Titel:
rechtmäßige Ausweisung bei bestandskräftig festgestellten Abschiebungsverbote
Normenketten:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, § 25 Abs. 2, Abs. 3 S. 3 Nr. 2, § 26 Abs. 4, § 53, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1 lit. b Alt. 2, § 55, § 60 Abs. 5
AEUV Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2
Rückführungs-RL Art. 6 Abs. 1
ERMK Art. 8
Leitsätze:
1. Nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Ausnahme zur Regel-Erteilungsnorm des § 25 Abs. 3 S. 1 und S. 3 Nr. 2 AufenthG soll verhindert werden, dass schwere Straftäter und Gefährder, deren Aufenthalt nicht beendet werden kann, einen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland erhalten, ohne vom Abschiebungsschutz ausgeschlossen zu werden. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein bloßes positives Verhalten in der Haft oder Unterbringung lässt noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen könnte. (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Syrischer Staatsangehöriger, Abgelehnter Asylbewerber mit widerrufenem internationalem Schutz und derzeitiger Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Syriens, Schwere Betäubungsmitteldelikte, Suchtmitteltherapie im Maßregelvollzug, Versagung einer weiteren Aufenthaltserlaubnis und einer Niederlassungserlaubnis, Inlandsbezogene Ausweisung, Aufschiebend bedingte Abschiebungsandrohung mit Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, Syrer, Niederlassungserlaubnis, Versagung der Aufenthaltserlaubnis, Ausweisung, faktischer Inländer, RL 2008/115/EG
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 04.09.2023 – 10 ZB 22.2540
Fundstelle:
BeckRS 2022, 38035
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Tatbestand:
Tatbestand
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Der am ... 1998 in Daraa (Syrien) geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Er begehrt eine Niederlassungserlaubnis bzw. eine Neuerteilung/Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis und wendet sich gegen seine Ausweisung mit Nebenbestimmungen.
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Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts im Asylerstverfahren des Klägers (vgl. VG Augsburg, Gb. v. 16.11.2017 - Au 4 K 17.34608 - Rn. 1 ff.) reiste dieser im Jahr 2015 über die Türkei, Griechenland und Österreich nach Deutschland und beantragte noch als Minderjähriger Asyl. Darauf erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) dem Kläger nach Anhörung mit Bescheid vom 13. Juni 2016 den subsidiären Schutzstatus zu und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab. Der Kläger erhielt am 30. November 2016 erstmals eine Aufenthaltserlaubnis entsprechend seinem subsidiären Schutzstatus.
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Der Kläger ließ diesen Bescheid teilweise bestandskräftig werden und am 29. Juni 2016 Klage zum Verwaltungsgericht Augsburg erheben und (sinngemäß) die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz beantragen. Dieses Verfahren wurde unter dem Aktenzeichen Au 2 K 16.30928 geführt, mit Beschluss vom 27. Januar 2017 statistisch erledigt und am 15. September 2017 neu aufgerufen und unter dem Aktenzeichen Au 4 K 17.34608 fortgeführt.
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Das Verwaltungsgericht verpflichtete die Bundesrepublik Deutschland, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen (vgl. VG Augsburg, Gb. v. 16.11.2017 - Au 4 K 17.34608). Das Urteil wurde rechtskräftig und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkannte dem Kläger mit Bescheid vom 19. Januar 2018 die Flüchtlingseigenschaft zu. Daraufhin erteilte die Ausländerbehörde dem Kläger am 30. Januar 2018 einen Reiseausweis für Flüchtlinge und eine Aufenthaltserlaubnis gültig bis 29. Januar 2021 (Behördenakte Band I Bl. 201).
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Der Kläger befand sich seit dem 12. September 2019 zunächst in Untersuchungs- und anschließend in Strafhaft und befindet sich derzeit im - durch den Zwischenvollzug einer sechsmonatigen Haftstrafe unterbrochenen - Maßregelvollzug auf Grund folgender Verurteilung:
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- LG Augsburg, U.v. 11.9.2020 - J KLs 303 Js 121401/19 - Behördenakte Band III Bl. 87 ff.): Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren mit Unterbringung in einer Entziehungsanstalt unter Vorwegvollzug von zwei Jahren u.a. wegen gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sieben Fällen. Den Urteilsgründen ist zu entnehmen:
Zu den persönlichen Verhältnissen des Klägers: Die Familie des Klägers sei mit ihm im Alter von 14 Jahren wegen des Krieges in Syrien nach Jordanien geflohen, wo er teils die Schule besucht habe und teils als ungelernte Arbeitskraft erwerbstätig gewesen sei. Im Jahr 2015 sei er über die Türkei, Griechenland und Österreich nach Deutschland gereist und habe hier Asyl beantragt. In Deutschland habe er einen Sprachkurs und anschließend die Berufsschule besucht, jedoch ein Praktikum nicht abgeschlossen und auch keinen weiterführenden Deutschkurs. Der Kläger sei ledig und habe keine Kinder. Er sei mit einer in Deutschland lebenden Frau befreundet. Bereits in der Gemeinschaftsunterkunft sowie bei seinem ersten Deutschkurs habe er über Bekannte Kontakt zu Drogen bekommen und im Juli 2017 mit dem Rauchen von Marihuana begonnen, ab dem Jahr 2018 auch Ecstasy und ab dem Jahr 2019 auch Kokain konsumiert. Zuletzt habe er nach seinen Angaben etwa drei bis vier Mal pro Woche Kokain in Mengen von 2 g bis 3 g pro Tag konsumiert, ansonsten Ecstasy, hauptsächlich am Wochenende. Er sei auch soweit steuerungsfähig gewesen, dass er insbesondere am Wochenende und nur konsumierte, wenn er wusste, nicht Auto fahren zu müssen und erst nach seinem Training im Fitnessstudio. Über den Bekannten sei der Kläger zunehmend in den Handel mit Betäubungsmitteln involviert worden und habe ihn bei Beschaffungsfahrten begleitet und unterstützt. Schließlich sei der Kläger dazu übergegangen, selbstständig Betäubungsmitteln zu besorgen und gewinnbringend zu verkaufen, wobei er mit später Mitangeklagten zusammengearbeitet habe.
