Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 19.10.2022 – Au 3 K 21.1616
Titel:

Kostenerstattung bei verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalten der Eltern

Normenketten:
SGB VIII § 86 Abs. 2, Abs., Abs. 4, § 89e
BGB § 426
Leitsatz:
Bei zwei möglichen kostenerstattungspflichtigen örtlichen Trägern wegen verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der Eltern besteht eine Regelungslücke, da sich aus § 89e Abs. 1 S. 1 SGB VIII nicht ergibt, welchen von ihnen die Kostenerstattungspflicht treffen soll. Aufgrund dieser Regelungslücke kommt § 89e Abs. 2 SGB VIII zur Anwendung, wonach die Kosten von dem überörtlichen Träger zu erstatten sind, zu dessen Bereich der erstattungsberechtigte örtliche Träger gehört. (Rn. 23 und 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kostenerstattung, Schutz des Einrichtungsortes, verschiedene gewöhnliche Aufenthalte vor Aufnahme in eine Einrichtung, Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Urteil vom 18.12.2024 – 12 BV 22.2344
Fundstelle:
BeckRS 2022, 38033

Tenor

I.    Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 17.824,12 € zu bezahlen. 
II.    Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III.    Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
IV.    Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Erstattung von Kosten für geleistete Hilfe zur Erziehung der am ... 2013 geborenen ..., die in der Zeit vom 3. Februar 2016 bis 20. Dezember 2017 in Höhe von insgesamt 17.824,12 € angefallen sind.
2
Das Kind wurde am ... 2013 als eheliches Kind in ... geboren. Beide Elternteile waren und sind sorgeberechtigt. Nach Beendigung der stationären Nahversorgung in der Geburtsklinik zogen die Eltern mit dem Kind gemeinsam in eine Wohnung der Lebenshilfe ... .... Seit 21. Dezember 2015 wird Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege gewährt und lebt das Kind in einer Pflegefamilie im Kreisgebiet des Klägers. Der Kläger ist seit dem 3. Februar 2016 für die Hilfegewährung örtlich zuständig, da die Eltern an diesem Tag in ... ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt begründet haben. Ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb einer geschützten Einrichtung hatte die Kindsmutter bis Anfang April 2006 in ... im Kreisgebiet des Beigeladenen; der Kindsvater hatte seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb einer geschützten Einrichtung bis 1. Juni 2010 in ... im Kreisgebiet des Klägers.
3
Mit Schreiben vom 23. März 2018 beantragte der Kläger beim Beklagten als überörtlichem Träger der Jugendhilfe Kostenerstattung gemäß § 89e Abs. 2 SGB VIII. Diese wurde mit Schreiben vom 6. Juni 2018 abgelehnt, da eine Erstattungspflicht nur dann in Betracht käme, wenn kein örtlicher Träger aufgrund eines gewöhnlichen Aufenthaltes kostenerstattungspflichtig sei, sondern vor der ersten Einrichtungsaufnahme nur ein tatsächlicher Aufenthalt der nach § 89e Abs. 1 SGB VIII maßgebenden Person vorgelegen habe. Der Beklagte verwies den Kläger hinsichtlich eines Kostenerstattungsanspruchs an das Kreisjugendamt des Beigeladenen.
4
Mit Antrag vom 12. Juni 2018 wandte sich der Kläger wegen einer hälftigen Kostenerstattung an den Beigeladenen. Dieser lehnte mit Schreiben vom 1. April 2020 eine Kostenerstattung unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales Baden-Württemberg vom 11. März 2020 ab und wies darauf hin, dass dieser als überörtlicher Träger die Kosten für die Hilfegewährung bis zum 2. Februar 2016 dem bis dahin zuständigen Landkreis erstattet habe. Ein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger im Sinne des § 89e Abs. 1 SGB VIII sei vorliegend nicht vorhanden, da das SGB VIII keine zwei Erstattungsträger nebeneinander kenne und eine Halbierung der aufgewendeten Kosten nicht vorsehe.
5
Mit Schreiben vom 22. Oktober 2020 wandte sich der Kläger erneut an den Beklagten, mit der Bitte seine Rechtsmeinung zu überdenken. Nach nochmaliger Prüfung der Sach- und Rechtslage lehnte der Beklagte mit Schreiben vom 8. Dezember 2020 eine Kostenerstattung erneut ab. Es gebe zwei dem Grunde nach erstattungspflichtige Träger, sodass hinsichtlich der Frage nach dem einzigen erstattungspflichtigen Träger eine Regelungslücke vorliege. Diese sei durch analoge Anwendung der Zuständigkeitsregelungen für Jugendhilfeleistungen bei Eltern mit verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalten nach § 86 Abs. 2-4 SGB VIII zu füllen, sodass der zuvor zuständige Landkreis dem Kläger zur Kostenerstattung verpflichtet sei.
