der Teamsitzung vom 19. Juni 2018 entgegen des dieser Sitzung zugrundeliegenden Hilfeplanprotokolls zu der Entscheidung gelangte, die Weiterbewilligung abzulehnen, entspricht die Kommunikation mit der Klägerin im Rahmen des Hilfeverfahrens nicht den oben genannten Anforderungen. Bereits das Vorgehen des Beklagten, nach einem letzten persönlichen Gespräch mit der Klägerin im Hilfeplangespräch vom … … 2018, bei dem wohl eine Verlängerung der stationären Hilfeleistung zumindest als fachlich geeignet kommuniziert wurde, die Klägerin persönlich im Folgenden lediglich durch die Zustellung des Bescheides vom 11. Juli 2018 über die Entscheidung, die Maßnahme nunmehr kurzfristig zu beenden, zu informieren, entspricht nicht den sozialpädagogischen Standards. Zudem hat es der Beklagte gänzlich unterlassen, die mehrfachen fachlichen Stellungnahmen der die Klägerin betreuenden Einrichtung, der Therapeutin der Klägerin vom 22. März 2018 sowie des Berichts der Klinik vom 26. März 2018 in dem Bescheid zu würdigen und die Klägerin damit in die Lage zu versetzen, die von dem Beklagten angestellten Erwägungen nachvollziehen zu können und darauf beruhend beurteilen zu können, ob eine Selbstbeschaffung dennoch gerechtfertigt erscheint.
65
3) Schließlich hat die Deckung des Bedarfs der Klägerin auch keinen zeitlichen Aufschub geduldet, § 36 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII.
66
Der Klägerin war ein Abwarten über das Rechtsmittel gegen die ablehnende Entscheidung bzw. ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren nicht zumutbar (vgl. LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Andreas Pattar, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 36a Rn. 19 f.; von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 36a SGB VIII (Stand: 01.08.2022), Rn. 63). Die grundsätzliche Möglichkeit im Eilverfahren durch eine einstweilige Anordnung den Bedarf zu decken, schließt eine Selbstbeschaffung jedenfalls dann nicht aus, wenn der Eilrechtsschutz unzumutbar ist, d.h., wenn mit der Inanspruchnahme des Eilrechtsschutzes eine rechtzeitige Abhilfe nicht erwartet werden kann (OVG Lüneburg, B.v. 9.11.2022 - 14 ME 310/22 - juris Rn. 41).
67
Hiervon ist vorliegend auszugehen. Der Hilfedarf der Klägerin war dringlich. Der Beklagte hat erst mit Bescheid vom 11. Juli 2018, zugestellt am 13. Juli 2018, der Klägerin gegenüber (abschließend) erklärt, dass keine Weiterbewilligung erfolgt und die Hilfebewilligung zum 31. Juli 2018 endet. Der Klägerin war in diesem kurzen Zeitraum nicht zuzumuten, bis zu einer gerichtlichen Entscheidung - auch nicht im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO - eine alternative Wohnform zu suchen und zu finden. Der Klägerin war es aufgrund der familiären Bedingungen und ihrer psychischen Belastungen auch nicht zumutbar, bis zu einer gerichtlichen Entscheidung vorübergehend ggf. bei ihrer Mutter zu wohnen.
68
4) Nachdem die Tatbestandsvoraussetzungen nach § 36a Abs. 3 SGB VIII damit vor lagen ist der Beklagte als Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen der Klägerin in Form der Freistellung von der Forderung des Beigeladenen verpflichtet.
69
Unabhängig davon, ob man davon ausgeht, dass der Aufwendungsersatzanspruch vom Umfang her darauf gerichtet ist, dass die Kosten zu ersetzen sind, die dem Jugendamt im Falle rechtzeitiger und rechtmäßiger Hilfegewährung entstanden wären, oder anknüpfend an den Rechtsgedanken des Aufwendungsersatzes im zivilrechtlichen Auftragsrecht (§ 670 BGB, ggf. i.V.m. § 683 BGB) davon ausgeht, dass dem Leistungsberechtigten die durch die Selbstbeschaffung der Hilfe tatsächlich entstandenen Aufwendungen zu ersetzen sind, müssen die Aufwendungen dem Berechtigten tatsächlich entstanden sein, d.h., es muss zu einer Deckung seines Hilfebedarfs gekommen sein (vgl. von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 36a SGB VIII (Stand: 01.08.2022), Rn. 65 m.w.N.).
70
Eine solche Deckung des Hilfebedarfs der Klägerin ist erfolgt. Wie oben ausgeführt, ist auch davon auszugehen, dass die Klägerin hierfür zumindest konkludent einen zivilrechtlichen Vertrag mit dem Beigeladenen geschlossen hat. Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin zum damaligen Zeitpunkt für einen solchen Vertragsschluss nicht geschäftsfähig war, liegen nicht vor. Allerdings hat die Klägerin für die von ihr selbst beschaffte Maßnahme bisher keine Zahlung geleistet, sodass ihr auch kein Anspruch auf Kostenerstattung zusteht. Vielmehr wandelt sich in diesem Fall der Anspruch der Klägerin auf Übernahme der erforderlichen Aufwendungen für ihre stationäre Unterbringung vom 1. August 2018 bis 31. Oktober 2019 nach § 36a Abs. 3 SGB VIII a.F. in einen Anspruch auf Befreiung von dieser Verbindlichkeit, § 257 BGB.
71
Spätestens mit der Rechnungsstellung des Beigeladenen vom 4. November 2022 wurden die Verbindlichkeit nach Grund und Höhe eindeutig bezeichnet. Auch hinsichtlich der in Rechnung gestellten Gesamtkosten bestehen keine durchgreifenden Zweifel, dass diese Kosten von der Klägerin als Leistungsberechtigte geschuldet sind (Axel Stähr in: Hauck/Noftz SGB VIII, § 36a Steuerungsverantwortung, Selbstbeschaffung, Rn. 44; OLG Frankfurt, U.v. 15.8.2014 - 4 U 223/13 -juris Rn. 24). In Bezug auf den in Rechnung gestellten Zeitraum bis 31. Oktober 2019 trotz vorherigen Auszugs der Klägerin aus der Einrichtung, konnte der Beigeladene dies in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar erläutern. Schließlich hat auch der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom 16. November 2022 nach Erörterung der Einzelpunkte erklärt, dass gegen die Höhe der in der Rechnung vom 4. November 2022 angesetzten Kosten keine Einwände erhoben werden. Soweit der Beklagte jedoch auf die Reduzierung des Tagessatzes bei Abwesenheit des Leistungsempfängers gemäß dem Rahmenvertrag für stationäre Leistungen verwiesen hat, kann er mit diesem Argument nicht durchdringen. Unabhängig davon, ob die Klägerin entsprechende Abwesenheiten hatte - was in der mündlichen Verhandlung sowohl von der Klägerin als auch dem Beigeladenen verneint wurde - findet dieser, zwischen den Jugendhilfeeinrichtungen und den Jugendämtern geschlossene Rahmenvertrag im Fall der Selbstbeschaffung keine unmittelbare Anwendung (siehe auch: OVG Lüneburg, B.v. 9.11.2022 - 14 ME 310/22 - juris Rn. 45).
72
Der Klage war daher vollumfänglich stattzugeben.
73
Allerdings weist das Gericht ergänzend darauf hin, dass auch für selbstbeschaffte Maßnahme im Fall der Verpflichtung des Jugendamtes zur Kostenübernahme nach § 36a Abs. 3 SGB VIII, wie vorliegend, eine Kostenbeitragspflicht nach §§ 91 ff. SGB VIII gegeben sein kann (VG München, U.v. 7.7.2021 - M 18 K 18.2218 - juris Rn. 119 m.w.N.).
74
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
75
Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 188 Satz 2 VwGO.
76
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung - ZPO.