Zu den Strafvorwürfen: So veräußerte der Kläger im Juli 2019 etwa 3 kg Marihuana zum Preis von 9.000 Euro auf Kommission an einen Weiterverkäufer; im August 2019 veräußerte er 100 g Marihuana, ebenso weitere zwei Tage später. Im August 2019 war er Mittäter bei einer von ihm versprochenen Lieferung von 1000 g Amphetaminen, 500 g Marihuana und 1 g Kokain zwecks Weiterverkaufs. Im September 2019 veräußerte sein Mittäter für ihn 250 g Marihuana sowie im September 2019 weitere 1000 g Marihuana. Im September 2019 beschaffte er auf einer Beschaffungsfahrt nach Berlin mit seinen Mittätern über 3,8 kg Marihuana, 560 g Amphetamin, 48 Ecstasy-Tabletten und 197 g Kokain - die Fahrt endete im polizeilichen Zugriff.
Der Kläger habe sich im Rahmen der Hauptverhandlung nicht persönlich, sondern über seinen Verteidiger geäußert und bestritten, mit seinen Mittätern eine Bande gebildet oder gar gemeinsame Tatpläne geschmiedet zu haben. Er selbst habe die Geschäfte allein organisiert und die Mittäter hätten ihn lediglich unterstützt. Fragen der Verfahrensbeteiligten habe der Kläger nicht beantwortet. Eine Verständigung zwischen Anklagevertretern und Verteidigung nach § 257c StGB habe es nicht gegeben.
Zur Schuldfähigkeit: Auf gutachtliche Einschätzung hin verneinte das Strafgericht hinsichtlich des Klägers eine beschränkte oder gar entfallene Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit. Unter Zugrundelegung der eigenen Angaben des Klägers und seiner Freundin zu seinem Drogenkonsum sei auch nicht von einem Abhängigkeitssyndrom auszugehen, insbesondere körperliche Entzugssymptome habe der Kläger nicht berichtet, auch nicht die Justizvollzugsanstalt. Der Konsum des Klägers sei zwar intensiv gewesen, habe jedoch nicht in eine Abhängigkeit von Betäubungsmitteln gemündet. Die Tatbegehung sei nicht spontan gewesen, sondern langfristig angelegt und habe für Vorbereitung und Durchführung ein hohes Maß an Übersicht, Planung und Vorsicht bei Beschaffung und Absatz der Betäubungsmittel erfordert.
Zur Strafzumessung: Das Strafgericht sah eine gemeinschaftliche Tatbegehung des Klägers mit den Mittätern, aber in keinem der abgeurteilten Fälle die Voraussetzungen eines Milderungsgrundes oder eines minder schweren Falles. Zugunsten des Klägers berücksichtigte das Strafgericht seine Straffreiheit bisher, seine Einlassungen zur Tatbeteiligung, die Sicherstellung eines Großteils der gehandelten Betäubungsmittel, seine besondere Haftempfindlichkeit und etwaige ausländerrechtliche Konsequenzen seiner Verurteilung. Zu seinen Lasten berücksichtigte es bei den einzelnen Tatkomplexen insbesondere, dass die Schwelle zur nicht mehr geringen Menge der Betäubungsmittel teils erheblich überschritten und die Taten mit besonderer krimineller Energie begangen worden seien.
Zur Maßregel: Beim Kläger sei nicht nur ein übermäßiger Konsum, sondern auch ein Hang zum Missbrauch von Betäubungsmitteln, aber keine Abhängigkeit festzustellen. Eine soziale Gefährdung sei ebenfalls feststellbar. Für das Strafgericht stand außer Frage, dass der Kläger ohne eine entsprechende Entwöhnungsbehandlung nach der Haftentlassung alsbald wieder vergleichbare Straftaten begehen würde (ebenda Bl. 66). Der Kläger sei therapiemotiviert und spreche die deutsche Sprache hinreichend gut für eine Verständigung innerhalb der Therapie. Es sei von einer Therapiedauer zwischen 18 und 24 Monaten auszugehen (ebenda Bl. 67).
Das Urteil erlangte am 11. März 2021 Rechtskraft.
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- AG Augsburg, U.v. 30.5.2021 - 14 Ds 305 Js 130127/21): Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten wegen Falschaussage; Zwischenvollzug mit Unterbrechung des Maßregelvollzugs laut Staatsanwaltschaft Augsburg, B.v. 24.10.2022, zwecks Vermeidung eines vollständigen Resozialisierungsverlusts bei einem sonst erforderlichen Nachvollzug nach Abschluss der Maßregel.
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Am 11. März 2021 wurde der Kläger in die Justizvollzugsanstalt ... verlegt und am 8. September 2021 in das Bezirkskrankenhaus ... Abteilung Forensik sowie im Anschluss an die mündliche Verhandlung wieder in die Justizvollzugsanstalt ... zwecks o.g. Zwischenvollzugs.
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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge widerrief mit Bescheid vom 9. Februar 2022 die Flüchtlingseigenschaft, verneinte subsidiären Schutzstatus und stellte ein Abschiebungsverbot für den Kläger hinsichtlich Syriens fest; der Bescheid erlangte am 1. März 2022 Bestandskraft (Behördenakte des Beklagten Band II Bl. 19 ff.).
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Der Beklagte hörte den Kläger vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheids an. Der Kläger führte aus, er sei aus Syrien wegen Unruhen und Krieg geflüchtet und komme dort mit der strengen Ausübung der Religion nicht zurecht. Im Falle einer Abschiebung nach Syrien müsse er zum Militär. In Deutschland versuche er gerade den qualifizierten Schulabschluss nachzuholen, unterziehe sich der Therapie, bereue seine Straftaten und beabsichtige eine Ausbildung zum Friseur oder Fitnesskaufmann. Seit fünf Jahren habe er eine feste Freundin.