6
Am 26. März 2021 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Augsburg mit folgendem Antrag:
7
Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Kosten der Unterbringung von ..., geb. ... 2013 in Form von Vollzeitpflege gemäß §§ 27, 33 SGB VIII für den Zeitraum vom 3. Februar 2016 bis 20. Dezember 2017 in Höhe von 17.824,12 € zu erstatten.
8
Ein örtlicher Träger im Sinne des § 89e Abs. 1 SGB VIII sei nicht vorhanden, da vor Aufnahme in die Einrichtung die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Bereichen verschiedener örtlicher Träger gehabt hätten, sodass die Kosten vom Beklagten als überörtlichem Träger nach § 89e Abs. 2 SGB VIII zu erstatten seien. Hierfür spreche, dass das SGB VIII keine zwei erstattungspflichtigen Träger nebeneinander kenne und eine Halbierung der aufgewendeten Kosten bei der Kostenerstattung auch nicht vorgesehen seien. Auf die Rechtsmeinung des Kommunalverbands für Jugend und Soziales Baden-Württemberg werde verwiesen.
9
Eine Festlegung der Kostenerstattungspflicht in Analogie des nach § 86 Abs. 2 - 4 SGB VIII zuständigen Trägers sei im vorliegenden Fall nicht möglich, da beide Eltern gemeinsam das Sorgerecht innehätten und das Kind nach der Entlassung aus dem Geburtskrankenhaus von Beginn an im gemeinsamen Haushalt der Eltern gelebt habe. Seit der Geburt des Kindes hätten die gemeinsam sorgeberechtigten Elternteile einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt. Dem Argument des Beklagten, dass der zuvor zuständige Landkreis aufgrund seiner ursprünglichen Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 SGB VIII erstattungspflichtig sei, könne nicht gefolgt werden, da es für die Kostenerstattungspflicht um den gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern vor Eintritt in die gleiche geschützte Einrichtung gehe.
10
Der Beklagte beantragt,
11
die Klage abzuweisen.
12
Dass die Eltern vor der erstmaligen Hilfegewährung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte außerhalb von Einrichtungen gehabt hätten, führe nicht zu einem eindeutigen Ergebnis bezüglich der Kostenerstattungspflicht nach § 89e Abs. 1 SGB VIII. Daraus folge allerdings nicht automatisch die Kostenerstattungspflicht des überörtlichen Trägers nach § 89e Abs. 2 SGB VIII, da nach der Gesetzesbegründung zu § 89e SGB VIII der Absatz 2 eine subsidiäre Kostenerstattungspflicht des überörtlichen Trägers begründe und gewöhnliche Aufenthalte der Eltern - wenn auch verschieden - vorhanden gewesen seien. Der Beklagte folge der in der Literatur vertretenen Auffassung, dass die beiden nach § 89e Abs. 1 SGB VIII zur Kostenerstattung verpflichteten Träger der öffentlichen Jugendhilfe in entsprechender Anwendung der §§ 426 ff. BGB die Kosten gesamtschuldnerisch jeweils zur Hälfte zu tragen hätten. Da der Kläger - aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts des Vaters außerhalb einer Einrichtung vor Hilfebeginn - selbst einer der beiden für die Kostentragung in Frage kommenden Träger sei, habe der Kläger lediglich einen vermutlich hälftigen Kostenerstattungsanspruch gegen den Beigeladenen.
13
Der Beigeladene stellt keinen eigenen Antrag.
14
Er stimme der Rechtsauffassung des Klägers vollumfänglich zu und teile die Auffassung, dass in der vorliegenden Fallkonstellation § 89e Abs. 2 SGB VIII greife und die Kosten vom überörtlichen Träger zu erstatten seien.
15
Das Sozialgericht verwies die Klage mit Beschluss vom 14. Juli 2021 an das Verwaltungsgericht Augsburg, wo diese am 30. Juli 2021 einging. Mit Beschluss vom 23. August 2022 wurde der Landkreis ... zum Verfahren beigeladen. Die Beteiligten haben übereinstimmend den Verzicht auf mündliche Verhandlung erklärt.
16
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vorgelegten Behördenakte.

Entscheidungsgründe

I.