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Das Bezirkskrankenhaus ... erstellte mit Schreiben vom 10. Juni 2022 einen Zwischenbericht zum bisherigen Therapieverlauf. Dem Kläger sei es in der auf biografische Aufarbeitung ausgerichteten ersten Stufe des 4-stufigen Therapieprogramms gelungen, sich mit seiner eigenen Biografie auseinanderzusetzen und bisher von Suchtmitteln abstinent zu bleiben sowie zielstrebig die Grundlagen für ein straffreies Leben zu erarbeiten, die durch weitere Vollzugslockerungen erprobt werden sollten. Der Kläger füge sich gut in den Klinikalltag und die Therapie ein. Es bestehe eine begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg der Therapie, allerdings benötige das Behandlungsziel auch Übergänge nach außen, einen tragfähigen Empfangsraum, eine entsprechende Wohnform und eine sinnvolle Tagesstruktur mit einer Integration in die Arbeitswelt. Sollte aus ausländerrechtlichen Gründen keine solche Erprobung und Perspektive geschaffen werden, sei mit den internen Therapiemöglichkeiten das Behandlungsziel absehbar nicht zu erreichen (ebenda Bl. 37 ff.).
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 26. Juli 2022, dem Kläger übergeben am 3. August 2022, lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis vom 26. Mai 2020 ab (Nr. 1 des Bescheids), wies den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 2), befristete die Wirkungen der Ausweisung auf die Dauer von zehn Jahren ab dem Zeitpunkt der Ausreise/Abschiebung (Nr. 3) und forderte den Kläger im Falle des bestandskräftigen Widerrufs der festgestellten Abschiebungsverbote auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb vier Wochen nach bestandskräftiger Entscheidung zu verlassen und drohte ihm anderenfalls die Abschiebung an nach Syrien oder in einen anderen Staat, in welchen er erlaubt einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei (Nr. 4).
Zur Begründung führte der Beklagte zunächst aus, die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis lägen nicht vor. Der Kläger habe seine humanitäre Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG aufgrund der damals zuerkannten Flüchtlingseigenschaft erhalten, sodass sich die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 AufenthG richte. Allerdings sei die Flüchtlingseigenschaft mit bestandskräftigen Bescheid des Bundesamts widerrufen worden, sodass die Voraussetzung einer Flüchtlingseigenschaft entfallen sei. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG werde nicht erteilt, auch wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG im Raume stehe, denn es handele sich um keine Anspruchsnorm, sondern um eine Soll-Vorschrift. Trotz der Feststellung eines Abschiebungsverbotes mit Bescheid des Bundesamts vom 9. Februar 2022 liege hier die Ausnahme nach § 25 Abs. 3 AufenthG vor, dass schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigten, dass der Kläger eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen bzw. eine Gefahr für die Allgemeinheit oder eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstelle. Dies sei hier der Fall aufgrund des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln. Im Übrigen seien die allgemeinen Regelvoraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht erfüllt, der Lebensunterhalt des Klägers sei mangels Erwerbstätigkeit nicht gesichert und vor allem bestehe ein Ausweisungsinteresse nach § 54 AufenthG. Zudem besitze der Kläger keinen gültigen Pass mehr, denn sein syrischer Reisepass sei abgelaufen und einen Reiseausweis für Flüchtlinge erhalte er mangels Flüchtlingseigenschaft nicht mehr. Die Ausweisung stütze sich auf ein besonders schweres Ausweisungsinteresse nach § 53 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b 2. Alt. AufenthG aufgrund der Verurteilung des Klägers zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren wegen gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Demgegenüber wiege das Bleibeinteresse des Klägers weder besonders schwer noch schwer, da er zwar als Minderjähriger eingereist, allerdings nicht mehr im Besitz eines Aufenthaltstitels sei, da seine letzte Aufenthaltserlaubnis am 29. Januar 2021 abgelaufen und nicht verlängert worden sei (vgl. oben). Andere beachtliche Bleibeinteressen seien nicht ersichtlich. In der Abwägung zwischen dem besonders schweren Ausweisungsinteresse und dem nicht normierten Bleibeinteresse einschließlich des von Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens des Klägers im Bundesgebiet überwiege das Ausweisungsinteresse das gegenläufige Bleibeinteresse des Klägers erheblich. Der Kläger habe eine persönliche Bindung an seine Freundin, keine wirtschaftliche Bindung mangels Erwerbstätigkeit und Beschäftigungserlaubnis und auch keine dauerhafte Zukunft im Bundesgebiet, da er lediglich geduldet werde. Eine Abschiebung sei derzeit nicht beabsichtigt, da zugunsten des Klägers Abschiebungsverbote griffen, erst bei deren bestandskräftigem Widerruf sei beabsichtigt, den Aufenthalt des Klägers in Deutschland auch tatsächlich zu beenden. Art. 8 EMRK sei nicht verletzt, denn die Ausweisung sei ein legitimes Mittel zur Bekämpfung schwerer Kriminalität, diene einem Grundinteresse der Gesellschaft und sei das mildeste angemessene Mittel, um diesen Zweck durchzusetzen. Die Ausweisung sei auch verhältnismäßig. Die Ausreiseaufforderung sei bedingt durch einen bestandskräftigen Widerruf oder eine Rücknahme der Abschiebungsverbote. Die Abschiebungsandrohung flankiere diese Entscheidung. In der Befristung werde dem öffentlichen Interesse der Vorrang gegeben gegenüber dem privaten Interesse des Klägers, da dieser während seines kurzen Aufenthalts im Bundesgebiet erheblich straffällig geworden sei, hier eine Haftstrafe von acht Jahren verwirkt habe und aktuell eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle. Hierfür sei die Befristung auf zehn Jahre angemessen.
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Hiergegen ließ der Kläger am 23. August 2022 Klage erheben und beantragen,
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1. Der Bescheid des Beklagten vom 26. Juli 2022 wird aufgehoben.
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2. Der Beklagte wird verpflichtet, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, der therapiebereite Kläger sei mit guten Therapieaussichten untergebracht und keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Er könne wegen des Abschiebungsverbots nicht in seinen Herkunftsstaat zurückkehren und von einem Widerrufsverfahren sei nichts bekannt, so dass die Bedingung rechtswidrig sei. Der Kläger könne nach Abschluss der Therapie auf Bewährung entlassen werden, was auch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über die Ausweisung binden werde. Ohne das Zuwarten des Beklagten mit der Ausweisung - bis zum Ablauf der Aufenthaltserlaubnis - hätte der als Minderjähriger eingereiste Kläger noch ein besonders schweres Bleibeinteresse gehabt.
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Der Beklagte beantragt
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Er verweist auf den angegriffenen Bescheid und führt ergänzend aus, er habe mit seiner Entscheidung auf die Bestandskraft des Widerrufs internationalen Schutzes durch das Bundesamt warten müssen.
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Das Verwaltungsgericht hat noch eine aktuelle Stellungnahme der Therapieeinrichtung eingeholt. Das Bezirkskrankenhaus ... teilte mit Schreiben vom 27. September 2022 zum bisherigen Therapieverlauf mit, der Kläger sei Ende Mai 2022 wegen Falschaussage zu einer weiteren Haftstrafe unter Aufrechterhaltung der Maßregel verurteilt worden. Der Kläger sei therapiemotiviert, habe im Juni 2022 den Qualifizierenden Mittelschulabschluss erreicht und bereits erste Lockerungen erhalten, so zuletzt auch Stufe C2 (unbegleitete Ausgänge über das Stadtgebiet ... hinaus). Eine Rückfallvermeidungsgruppe habe er erfolgreich abgeschlossen und es sei zu keinem nachgewiesenen Rückfall in den Suchtmittelkonsum gekommen, alle durchgeführten Kontrollen auf Suchtmittel seien unauffällig gewesen. Der Kläger habe insgesamt einen überwiegend positiven Therapieverlauf und eine begründete Aussicht auf Erfolg der Therapie im Maßregelvollzug. Zur weiteren Verfolgung der Therapie bedürfe er milieuferner sozialer Beziehungen einschließlich einer entsprechenden Wohnform sowie einer Festigung des strukturierten Alltags durch Integration in die Arbeitswelt. Sollten diese aus ausländerrechtlichen Gründen nicht geschaffen werden (Abschiebung), so sei mit den internen Therapiemöglichkeiten das Behandlungsziel unabhängig von der Mitarbeit des Patienten absehbar nicht zu erreichen.
Am 24. Oktober 2022 übersandte es noch den Vollstreckungsbeschluss der Staatsanwaltschaft vom gleichen Tag über den Zwischenvollzug der Haftstrafe wegen Falschaussage in der JVA ... mit anschließender Fortsetzung der Therapie.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichts- und die beigezogenen Behördenakten und das Protokoll über die mündliche Verhandlung.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist unbegründet, da der angefochtene Bescheid vom 26. Juli 2022 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Versagung einer Aufenthaltserlaubnis, der Ausweisung, der Befristungsentscheidung und der noch nicht vollzogenen Abschiebungsandrohung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 3.16 - juris Rn. 18).
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1. Die Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Niederlassungs- oder Aufenthaltserlaubnis ist unbegründet, da dem Kläger hierauf kein Anspruch zusteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
25
a) Der Kläger hat mangels internationalen Schutzes keinen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Auf die Wirksamkeit der in Nr. 2 des angefochtenen Bescheids verfügten Ausweisung kommt es daher nach § 25 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht entscheidungserheblich an.
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b) Der Kläger hat wegen der Verurteilung wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung ausnahmsweise auch keinen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 Nr. 2 AufenthG. Ob der derzeit noch nicht erfolgreich therapierte Kläger darüber hinaus auch eine Gefahr für die Allgemeinheit oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nach § 25 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 Nr. 4 AufenthG darstellt und auch deswegen keine Aufenthaltserlaubnis erhalten kann, ist daher nicht entscheidungserheblich.
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aa) § 25 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 Nr. 2 AufenthG ist als Regel-Erteilungsnorm mit einem gesetzlichen Ausnahmetatbestand ausgestaltet. Der Kläger erfüllt derzeit zwar unstreitig die Voraussetzungen des Regel-Anspruches, da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit bestandskräftigem Bescheid vom 9. Februar 2022 ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Syriens festgestellt hat, das nicht widerrufen ist.
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bb) Gleichwohl erfüllt der Kläger die Voraussetzungen einer gesetzlichen Ausnahme zur Regel-Erteilungsnorm nach § 25 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 Nr. 2 AufenthG, da er eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen hat und schwerwiegende Gründe - die strafgerichtliche Verurteilung (LG Augsburg, U.v. 11.9.2020 - J KLs 303 Js 121401/19 - Behördenakte Band III Bl. 87 ff.) - dies belegen.
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Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des Ausschlussgrundes beabsichtigt, insbesondere bestimmten Straftätern grundsätzlich kein Aufenthaltsrecht mangels Schutzwürdigkeit zu gewähren. So soll entsprechend den Überlegungen im internationalen Flüchtlingsschutz verhindert werden, dass schwere Straftäter und Gefährder, deren Aufenthalt nicht beendet werden kann, einen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland erhalten, ohne vom Abschiebungsschutz ausgeschlossen zu werden. Diese Ausschlussklausel ist zwingend ohne Ermessensspielraum und schließt eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis und damit die Legalisierung des tatsächlichen Aufenthalts wegen persönlicher „Unwürdigkeit“ aus, nicht aber den Schutz vor einer Abschiebung mit folgender Duldung (zum Ganzen BayVGH, U.v. 15.6.2011 - 19 B 10.2539 - juris Rn. 27, 34; BayVGH, B.v. 3.4.2019 - 10 C 18.2425 - juris Rn. 10). Anders gewendet: Der internationale Schutz soll Opfer, nicht Täter schützen - Täter werden nur vor konkreten Gefahren für ihren Leib und ihr Leben durch etwaige Abschiebungsverbote und Duldung geschützt.
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Für den Ausschlussgrund kommt es auch nicht auf eine aktuelle Gefährlichkeit des Klägers und etwaige - hier noch gar nicht erzielte - Therapie- oder Resozialisierungserfolge an, sondern er gilt dauerhaft als „unwürdig“ (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 -1 C 16.14 - juris Rn. 29 m.w.N.).
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Die vom Kläger begangene Straftat mit der Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren (LG Augsburg, U.v. 11.9.2020 - J KLs 303 Js 121401/19 - Behördenakte Band III Bl. 87 ff.) wegen gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge stellt eine Straftat von erheblicher Bedeutung dar. Dies folgt erstens aus der nationalen gesetzlichen Wertung des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, wonach bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer Vorsatztat bereits ein besonders schweres Ausweisungsinteresse vorliegt. Zweitens entspricht es der unionsrechtlichen Wertung, wonach eine Straftat ein Grundinteresse der Gesellschaft verletzt, wenn sie sich gegen hochrangige Rechtsgüter richtet, an deren Schutz die Gesellschaft ein besonderes Interesse hat. Solche Kollektivschutzgüter sind die durch besonders schwere Kriminalität im Sinne von Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV wie Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität bedrohten Schutzgüter. Hier hat der Kläger einen intensiven illegalen Drogenhandel betrieben.
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cc) Auf die Wirksamkeit der in Nr. 2 des angefochtenen Bescheids verfügten Ausweisung kommt es für den Ausschluss des Klägers von jeder Legalisierung seines Aufenthalts daher nach § 25 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht entscheidungserheblich an.
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c) Einem Anspruch des Klägers auf eine sonstige Aufenthaltserlaubnis steht neben einem erfüllten anderweitigen Aufenthaltszweck auch die Nichterfüllung mehrerer Regelerteilungsvoraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 (fehlende Sicherung des Lebensunterhalts), Nr. 2 (Ausweisungsinteresse auf Grund der strafgerichtlichen Verurteilung), Nr. 4 (fehlender gültiger Reisepass) AufenthG entgegen, wie der Beklagte zutreffend im angefochtenen Bescheid ausgeführt hat, worauf zur Vermeidung von Wiederholungen nach § 117 Abs. 5 VwGO Bezug genommen wird. Dass bei dem schwer straffälligen und nicht therapierten Kläger kein atypischer Ausnahmefall zu den Regelerteilungsvoraussetzungen anzunehmen ist, liegt auf der Hand.
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2. Die Anfechtungsklage gegen die Ausweisung in Nr. 2 des angefochtenen Bescheids ist ebenfalls unbegründet.
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Die Ausweisung ist nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG gerechtfertigt, weil vom Aufenthalt des Klägers eine besonders schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Unter Berücksichtigung aller Umstände und nach Abwägung des hier besonders schwerwiegenden öffentlichen Ausweisungsinteresses (§ 54 AufenthG) mit seinem privaten Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) ist das Verwaltungsgericht der Überzeugung, dass hier das öffentliche Interesse an der inlandsbezogenen Ausweisung des Klägers sein Interesse an einer Legalisierung seines Aufenthalts - bei voraussichtlich weiterem tatsächlichem weil geduldetem Verbleib im Bundesgebiet - überwiegt und die Ausweisung auch nicht gegen höherrangige Normen verstößt, auch wenn der Kläger nach Art. 8 EMRK in seinem seit Jahren im Bundesgebiet geführten Privatleben und nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auch vor einer Abschiebung nach Syrien geschützt ist.
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a) Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers beurteilt sich nach §§ 53 ff. AufenthG. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird nach § 117 Abs. 5 VwGO auf die zutreffende Begründung im angefochtenen Bescheid verwiesen, insbesondere dazu, dass der Kläger keine asylrechtlich geschützte Rechtsposition mehr innehat.
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b) Da der Kläger die zutreffenden Ausführungen des Beklagten zum besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b 2. Alt. AufenthG einerseits und zum lediglich unbenannten Bleibeinteresse des Klägers analog § 55 AufenthG andererseits nicht substantiiert in Zweifel gezogen hat, wird auch hierauf verwiesen und lediglich aktuell ergänzt:
38
aa) Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, weil er eine besonders schwere Straftat begangen hat und sowohl ein spezialpräventives Interesse an der Ausweisung des untherapierten Klägers als auch ein generalpräventives Interesse (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 1 C 16/17 - juris Rn. 15 ff., 20 m.w.N.; BayVGH, B.v. 20.8.2018 - 10 C 18.1361 - juris Rn. 13) zur Abschreckung anderer Ausländer ebenfalls von Straftaten wie bandenmäßigem Betäubungsmittelhandel besteht. Solche Taten verletzen ein Grundinteresse der Gesellschaft (vgl. oben zu Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV).
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(1) Im Kläger liegt auf Grund seines persönlichen Verhaltens eine gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses auch unerlässlich macht.
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Die Ausweisung setzt als gebundene und gerichtlich voll überprüfbare Abwägungsentscheidung nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 3.16 - Rn. 22) tatbestandlich voraus, dass der Ausländer durch sein persönliches Verhalten oder seinen weiteren Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig schwerwiegend gefährdet, diese Gefahr ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung zur Wahrung der gefährdeten Interessen in der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden Abwägung unerlässlich ist. Erforderlich ist die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem dieser Schutzgüter eintreten wird (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 3.16 - Rn. 23). Dies ist hier der Fall.
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(2) Ein hinreichender Ausweisungsanlass ist die Straffälligkeit des Klägers (vgl. oben).
42
Die wiederholt und bandenmäßig begangenen Betäubungsmitteldelikte stellen eine schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft am Schutz der körperlichen Integrität ihrer Mitglieder dar (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277/282 Rn. 15).
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Für eine ausnahmsweise abweichende Gewichtung bieten Tat, Täter und Nachtatverhalten keine Anhaltspunkte (vgl. zur Berücksichtigung von Sondersituationen BVerfG, B.v. 25.8.2020 - 2 BvR 640/20 - InfAuslR 2020, 424 ff. Rn. 27). Auch nach strafgerichtlicher Bewertung rechtfertigten die Tatumstände und die Täterpersönlichkeit keine abweichende Gewichtung. Insbesondere eine Minderung der Schuldfähigkeit des Klägers oder eine Tatprovokation wurden nicht festgestellt. Im Gegenteil stellte sich die Tatbegehung für das Strafgericht als planvolles Vorgehen dar.
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(3) Eine Wiederholungsgefahr der Begehung vergleichbarer Delikte durch den Kläger liegt vor.
45
Bei der Ausweisungsentscheidung haben die Verwaltungsgerichte auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Tat und der Tatumstände, des Täters und seiner Persönlichkeitsstruktur sowie seines Nachtatverhaltens und ggf. einer therapeutischen Aufarbeitung des Geschehenen eine eigene Beurteilung und Prognoseentscheidung vorzunehmen, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt (vgl. BayVGH, B.v. 29.5.2018 - 10 ZB 17.1739 - Rn. 8; BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277/283 f. Rn. 17). Allein ein positives Verhalten in der Haft oder Unterbringung lässt noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen könnte (BayVGH, B.v. 16.2.2018 - 10 ZB 17.2063 - juris Rn. 10). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die eine Wiederholungsgefahr entfallen ließe (BayVGH, B.v. 29.5.2018 - 10 ZB 17.1739 - Rn. 9). Wohlverhalten kommt insbesondere dann nur begrenzte Aussagekraft zu, wenn es unter der Kontrolle des Strafvollzugs und unter dem Druck eines Ausweisungsverfahrens gezeigt wird (BayVGH, B.v. 13.10.2017 - 10 ZB 17.1469 - juris Rn. 12).
46
Bei bedrohten Rechtsgütern von hervorgehobener Bedeutung sind im Rahmen der tatrichterlichen Prognose der Wiederholungsgefahr umso geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen, je größer und folgenschwerer der mögliche Schaden ist (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277 Rn. 16; BayVGH, B.v. 16.2.2018 - 10 ZB 17.2063 - juris Rn. 9). Die vom Kläger wiederholt durch Abgabe von Betäubungsmitteln in nicht unerheblichen Mengen verletzte körperliche Unversehrtheit Dritter ist ein nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG besonders geschütztes Rechtsgut von hervorgehobener Bedeutung, dessen Verletzung zu besonders schweren Schäden führen kann und dessen Schutz zu den Kernaufgaben der innerstaatlichen Friedensordnung gehört. Die körperliche Integrität anderer Menschen zählt mithin zu den wichtigsten Rechtsgütern. Genau dieses Rechtsgut hat der Kläger wiederholt vorsätzlich, also bewusst und gewollt, verletzt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind daher hier geringere Anforderungen zu stellen.
47
Die im Rahmen der eigenständigen ausländerrechtlichen Prognose der Wiederholungsgefahr auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt, führt unter Berücksichtigung der Tat und der Tatumstände, des Täters und seiner Persönlichkeitsstruktur sowie seines Nachtatverhaltens und ggf. einer therapeutischen Aufarbeitung des Geschehenen (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277/283 f. Rn. 17; BayVGH, B.v. 4.4.2017 - 10 ZB 15.2062 - Rn. 14) hier zur Annahme einer erheblichen Wiederholungsgefahr:
48
Der Kläger ist erstens Serientäter, da er die wesentlich gleichartigen Delikte in einem längeren Zeitraum gleichförmig begangen hat. Hinzu kommt die zwischenzeitliche Verurteilung wegen Falschaussage, die zeigt, dass der Kläger nach wie vor noch nicht zu einem gesetzeskonformen Verhalten bereit oder fähig ist.
49
Der Kläger ist zweitens nicht nur Händler, sondern auch Besitzer und Konsument von Betäubungsmitteln gewesen, wobei er nach den strafgerichtlichen Feststellungen neben Marihuana und Haschisch auch Ecstasy und Kokain über einen längeren Zeitraum selbst konsumiert hat. Sein Konsum war zwar mengenmäßig massiv, aber nicht so intensiv, dass ein Kontrollverlust eingetreten wäre. Im Gegenteil vermochte er bis zu seiner Inhaftierung nach den strafgerichtlichen Feststellungen seinen Betäubungsmittelkonsum so zu steuern, dass er den Betäubungsmittelmissbrauch von sportlichen Aktivitäten und der Teilnahme am Straßenverkehr noch zu trennen vermochte. Er besaß also während seiner Taten hinreichende Steuerungsfähigkeit.
50
Drittens ist der Kläger als langjähriger Konsument verschiedener, auch „harter“ Drogen nicht nachweislich erfolgreich therapiert. Einen Nachweis hierüber hat er nicht vorgelegt; nach aktuellem Stand dauert die stationäre Therapie noch an, ohne dass der Therapieerfolg sich bereits eingestellt hätte. Der Therapieerfolg erscheint derzeit zwar erreichbar, erfordert nach der Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses ... vom 27. September 2022 aber milieuferne soziale Beziehungen einschließlich einer entsprechenden Wohnform sowie einen strukturierten Alltag durch Integration in die Arbeitswelt. Diese Voraussetzungen für den weiteren Therapieerfolg liegen derzeit jedenfalls noch nicht vor, erst recht nicht, solange der Zwischenvollzug der weiteren Haftstrafe erfolgt. Zuletzt war der Kläger noch im Maßregelvollzug und hat einen Vorwegvollzug der Haftstrafe von zwei Jahren durchlaufen sowie den o.g. Zwischenvollzug vor sich. Ob eine Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt werden wird oder nicht, ist derzeit nicht absehbar. Eine Bewährung des Klägers nach erfolgreichem Abschluss der Therapie und auf freiem Fuß ist nicht erfolgt.