17
Das Gericht kann gemäß § 101 Abs. 2 VwGO über die Klage ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben.
II.
18
Die Klage hat Erfolg, da sie zulässig und begründet ist. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die im Zeitraum 3. Februar 2016 bis 20. Dezember 2017 geleistete Hilfe zur Erziehung in Höhe von 17.824,12 € aus § 89e Abs. 2 SGB VIII.
19
1. § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sieht zum Schutz der Einrichtungsorte einen Kostenerstattungsanspruch vor. Richtet sich die örtliche Zuständigkeit für die Erbringung einer Jugendhilfeleistung nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern und ist dieser in einer Einrichtung begründet worden, so ist der örtliche Träger zur Erstattung der Kosten verpflichtet, in dessen Bereich die Person vor der Aufnahme in eine Einrichtung den gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
20
Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Die örtliche Zuständigkeit für die Erbringung von Jugendhilfeleistungen für das Kind richtete sich für den Zeitraum vom 2. Februar 2016 bis 20. Dezember 2017 gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der gemeinsam sorgeberechtigten Eltern im Bereich des Klägers. Die Eltern hatten dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einer Einrichtung im Sinne des § 89e SGB VIII. Insbesondere sind beide Elternteile als maßgebliche Anknüpfungspersonen in einer Einrichtung untergebracht (vgl. BayVGH, U.v. 1.9.2005 - 12 B 02.2455 - juris Rn. 14). Anspruchsinhaber ist der Kläger als geschützter Einrichtungsort.
21
2. Die Kosten hat der Beklagte als überörtlicher Träger der Jugendhilfe nach § 89e Abs. 2 SGB VIII zu tragen.
22
Für die Kostenerstattung könnten potentiell zwei unterschiedliche Kostenerstattungsschuldner im Sinne des § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII in Betracht kommen, weil die Eltern, die vorliegend beide für die örtliche Zuständigkeit maßgeblich sind, vor ihrer Aufnahme in eine Einrichtung jeweils unterschiedliche gewöhnliche Aufenthalte hatten. Vor Aufnahme in eine Einrichtung hatte die Kindsmutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich des Beigeladenen. Der Kindsvater hatte seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb einer Einrichtung im Bereich des Klägers.
23
Nach überwiegender Ansicht in der Literatur und bisherigen Rechtsprechung besteht bei zwei möglichen kostenerstattungspflichtigen örtlichen Trägern wegen verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der Eltern eine Regelungslücke, da sich aus § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nicht eindeutig ergebe, welchen von ihnen die Kostenerstattungspflicht treffen solle (vgl. vgl. NdsOVG, U.v. 20.8.2008, - 4 LG 28/06 - juris Rn. 42; OVG NW, B.v. 29.06.2005 - 12 A 3191/04 - juris Rn. 4 ff.; OVG RhPf, U.v. 2.6.2005 - 12 A 10328/05 - juris Rn. 11; VG Hannover, U.v. 22.4.2008 - 3 A 358/04 - Rn. 53; Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Auflage 2022, § 89e Rn. 10; Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Auflage 2022, § 89e Rn. 8; DIJuF JAmt 2008, 205; DIJuF JAmt 2021, 28).
24
Aufgrund dieser Regelungslücke kommt § 89e Abs. 2 SGB VIII zur Anwendung, wonach die Kosten von dem überörtlichen Träger zu erstatten sind, zu dessen Bereich der erstattungsberechtigte örtliche Träger gehört (vgl. unter c). Die Auswahl des maßgeblichen Elternteils analog der Zuständigkeitsregelungen bei unterschiedlichem gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern nach § 86 Abs. 2 - 4 SGB VIII führt in diesem Fall zu keinem Ergebnis (vgl. unter a). Eine gesamtschuldnerische Haftung und Kostenaufteilung entsprechend dem Rechtsgedanken der §§ 426 ff. BGB überzeugt nicht (vgl. unter b).
25
a) Es spricht zwar manches dafür auf die vorliegende Fallkonstellation § 86 Abs. 2 - 4 SGB VIII analog anzuwenden, wie von der bisherigen Rechtsprechung vertreten (vgl. NdsOVG, U.v. 20.8.2008, - 4 LG 28/06; OVG NW, B.v. 29.06.2005 - 12 A 3191/04; VG Hannover, U.v. 22.4.2008 - 3 A 358/04; Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Auflage 2022, § 89e Rn. 10; Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Auflage 2022, § 89e Rn. 8).