51
Wegen des hohen Rangs der von ihm verletzten und bei einem Rückfall erneut bedrohten Rechtsgüter, insbesondere der Volksgesundheit und der körperlichen Integrität anderer Personen, denen er Drogen für deren Betäubungsmittelmissbrauch verschafft hat, sind an die Annahme einer Wiederholungsgefahr keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit seiner Ausweisung ist jedenfalls davon auszugehen, dass der Kläger nach wie vor nicht erfolgreich suchttherapiert ist, geschweige denn sich ohne den Druck der drohenden Aufenthaltsbeendigung auf freiem Fuß nachhaltig bewährt hätte. Sind aber die Ursachen seiner Straftaten nicht beseitigt, ist weiter von einer konkreten Rückfallgefahr wie zuvor auszugehen.
52
bb) Zudem liegt eine Gefahr der Begehung vergleichbarer Delikte durch andere Ausländer vor. Auch solche generalpräventiven Gründe können ein Ausweisungsinteresse begründen (vgl. BayVGH, B.v. 20.8.2018 - 10 C 18.1361 - juris Rn. 13) wie hier bei massiven Betäubungsmitteldelikten.
53
c) Die Ausweisung ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG gerechtfertigt, weil das öffentliche Ausweisungsinteresse nach § 54 AufenthG das Bleibeinteresse nach § 55 AufenthG überwiegt.
54
aa) Das Ausweisungsinteresse wiegt nach § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b 2. Alt. AufenthG besonders schwer.
55
Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG wiegt nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b 2. Alt. AufenthG besonders schwer, wenn der Ausländer wie hier wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bzw. wegen vorsätzlicher Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist. Beides ist beim Kläger der Fall.
56
Zwar können die in § 54 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG typisierten Interessen im Einzelfall bei Vorliegen besonderer Umstände auch weniger oder mehr Gewicht entfalten, doch liegen hierfür unter umfassender Würdigung des Einzelfalles keine hinreichenden Anhaltspunkte vor. Insbesondere das Strafgericht hat keine Anhaltspunkte für einen minderschweren Fall oder gar für schuldmindernde oder schuldausschließende Umstände festgestellt (vgl. oben).
57
bb) Demgegenüber liegt kein vertyptes besonders schweres oder schweres Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG vor.
58
Weder ist der volljährige Kläger im Besitz eines Aufenthaltstitels, da seine bisherige Aufenthaltserlaubnis abgelaufen und ihre Verlängerung bzw. eine Neuerteilung versagt worden ist (vgl. oben), noch ist er als Schutzberechtigter anerkannt, noch verfügt er in der Bundesrepublik über hinreichende familiäre, soziale oder wirtschaftliche Anknüpfungspunkte. Sonstige, ungeschriebene besonders schwere oder schwere Bleibeinteressen sind ebenfalls nicht ersichtlich, insbesondere handelt es sich bei dem im Alter von 17 Jahren eingereisten und damit noch von der Kultur seines Herkunftsstaates und des weiteren Aufenthaltsstaats geprägten Kläger schon mit Blick auf seinen vergleichsweise kurzen Aufenthalt in Deutschland nicht um einen faktischen Inländer. Er lebte hier rund sechs Jahre gestattet und erlaubt, blieb davon aber nur rund vier Jahre straffrei und befindet sich seit über drei Jahren in Haft bzw. Maßregelvollzug. Von einer nennenswerten Integration kann derzeit nicht gesprochen werden. Die Absicht, nach dem zwischenzeitlich erreichten Schulabschluss eine Ausbildung zu beginnen, ist über das Stadium der reinen Pläne noch nicht hinaus gediehen. Wesentliche Bindungen des Klägers in die Bundesrepublik sind daher nicht ersichtlich.
59
Seine Schutzbedürftigkeit hinsichtlich eines Abschiebungsschutzes ist als nicht vertyptes Bleibeinteresse zwar zu seinen Gunsten zu gewichten. Da der Gesetzgeber aber - wie oben ausgeführt - in seinem Fall eine Legalisierung des Aufenthalts ausgeschlossen hat, kommt diesem Belang nicht dasselbe Gewicht zu wie einer sonst vorhandenen legalen Aufenthaltsperspektive. Letztlich bleibt es bei der gesetzlichen und durch die behördliche Bedingung auch berücksichtigten Wertung, dass ein Abschiebungsverbot nur vorübergehenden Schutz bis zu seinem Entfall auf Grund einer Änderung der Sachlage bieten, aber nicht in einen Daueraufenthalt münden soll.
60
d) Auch die inlandsbezogene Ausweisung mit bedingter Abschiebungsandrohung begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
61
Zwar verlangt Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG (sog. Rückführungs-Richtlinie), dass die Mitgliedstaaten unbeschadet der dortigen Ausnahmen verpflichtet sind, gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, die nach Art. 11 RL 2008/115/EG mit einem Einreiseverbot im Sinne von Art. 3 Nr. 6 RL 2008/115/EG einhergehen kann oder muss (vgl. EuGH, U.v. 3.6.2021 - C-546/19, NVwZ 2021, 1207/1209 f. Rn. 55 f.). Dies gilt auch für Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und nicht abgeschoben werden können, da der Grundsatz der Nichtzurückweisung dem entgegensteht. In diesen Fällen muss ebenfalls entweder der Aufenthalt legalisiert oder eine Rückkehrentscheidung erlassen werden, deren Vollstreckung aber aufgeschoben werden kann (vgl. EuGH, U.v. 3.6.2021 - C-546/19, NVwZ 2021, 1207/1209 f. Rn. 59 - sog. Aufschub der Abschiebung). In Fällen des Aufschubs der Vollstreckung der Rückkehrentscheidung (Abschiebungsandrohung) kann dennoch eine rechtmäßige Ausweisung ergehen, um eine Legalität des Aufenthalts zu beenden oder zu verhindern (vgl. Fleuß in Kluth/Heusch [Hrsg.], BeckOK Ausländerrecht, 34. EL Stand: 1.7.2022, § 53 AufenthG Rn. 6; Dörig, ZAR 2022, 244/247). Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung als rechtliche Beendigung des Aufenthalts bleibt auch vom Erlass oder dem Entfall der Rückkehrentscheidung (Abschiebungsandrohung) oder ihrem tatsächlichen Aufschub unberührt (vgl. Fleuß in Kluth/Heusch [Hrsg.], BeckOK Ausländerrecht, 34. EL Stand: 1.7.2022, § 53 AufenthG Rn. 6a).
62
So liegt es auch hier: Der Kläger stellt auf Grund seines persönlichen Verhaltens eine akute Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, so dass eine Ausweisung zur rechtlichen Beendigung seines zunächst legalen Aufenthalts gerechtfertigt ist. Dass eine tatsächliche Beendigung seines Aufenthalts durch Abschiebung bis zum bestandskräftigen Widerruf der festgestellten Abschiebungsverbote in Nr. 4 des angefochtenen Bescheids aufschiebend bedingt ist, rührt daher nicht an der Rechtmäßigkeit der Ausweisung.
63
e) In der nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG gebotenen Gesamtabwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles wie insbesondere der Dauer des Aufenthalts, der persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie der Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich ein Ausländer rechtstreu verhalten hat, überwiegt das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers daher deutlich.
64
f) Die Ausweisung erweist sich im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK als verhältnismäßig.
65
Die Abwägung aller Umstände des Einzelfalles führt zu dem Ergebnis, dass der Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens durch die Ausweisung gerechtfertigt im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK und als verhältnismäßig anzusehen ist. Er ist geeignet, die vom Kläger ausgehende gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu mindern, da er einen weiteren Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland rechtlich beendet und einer Verfestigung entgegensteht. Er ist auch geeignet, andere Ausländer von der Begehung gleichartiger Taten abzuhalten. Er ist erforderlich, da ausländerrechtlich nur durch eine Aufenthaltsbeendigung der genannten Gefahrenlage wirksam begegnet werden kann. Er ist auch verhältnismäßig im engeren Sinn, denn dem Kläger ist unter Würdigung seiner nicht schützenswerten Bindungen im Inland und seiner Prägung durch das Herkunftsland letztlich eine Rückkehr nach Syrien vorbehaltlich eines Widerrufs der festgestellten Abschiebungsverbote zumutbar. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf obige Abwägung verwiesen.
66
3. Die in Nr. 3 des angefochtenen Bescheids enthaltene Befristung der Wirkung der Ausweisung auf die Dauer von zehn Jahren ab dem Zeitpunkt der Ausreise bzw. Abschiebung ist rechtmäßig.
67
Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen des § 11 Abs. 5 bis Abs. 5b AufenthG fünf Jahre nicht überschreiten (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht (§ 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG).
68
Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den unions- und konventionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK, gemessen und gegebenenfalls relativiert werden. Über dieses normative Korrektiv lassen sich auch bei einer Ermessensentscheidung die einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen begrenzen (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 3/16 - juris Rn. 66 m.w.N.).
69
Nach diesen Maßstäben ist die mit dem angefochtenen Bescheid des Beklagten festgesetzte Frist rechtlich nicht zu beanstanden. Als Annex zur aufgeschobenen Rückkehrentscheidung ist sie rechtstechnisch ebenfalls aufschiebend bedingt und erlangt daher derzeit ebenfalls noch keine Wirkung, sondern erst im Zeitpunkt der freiwilligen Ausreise oder zwangsweisen Abschiebung. Dies ist mit Unionsrecht vereinbar, denn eine Rückkehrentscheidung kann oder muss nach Art. 11 RL 2008/115/EG mit einem Einreiseverbot im Sinne von Art. 3 Nr. 6 RL 2008/115/EG einhergehen (vgl. EuGH, U.v. 3.6.2021 - C-546/19, NVwZ 2021, 1207/1209 f. Rn. 55 f.). Dies ist hier der Fall, wobei der Aufschub die Unionsrechtskonformität sicherstellt (vgl. Fleuß, ZAR 2022, 31/34). Der Beklagte hat die Länge der Frist weiter zu prüfen und dabei die Gesamtumstände des Klägers zu beobachten wie insbesondere die Fortgeltung der Abschiebungsverbote wegen der Situation in Syrien, die Führung des Klägers in der Haft, den bisherigen und künftigen Therapieverlauf usw. Derzeit jedenfalls ist die den gesetzlichen Höchstrahmen des § 11 Abs. 5 AufenthG ausschöpfende Frist rechtlich nicht zu beanstanden. Ermessensfehler hinsichtlich des im Bundesgebiet bindungslosen und auf Grund seiner Ausweisung nicht aufenthaltsberechtigten Klägers sind nicht ersichtlich (§ 114 VwGO).
70
4. Die in Nr. 4 des angefochtenen Bescheids enthaltene, mit einem bestandskräftigen Widerruf der festgestellten Abschiebungsverbote aufschiebend bedingte Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sind rechtmäßig.
71
Wie soeben zur Ausweisung ausgeführt, begegnet eine aufschiebend bedingte Rückkehrentscheidung keinen unionsrechtlichen Bedenken, solange sichergestellt ist, dass einerseits das Refoulement-Verbot beachtet wird, andererseits aber auch der Aufschub so konkret gefasst ist, dass die Bedingung eintreten kann und ihr Eintritt auch zweifelsfrei festgestellt werden kann. Dies ist hier der Fall. Sollte das Bundesamt die Feststellung der Abschiebungsverbote nach § 73c Abs. 2 AsylG widerrufen und die Widerrufsentscheidung bestandskräftig werden, wäre die Bedingung eingetreten. Der Kläger wird auch nicht schutzlos gestellt, denn er kann bei einer unterstellten künftigen Bestandskraft der Ausweisungsentscheidung zwar nicht mehr gegen diese vorgehen, allerdings nach § 74 VwGO und §§ 74 ff. AsylG gegen die Widerrufsentscheidung, um den Eintritt der Bedingung zu verhindern.
72
5. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.