26
Die Interessenlage bei zwei potentiell kostenerstattungspflichtigen örtlichen Trägern wegen unterschiedlicher gewöhnlicher Aufenthalte der Eltern wird vergleichbar der Interessenlage bei zwei potentiell örtlich zuständigen örtlichen Trägern wegen verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der Elternteile angesehen.
27
Örtliche Zuständigkeit und Kostenerstattungspflicht hängen nach der Gesetzessystematik voneinander ab und greifen ineinander (NdsOVG, U.v. 20.8.2008 - 4 LG 28/06- juris Rn. 47; Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Auflage 2022, § 89e Rn. 10). Die Kostenträgerschaft folgt der Leistungszuständigkeit, soweit nicht in den §§ 89 ff. SGB VIII etwas Anderes geregelt ist (VG Hannover, U.v. 22.4.2008 - 3 A 358/04 - juris Rn. 55). Ist der Schutz vor überproportionaler finanzieller Belastung der kommunalen Gebietskörperschaften, in deren Einzugsbereich sich Einrichtungen befinden, durch Anwendung des § 89e Abs. 1 SGB VIII gesichert, sollen etwaige außerhalb des Schutzbereichs des § 89e SGB VIII liegende Zuständigkeitskonflikte nach den hierfür geltenden allgemeinen Regelungen gelöst werden (OVG NW, B.v. 29.6.2005 - 12 A 3191/04 - juris Rn. 5 ff.).
28
Dieser Lösungsansatz hilft aber hier nicht weiter. Auch mit Heranziehung der § 86 Abs. 2 - 4 SGB VIII ergibt sich nicht, auf welchen Elternteil hier vorrangig abgestellt werden soll, weil beide Eltern die Personensorge innehaben und das Kind erst nach Aufnahme in die Einrichtung geboren ist (dazu auch DIJuF JAmt 2008, 205).
29
b) Der Lösungsansatz, die Kosten auf die beiden möglichen kostenpflichtigen örtlichen Träger aufzuteilen analog der Regeln zur Gesamtschuld nach §§ 426 ff. BGB (vgl. DIJuF JAmt 2008, 205; DIJuF JAmt 2021, 28; Gsell/Krüger/Lorenz/Reymann, SGB VIII, Stand 1.6.2022, § 89e Rn. 17f.; Münder/Meysen/Trenczek; SGB VIII, 9. Auflage 2022, § 89e Rn. 7), wird abgelehnt.
30
Als Argument für diese Ansicht wird unter anderem vorgebracht, dass eine Aufspaltung der Kostenerstattung die gerechteste Lösung darstelle. Es sei fraglich, ob es beim Ausfüllen der Regelungslücke überhaupt darum gehe, einen der beiden Träger auszuwählen, da streng genommen beide durch § 89e Abs. 1 SGB VIII zur Kostenerstattung verpflichtet würden. Eine Übertragung der gesamten Kostenlast auf den überörtlichen Träger nach § 89e Abs. 2 SGB VIII würde den gewöhnlichen Aufenthalt der Elternteile und die daraus resultierende Kostenerstattungspflicht der örtlichen Träger unberücksichtigt lassen (DIJuF JAmt 2008, 205; DIJuF JAmt 2021, 28).
31
c) Diese Argumentation vermag das Gericht nicht zu überzeugen, weshalb es sich dem dritten Lösungsansatz anschließt, wonach der Beklagte als überörtlicher Träger dem Kläger nach § 89e Abs. 2 SGB VIII zur Kostenerstattung verpflichtet ist.
32
Diese Lösungsmöglichkeit erwägt auch das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 2. Juni 2005 mit der Begründung, dass kein Grund ersichtlich sei, dass nur einer der beiden betroffenen örtlichen Träger zur Erstattung der gesamten Kosten verpflichtet sein, den anderen hingegen keine Kostenbelastung treffen solle. § 89e Abs. 1 SGB VIII sehe aber auch keine Verpflichtung beider öffentlicher Träger vor, jeweils die Hälfte der entstehenden Kosten zu erstatten, sodass kein örtlicher Träger zur Kostenerstattung verpflichtet ist und eine erweiternde Anwendung von § 89e Abs. 2 SGB VIII erwogen werden kann (OVG RhPf, U.v. 2.6.2005 - 12 A 10328/05 - juris Rn. 30 f.).
33
Ob zunächst einer der beiden möglichen kostenerstattungspflichtigen örtlichen Träger auszuwählen ist, sodass nur diesen die Kostenbelastung trifft, kann vorliegend offengelassen werden, da eine analoge Anwendung der § 86 Abs. 2 - 4 SGB VIII zu keinem Ergebnis führt (s. o.). Die Einschränkungen in der bisherigen Rechtsprechung, wonach eine Kostenerstattung durch den überörtlichen Träger nach § 89e Abs. 2 SGB VIII nur in Betracht kommt, wenn gar kein erstattungspflichtiger örtlicher Träger vorhanden ist, weil es keinen gewöhnlichen Aufenthalt der maßgeblichen Person gibt bzw. dieser kostenerstattungsrechtlich geschützt ist, greifen daher vorliegend nicht.
34
Die Konstellation mit zwei kostenerstattungspflichtigen örtlichen Trägern nach § 89e Abs. 1 SGB VIII wird vom Wortlaut des § 89e Abs. 2 SGB VIII umfasst, der darauf abstellt, dass „ein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger nicht vorhanden“ ist. Die Tatbestandsvoraussetzungen wurden gerade nicht so formuliert, dass „kein“ kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger vorhanden sein darf.
35
Für eine Anwendung des § 89e Abs. 2 SGB VIII auf die vorliegende Konstellation spricht insbesondere, dass diese Vorschrift ebenfalls aus dem SGB VIII und dort aus den Kostenerstattungsregelungen der §§ 89 ff. SGB VIII stammt. Die Heranziehung einer Regelung aus demselben Gesetz bzw. sogar aus demselben Paragraphen erscheint sach- und systemgerechter, als die Übertragung eines Rechtsgedankens aus einem völlig anderen Rechtsgebiet. Das SGB VIII kennt grundsätzlich keine zwei Erstattungsträger nebeneinander, sondern sieht regelmäßig die Verantwortlichkeit eines Jugendhilfeträgers vor. Eine Kostenteilung ist dem Jugendhilferecht dagegen systemfremd. Die Argumentation, eine Übertragung der gesamten Kostenlast auf den überörtlichen Träger sei „ungerecht“ verfängt nicht. Die Vorschriften zur Gesamtschuld nach §§ 426 ff. BGB regeln die Beziehung zwischen mehreren gleichgeordneten Privatpersonen in deren Interesse. Die Vorschriften des SGB VIII dienen dagegen nicht lediglich dem finanziellen Interesse der Jugendhilfeträger. Auch im Rahmen der Zuständigkeitsregelungen sieht § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII bei nach Leistungsbeginn begründeten unterschiedlichen gewöhnlichen Aufenthalten der Elternteile keine Aufspaltung der örtlichen Zuständigkeit vor, sondern lässt die bisherige Zuständigkeit - und damit verbunden die Pflicht zur Kostentragung - des örtlichen Trägers bestehen, selbst wenn keiner der Eltern dort mehr einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Auch in diesem Fall werden die Kosten nicht etwa hälftig geteilt, sondern dem bisher zuständigen örtlichen Träger aufgebürdet. Zudem findet der gewöhnliche Aufenthalt der Elternteile darin Berücksichtigung, dass nach § 89e Abs. 2 SGB VIII der überörtliche Träger kostenerstattungspflichtig ist, zu dessen Bereich der erstattungsberechtigte örtliche Träger gehört. Folglich trifft - zum Schutz des zugehörigen örtlichen Trägers - den überörtlichen Träger die Kostenerstattungspflicht, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.
36
Der Heranziehung von § 89e Abs. 2 SGB steht auch nicht die Gesetzesbegründung zu § 89e SGB VIII entgegen, wonach Absatz 2 eine subsidiäre Kostenerstattungspflicht des überörtlichen Trägers begründet (BT-Drs. 12/2866 S. 25). Zum einen wird Absatz 2 hier erst angewandt, nachdem aufgrund der vorhandenen Regelungslücke ein primär Kostenerstattungspflichtiger nach Absatz 1 nicht eindeutig definiert werden konnte. Zum anderen führt auch eine mögliche vorherige analoge Anwendung der § 86 Abs. 2 - 4 SGB VIII zur Auswahl eines der beiden primär pflichtigen örtlichen Träger zu keinem Ergebnis (s.o.).
37
Zuletzt bleibt auch der Zweck des § 89e SGB VIII, namentlich der Schutz der Einrichtungsorte gewahrt, da dem Kläger als schutzwürdigem örtlichen Träger ein Kostenerstattungsanspruch vermittelt wird.
III.
38
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
IV.
39
Die Berufung wird zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 124 Abs. 2 Nr. 3, § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO).