Inhalt

LG Nürnberg-Fürth, Urteil v. 07.02.2022 – 19 Ks 113 Js 2195/21
Titel:

Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung: Verneinung eines bedingten Tötungsvorsatzes – Zu den Voraussetzungen einer Strafrahmenverschiebung gem. §§ 46a Nr. 1, 49 Abs. 1 StGB (Täter-Opfer-Ausgleich) sowie einer Versagung der Strafrahmenmilderung gem. §§ 21, 49 Abs. 1 StGB bei alkoholbedingter Verminderung der Schuldfähigkeit 

Normenkette:
StGB § 21, § 46a Nr. 1, § 49 Abs. 1, § 64, § 223, § 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5, § 212
Leitsätze:
1. Insbesondere bei spontanen, unüberlegten, in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus dem Wissen um den möglichen Erfolgseintritt nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass auch das – selbstständig neben dem Wissenselement stehende – voluntative Vorsatzelement gegeben ist. Bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements ist es regelmäßig erforderlich, dass sich das Tatgericht auch mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung sowie seine Motivation in Betracht zieht. (Rn. 84) (redaktioneller Leitsatz)
2. Im Falle alkoholbedingter Verminderung der Steuerungsfähigkeit ist eine Versagung der fakultativen Strafrahmenmilderung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB wegen "Vorverschuldens" im Hinblick auf den Konsum von Alkohol und die dem Angeklagten bereits aus der Vergangenheit bekannte aggressionssteigernde Wirkung dieses Rauschmittels grundsätzlich nur möglich, wenn die selbst zu verantwortende Trunkenheit dem Täter uneingeschränkt vorwerfbar ist, er insbesondere weder alkoholkrank ist noch Alkohol aufgrund eines unwiderstehlichen Hanges trinkt. (Rn. 119) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
gefährliche Körperverletzung, bedingter Tötungsvorsatz, alkoholbedingte Verminderung der Steuerungsfähigkeit, Versagung der Strafrahmenmilderung, Täter-Opfer-Ausgleich, friedensstiftende Wirkung, Weigerung des Tatopfers
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Urteil vom 07.09.2022 – 6 StR 225/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 37891

Tenor

1. Der Angeklagte ..., geboren am ....2000, ist schuldig der gefährlichen Körperverletzung. Er wird deshalb zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren zehn Monaten verurteilt.
2. Die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt wird angeordnet.
3. Der Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens, seine notwendigen Auslagen und die notwendigen Auslagen des Nebenklägers ... zu tragen.

Entscheidungsgründe

1
Mit Anklageschrift vom 08.11.2021 legte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth dem Angeklagten versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zur Last, weil er in den frühen Morgenstunden des 29.08.2021 auf dem Gelände einer Tankstelle im Stadtgebiet von N. in Richtung des Nebenklägers ... eine gläserne und gefüllte 0,5- Liter-Flasche Bier geworfen, diesen dabei am Kopf getroffen und - nachdem der Geschädigte gestürzt war und sich blutend am Boden befand - das Tankstellengelände gemeinsam mit zwei Begleitern verlassen habe. Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass der Angeklagte jedenfalls billigend in Kauf genommen habe, dass der Geschädigte ... durch den Wurf der gefüllten Bierflasche tödlich verletzt bzw. er aufgrund der eingetretenen Verletzungen an deren Folgen versterben würde. Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme konnte sich die Kammer nicht von einem - wie die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift dargelegt hatte - bedingten Tötungsvorsatz des Angeklagten überzeugen und verurteilte diesen wegen gefährlicher Körperverletzung unter Berücksichtigung des § 21 StGB. Darüber hinaus lagen bei dem Angeklagten auch die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB vor.
A)
Feststellungen
2
Eine Verständigung der Verfahrensbeteiligten mit der Kammer gemäß § 257c StPO lag diesem Urteil nicht zugrunde.
I.
Zur Person des Angeklagten
1.
Lebenslauf
3
Der zur Tatzeit 21 Jahre alte, in Afghanistan geborene Angeklagte wuchs dort als zweitältestes von acht Kindern zunächst in R. bei seinen Eltern - einem Angehörigen der afghanischen Armee und einer Hausfrau - auf und besuchte in Afghanistan die Schule bis zur sechsten Klasse. Weil die Taliban aufgrund der Armeezugehörigkeit seines Vaters den Angeklagten als Kindersoldaten rekrutieren wollten, übersiedelte er im Alter von etwa 12 Jahren auf Betreiben seiner Eltern zu einem Onkel nach K., wo er für etwa zwei Jahre lebte, bevor er im Alter von 14 oder 15 Jahren unbegleitet über Pakistan, den Iran und die Türkei nach Deutschland flüchtete, wo er im September 2015 ankam. Zu seinen Familienangehörigen, die mittlerweile im Iran bzw. in der Türkei leben, hat der der Angeklagte nur noch selten Kontakt.
4
Auf seiner Flucht legte der Angeklagte weite Strecken zu Fuß zurück, erlebte den Tod anderer Flüchtlinge und musste - nach einer Alkoholvergiftung im Alter von etwa 16 Jahren - aufgrund von Angstzuständen und Albträumen im Zusammenhang mit einer posttraumatischen Belastungsstörung über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren ambulant jugendpsychiatrisch behandelt werden. Der Angeklagte besuchte in Deutschland zunächst die Berufsschule, wechselte dann in die Regelschule und absolvierte den Hauptschulabschluss, den qualifizierenden Hauptschulabschluss, schließlich die Mittlere Reife mit einem Notendurchschnitt von 1,5 und zugleich eine Ausbildung als Sozialpfleger. Nachdem er zuerst in verschiedenen Einrichtungen für jugendliche Flüchtlinge und sodann für etwa eineinhalb Jahre bei einer Pflegefamilie in H. wohnte, lebte der Angeklagte bis zu seiner Festnahme im vorliegenden Verfahren (unten 4.) für etwa ein Jahr in einer Wohngemeinschaft im Anwesen ... ...26 in N..
5
Der Angeklagte, der seit etwa zwei Jahren eine Beziehung zu seiner in F. wohnhaften, deutschstämmigen Freundin unterhält, befand sich zur Tatzeit im zweiten Jahr eines Ausbildungsverhältnisses zum Gesundheits- und Krankenpfleger beim B. R. K.. Dieses Ausbildungsverhältnis wurde anlässlich der Inhaftierung in vorliegender Sache zum 30.09.2021 aufgelöst.
6
Der Angeklagte, der nach wie vor unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, ist nicht vorbestraft. Ein gegen ihn geführtes Verfahren wegen einer - unter Alkoholeinfluss begangenen - vorsätzlichen Körperverletzung mit Sachbeschädigung wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vom 26.04.2019, Az. 605 Js 55597/19jug, gemäß § 45 Abs. 2 JGG eingestellt. Unter Alkoholeinfluss wurde der Angeklagte noch in zwei weitere körperliche Auseinandersetzungen verwickelt:
7
So wurde ihm von einem unbekannt gebliebenen Täter am 30.01.2016 anlässlich einer Begegnung mit mehreren iranisch-stämmigen Männern in der Nähe des N. Hauptbahnhofs mit einer abgebrochenen Glasflasche auf den Kopf geschlagen; hierbei wurde er nicht lebensgefährlich verletzt. Er musste aber wiederholt am verletzten rechten Auge operiert und stationär behandelt werden und erlitt durch diese Attacke eine Einschränkung der Sehleistung auf dem rechten Auge um 20%.
8
Weiterhin wurde der Angeklagte in den frühen Morgenstunden des 07.11.2019 von einem anderen afghanischen Staatsangehörigen bei einer von ihm selbst in alkoholisiertem Zustand mittels Beleidigungen provozierten Auseinandersetzung durch einen Messerangriff im Halsbereich verletzt. Wegen der etwa zehn Zentimeter langen sowie unterhalb des Unterkiefers verlaufenden Schnittverletzung musste der Angeklagte in der Notaufnahme des Klinikums N.-S. behandelt werden, ohne dass eine stationäre Krankenhausbehandlung erforderlich gewesen wäre. Der Angreifer wurde in der Folge von einer Schwurgerichtskammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth mit Urteil vom 18.09.2020, Az. 5 Ks 114 Js 2124/19, rechtskräftig seit 25.11.2020, wegen dieser gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil des Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
2.
Ausländerrechtlicher Status
9
Der Angeklagte wurde im Zeitraum 10.06.2016 bis 08.12.2017 in Deutschland ausländerrechtlich geduldet, stellte am 07.08.2017 Asylantrag und beschränkte diesen später gemäß § 13 Abs. 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes in Form der Flüchtlingseigenschaft und subsidiären Schutzes. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder eines subsidiären Schutzstatus wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19.01.2018 abgelehnt, der Angeklagte zugleich zur Ausreise aufgefordert und ihm die Abschiebung angedroht. Die gegen diesen Bescheid vom Angeklagten erhobene Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach vom 29.01.2018 nahm dieser unter dem 21.12.2020 zurück. Mit Wirkung ab 22.12.2020 wurde ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG befristet bis 30.09.2022 erteilt. Eine Abschiebung droht aktuell nicht.
3.
Drogen- und Alkoholkonsum
10
Der Angeklagte probierte nach seiner Ankunft in Deutschland erstmals Nikotinzigaretten und Alkohol, woraus sich zunächst nur ein gelegentlicher Konsum von Zigaretten und Bier entwickelte. Phasenweise kam es allerdings - etwa im Alter von 16 oder 17 Jahren - bereits zu einem erhöhten Alkoholkonsum. Seit dem Jahr 2021 trank der Angeklagte vermehrt Alkohol, vorwiegend Bier und Wodka, wobei er pro Trinkepisode bis zu fünf Flaschen Bier und zusätzlich Wodka zu sich nahm. Im August 2021 konsumierte der Angeklagte fast täglich nach der Arbeit Alkohol in Form von Bier, Wodka und anderen hochprozentigen Getränken. Cannabis probierte der Angeklagte erstmalig im Alter von 17 oder 18 Jahren.
11
Zunächst kam es zu einem sporadischen, phasenweise dann auch zu einem regelmäßigen Konsum, den der Angeklagte aus Angst vor einer Abhängigkeit im Alter von etwa 20 Jahren auf einen noch gelegentlichen Konsum reduzierte und vereinzelt auch Methamphetamin, Ecstasy sowie Tramadol zu sich nahm.
4.
Untersuchungshaft
12
Der Angeklagte wurde am 03.09.2021 vorläufig festgenommen und befindet sich seit diesem Tag - zunächst aufgrund Untersuchungs-Haftbefehls des Amtsgerichts Nürnberg vom 03.09.2021 (Gz.: 57 Gs 8306/21) und seit dessen Aufhebung mit Beschluss der Kammer vom 13.12.2021 aufgrund Haftbefehls der Kammer vom selben Tag - ununterbrochen in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt N..
II.
Zur Person des Geschädigten
13
Der zur Tatzeit 58 Jahre alte Geschädigte ist deutsch-iranischer Staatsangehöriger und seit mehreren Jahren in Deutschland als Taxifahrer tätig. Aufgrund eines Herzleidens nimmt der Geschädigte blutverdünnende Medikamente ein und bezieht gemäß Bescheid der Deutschen Rentenversicherung vom 14.03.2018 eine volle Erwerbsminderungsrente in Höhe von zuletzt 499,16 EUR monatlich. Bis zur vorliegend abgeurteilten Straftat war er weiterhin in abhängiger Beschäftigung als Taxifahrer tätig. Diese Nebentätigkeit beendete er nach der Tat. Er schloss sich als Nebenkläger dem Verfahren an.
14
Der Bundeszentralregisterauszug des Nebenklägers weist neun Eintragungen - auch wegen Körperverletzungsdelikten - auf:
15
So wurde der Nebenkläger mit Strafbefehl des Amtsgerichts Nürnberg vom 21.12.1999 (Az. Cs 105 Js 1136/99), rechtskräftig seit 22.01.2000, wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 50,00 DM verurteilt, weil er im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung seinem Kontrahenten mittels eines Messers mit einer Klingenlänge von 8,8 cm und einer Klingenbreite von maximal 1,5 cm Stichverletzungen an dessen linkem Schulterblatt sowie im Rückenbereich nahe der Wirbelsäule beibrachte.
16
Hierdurch erlitt der Kontrahent des Nebenklägers seinerzeit durch die 1,5 bis 2 cm breite Stichverletzung am Rücken einen Spitzenpneumothorax, der für mehrere Tage stationär im Klinikum N. behandelt werden musste.
17
Weiterhin wurde er mit Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 17.02.2003 (Az. 42 Ds 801 Js 22873/02), rechtskräftig seit 01.04.2003, wegen Bedrohung zu einer Geldstrafe von 75 Tagessätzen zu je 20,00 EUR verurteilt, weil er wegen eines fehlenden Flugtickets einem Mitarbeiter des Flughafens N. gegenüber eine Bombendrohung zum Nachteil der Fluggesellschaft aussprach und dem Mitarbeiter damit drohte, diesem jemanden vorbeizuschicken und dass dieser in drei Wochen nicht mehr am Flughafen arbeiten werde.
18
Ferner verurteilte das Amtsgericht Nürnberg den Nebenkläger mit Urteil vom 22.05.2006 (Az. 42 Ds 801 Js 18061/05), rechtskräftig seit 09.10.2006, u.a. wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten mit Bewährung, nachdem dieser seine damalige Ehefrau im April 2005 wenigstens zweimal mit der flachen Hand schlug und eine Nachbarin u.a. als „Türkenhure“ bezeichnet hatte.
19
Mit Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 10.01.2014 (Az. 48 Ds 801 Js 19764/13), rechtskräftig seit 23.01.2014, wurde der Geschädigte wegen Beleidigung in drei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 20,00 EUR verurteilt, weil er im Juli 2013 seine damalige Ehefrau u.a. als „albanische Zigeunerin“ und „Schlampe“ bezeichnet hatte.
III.
Tatsachverhalt
1.
Vor der Tat
20
Der Angeklagte verbrachte den Abend des 28.08.2021 und die Nacht auf den 29.08.2021 mit mehreren Bekannten, unter anderem …, seiner Freundin - der Zeugin … - und den Zeugen … sowie dem erst 15-jährigen … in der unter anderem von ihm bewohnten Wohnung in der ... 26 in N. sowie zeitweise auf dem Volksfestplatz in N.. Der Angeklagte konsumierte im Laufe der Zusammenkunft - wobei Trinkbeginn und Trinkende nicht näher aufzuklären waren - bis etwa 04:00 Uhr ungefähr drei Flaschen Bier à 0,5 l sowie etwa je eine halbe Flasche Jägermeister und Wodka. Außerdem rauchte er eine Kleinmenge Marihuana und nahm eine halbe Ecstasy-Tablette zu sich. Im Verlaufe des Abends bzw. der Nacht kam es in der Wohnung mehrfach zu lauten Streitgesprächen zwischen dem Angeklagten und weiteren Personen, insbesondere dem …, welchen er bei früheren Gelegenheiten unter Alkoholeinfluss bereits körperlich attackiert hatte. Wegen dieser Auseinandersetzungen und um weitere alkoholische Getränke zu erwerben, verließen der Angeklagte sowie die Zeugen …und ... gegen 04:15 Uhr die im Anwesen ... 26 gelegene Wohnung und begaben sich zu Fuß zur ...-Tankstelle in der ... in N.. Dort erwarb der Angeklagte am 29.08.2021 kurz vor 04:30 Uhr im Verkaufsraum eine gläserne 0,5l-Flasche „Z.“ Bier.
21
Der Nebenkläger … stellte zu dieser Zeit sein Taxi im Bereich des Tankstellengeländes neben der Staubsaugeranlage ab und begab sich Richtung Verkaufsraum.
2.
Eigentliches Tatgeschehen
22
Beim Verlassen des Verkaufsraumes kurz vor 04:30 Uhr stellte sich der Angeklagte im Bereich der Eingangstüre dem Nebenkläger …, der gerade den Verkaufsraum betreten wollte, in den Weg, bewegte sich vor diesem hin und her und äußerte dabei unverständliche Laute wie „wa, wa, wa“. Nach wenigen Sekunden ging der Angeklagte mit seinen beiden Begleitern - den Zeugen … und … - weiter Richtung Außengelände der Tankstelle. Der Nebenkläger blickte dem Angeklagten von der Eingangstüre aus für etwa 18 Sekunden nach, rief diesem eine beleidigende Äußerung nicht mehr näher aufklärbaren Inhaltes nach und ging erst dann weiter in den Verkaufsraum, um dort Zigaretten zu erwerben.
23
Der Angeklagte sowie die Zeugen … und … begaben sich auf dem Tankstellengelände in Richtung der Parkplätze, auf denen auch das Taxi des … nur wenige Meter - zwei Parkbuchten - entfernt vom und parallel zum weißen Pkw der Zeugin …n mit dem amtlichen Kennzeichen … abgestellt war. In unmittelbarer Nähe des Pkw der Zeugin … stoppten der Angeklagte und seine beiden Begleiter, weil der Angeklagte den Nebenkläger noch wegen dessen zuvor dargestellter beleidigender Äußerung zur Rede stellen wollte. Der Nebenkläger … verließ den Verkaufsraum etwa 55 Sekunden nach dem Angeklagten. Er lief an seinem Taxi vorbei und begab sich unmittelbar zu der nur wenige Meter von seinem Fahrzeug entfernt wartenden Personengruppe um den Angeklagten, bis er zwischen der Beifahrerseite seines Taxis und dem parallel hierzu geparkten PKW der Zeugin … stand. Der Nebenkläger wollte seinerseits den Angeklagten wegen dessen vorangegangenen Verhaltens im Eingangsbereich des Verkaufsraums zur Rede stellen.
24
Dabei beschimpfte und beleidigte er den Angeklagten u.a. unter Verwendung wenigstens eines türkischen Schimpfwortes und fuchtelte mit erhobenen Armen herum, ohne dabei den Angeklagten oder dessen beiden Begleiter zu berühren.
25
Der Zeuge … stellte sich zunächst zwischen den Angeklagten und den Nebenkläger - diese standen sich dabei mit den Gesichtern frontal in einer Entfernung von weniger als einem Meter gegenüber - und versuchte die Situation zu beruhigen. Als sich der Zeuge …schließlich nach rechts umdrehte, um sich von der Personengruppe abzuwenden und zur Fahrerseite seines Taxis zu begeben, machte der Angeklagte einen Schritt nach hinten und warf - nachdem er hierzu ausgeholt hatte - aus einer Entfernung von etwa zwei bis drei Metern die noch verschlossene gläserne Flasche „Z.“ Bier in Richtung des Nebenklägers. Der Angeklagte wollte den Geschädigten durch den Wurf mit seiner Bierflasche verletzen. Hierbei hielt er einen Treffer im Kopfbereich und den hierdurch bedingten Eintritt auch schwerwiegender Verletzungen für möglich und nahm dies billigend in Kauf. Die Flasche traf den Geschädigten … mit dem Flaschenboden an der linken seitlichen Kopfseite oberhalb des Ohres und verursachte dort eine bogenförmige, blutende Riss-Quetsch-Wunde sowie ein Subduralhämatom. Die vom Kopf des Geschädigten abprallende Glasflasche fiel zu Boden und ging dabei zu Bruch. Der Geschädigte war durch den Anprall der gefüllten Bierflasche in seiner Koordination und Motorik beeinträchtigt und torkelte einige Schritte in Richtung des geparkten PKW der Zeugin …, bevor er - kurzzeitig bewusstseinsgetrübt - zu Boden fiel. Hierbei stürzte er mit dem Gesicht auf den gepflasterten Boden, erlitt dadurch vier Gesichtsmittelfrakturen des rechten vorderen Stirnbeins, des Nasenbeins, des rechten Augenhöhlendachs und der Nasennebenhöhle sowie ein Brillenhämatom rechts. Ferner entstand durch den Sturz eine Einblutung an der linken Schulter.
26
Der Angeklagte, der infolge eintretender Blutungen des Nebenklägers die Schwere der Verletzungen als Folge seiner vorangegangenen Gewaltanwendung erkennen konnte, verließ gemeinsam mit den Zeugen ... und ... das Tankstellengelände, in dessen Außenbereich zu diesem Zeitpunkt keine weitere Person anwesend war, und lief in stadteinwärtiger Richtung zu seiner Wohnung im Anwesen …26. Dabei gingen der Angeklagte und seine beiden Begleiter davon aus, dass die Zeugin …, die aus dem zur Tankstelle gehörenden Verkaufsraum den Tatortbereich einsehen konnte, dem Geschädigten … alsbald helfen und weitere Hilfe Dritter hinzuholen würde.
3.
Nach der Tat
27
Die im Tankstellenshop anwesende Zeugin …, die bereits die kurzzeitige verbale Auseinandersetzung des Angeklagten und des Geschädigten im Türbereich des Verkaufsraumes wahrgenommen hatte und nun auf die Auseinandersetzung im Außenbereich der Tankstelle aufmerksam geworden war, verließ den Verkaufsraum etwa 25 Sekunden nach dem Geschädigten, und fand diesen am Boden hinter ihrem Fahrzeug in einer Art Hockstellung sitzend vor. Sie leistete ihm Ersthilfe und benachrichtigte Polizei und Rettungskräfte, die den Geschädigten erstversorgten und gegen 05:04 Uhr in das Klinikum N.-S. verbrachten. Der Geschädigte befand sich dort in stationärer ärztlicher Behandlung, aus welcher er sich - entgegen ärztlichem Rat - am 08.09.2021 selbst entließ. Es erfolgte eine konservative Behandlung der erlittenen Verletzungen.
28
Nach wie vor leidet der Geschädigte verletzungsbedingt unter gelegentlichen Kopfschmerzen sowie unter Schwerhörigkeit auf dem linken Ohr. Er ist deshalb auf Hörgeräte angewiesen. Ferner leidet der Zeuge …nach wie vor unter gelegentlichen Schmerzen beim Kauen infolge der erlittenen Verletzungen, weshalb er in den ersten Wochen nach der Tat lediglich flüssige Kost zu sich nehmen konnte. Die ersten drei Monate nach der Tat hatte der Geschädigte Angstzustände, begab sich deshalb in psychologische Behandlung und schloss sich einer Selbsthilfegruppe für traumatisierte Personen an. Auf seine Angehörigen wirkt der Geschädigte seit der Tat persönlichkeitsverändert.
29
Nachdem am vierten Hauptverhandlungstag der Kammer von der Nebenklägervertreterin ein unter dem 27.01.2022 abgefasster Schriftsatz mit einem Adhäsionsantrag zur Geltendmachung einer Schmerzensgeldforderung in Höhe von 25.000,00 EUR sowie von Feststellungsanträgen zur weitergehenden Ersatzpflicht des Angeklagten im Hinblick auf künftig entstehende materielle und immaterielle Schäden und zur Haftung des Angeklagten aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung übergeben worden war, schlossen der Angeklagte und der Nebenklägervertreter - dieser vertreten durch seine anwaltliche Vertreterin - am fünften Tag der Hauptverhandlung einen zivilrechtlichen Vergleich zur Erledigung der im Adhäsionsverfahren anhängigen Ansprüche des Nebenklägers. Dabei verpflichtete sich der Angeklagte unter Hinweis auf seine limitierten wirtschaftlichen Verhältnisse zur Zahlung eines Betrages von 10.000,00 EUR an den Adhäsionskläger unter gleichzeitiger Abgeltung aller - ggf. auch künftig erst entstehender - immaterieller Schäden aus dem Vorfall vom 29.08.2021. Zudem verpflichtete sich der Angeklagte zum Ersatz aller dem Adhäsionskläger entstandenen oder künftig noch entstehenden materiellen Schäden aus Anlass des gegenständlichen Vorfalls, auch soweit Ansprüche auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden. Auch über die Kosten des Adhäsionsverfahrens erfolgte eine Einigung. Noch im Hauptverhandlungstermin übergab der Angeklagte durch seine Verteidiger einen Bargeldbetrag von 700,00 EUR an die Nebenklägervertreterin zur Verrechnung auf die Schmerzensgeldforderung. Letztere erklärte für den nicht anwesenden Nebenkläger gegenüber der Kammer, dass dieser den Vergleichsschluss nicht als Täter-Opfer-Ausgleich verstanden wissen möchte.
IV.
Schuldfähigkeit des Angeklagten
30
Die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten war bei Begehung der festgestellten Tat weder aufgehoben noch erheblich eingeschränkt; jedoch war aufgrund einer akuten Intoxikation des Angeklagten mit Alkohol dessen Steuerungsfähigkeit nicht ausschließbar erheblich vermindert, aber nicht aufgehoben.
B)
Beweiswürdigung
I.
Zur Person des Angeklagten
31
Die Feststellungen zur Biografie und zum Alkohol- und Drogenkonsum des Angeklagten beruhen u.a. auf dessen insoweit glaubhaften Angaben gegenüber dem psychiatrischen Sachverständigen … anlässlich der Exploration. Der Sachverständige gab diese Äußerungen des Angeklagten in öffentlicher Hauptverhandlung wieder und bezeichnete diese als authentisch und - auch anhand der damit in Einklang stehenden chemischtoxikologischen Analyse einer bei dem Angeklagten am 14.09.2021 entnommenen Haarprobe - nachvollziehbar.
32
Der Angeklagte bestätigte diese Bekundungen des psychiatrischen Sachverständigen als zutreffend und äußerte sich - in Übereinstimmung mit den Feststellungen im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19.01.2018 - in glaubhafter Art und Weise ergänzend hierzu.
33
Die Feststellung, dass das Ausbildungsverhältnis des Angeklagten aufgelöst wurde, beruht auf dem Schreiben der Berufsfachschule für Pflege und Krankenpflege der Schwesternschaft N. des BRK vom 16.11.2021 gerichtet an die Stadt N..
34
Die Feststellungen zu den in der Vergangenheit in alkoholisiertem Zustand des Angeklagten stattgehabten Auseinandersetzungen und den hierbei erlittenen Verletzungen des Angeklagten beruhen auf - jeweils vom Angeklagten als zutreffend bestätigt - zum Vorfall vom 30.01.2016 (vgl. Feststellungen dazu oben A.I.1) auf dem Ermittlungsbericht des KHK W. vom 21.02.2017 im Verfahren der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth zum Az. 114 UJs 185055/17, dem Arztbericht des Klinikums N.-N. vom 08.02.2016 und dem Gutachten der Rechtsmedizin E. vom 15.10.2016 sowie zum Vorfall am 07.11.2019 (vgl. auch hierzu die Feststellungen zu A.I.1) auf dem Urteil des Landgerichts NürnbergFürth vom 18.09.2020 (Az.: 5 Ks 114 Js 2114/19).
35
Die Angaben des Angeklagten zu seinem Konsumverhalten fanden zur Überzeugung der Kammer durch das vom rechtsmedizinischen Sachverständigen …nachvollziehbar und widerspruchsfrei referierte Gutachten der Forensisch-Analytischen Laboratorien am Institut für Rechtsmedizin der Universität E. vom 08.10.2021 zur chemisch-toxikologischen Untersuchung einer bei dem Angeklagten am 14.09.2021 entnommenen Haarprobe Bestätigung: Danach ließ sich für den von der Untersuchung erfassten Zeitraum von etwa drei Monaten vor der Haarabnahme ein mit den Angaben des Angeklagten im Wesentlichen korrespondierender Rückschluss auf den festgestellten Konsum von Alkohol und Betäubungsmitteln ziehen. Auch stimmen die Angaben des Angeklagten zu seinem Konsumverhalten im Wesentlichen mit den Angaben seiner als Zeugin vernommenen Lebensgefährtin … überein. Diese gab - zur Überzeugung der Kammer glaubhaft - an, dass der Angeklagte häufig nach Dienstende oder am Wochenende Alkohol, hierbei auch hochprozentige Getränke, zu sich genommen sowie gelegentlich Ecstasy oder „Gras“ konsumiert habe. Die Kammer verlor bei der Würdigung der Angaben dieser Zeugin nicht aus dem Blick, dass sie als Lebensgefährtin des Angeklagten einen Teil der Hauptverhandlung nebst Vernehmung des Zeugen … am ersten Tag der Hauptverhandlung mitverfolgte und dazu einer Freundin Nachrichten via den messenger Dienst w. übermittelte. Die Kammer sah auch - wie die Zeugin freimütig bei ihrer spontan und ohne schriftliche Vorladung erfolgten Vernehmung durch die Kammer am ersten Tag der Hauptverhandlung einräumte -, dass sie dieser Freundin u.a. schrieb, dass der Zeuge … den Grad der Alkoholisierung des Angeklagten quasi herunterspiele, „obwohl das gut wäre wenn er richtig krass betrunken wäre“. Die Zeugin sagte ohne erkennbaren Entlastungseifer, ruhig, sachlich und widerspruchsfrei und damit letztlich glaubhaft und im Einklang mit den Angaben der weiterhin zur Frage der Alkoholisierung des Angeklagten vernommenen Zeugen aus. So schilderte in Übereinstimmung hiermit auch der Zeuge …, der mit dem Angeklagten nach eigenem Bekunden bereits geraume Zeit vor der Tat befreundet war, ohne erkennbaren Entlastungseifer entsprechendes Konsumverhalten des Angeklagten. Auch die Schilderung der Zeugin …, eigenem Bekunden nach Zeitungsausträgerin im Bereich der Wohnung … 26 in N., belegt das zur Überzeugung der Kammer festgestellte Konsumverhalten des Angeklagten, wonach die Zeugin den Angeklagten und weitere männliche Personen wiederholt in den Nacht- bzw. frühen Morgenstunden in der Nähe dessen Wohnung betrunken gesehen habe. Zu den insofern getroffenen Feststellungen der Kammer stand nicht in Widerspruch, dass die Zeugin … - auch nach eigenem glaubhaften Bekunden von etwa Januar 2019 bis November 2020 Wohnungsgeberin des Angeklagten - von einem übermäßigen Alkohol- oder Drogenkonsum des Angeklagten nichts berichten konnte. Denn die Zeugin berichtete der Kammer selbst davon, dass sie seit dem Auszug des Angeklagten mit diesem auch aufgrund der Corona-Pandemie nur noch vereinzelt persönlichen Kontakt gehabt und hauptsächlich über W. kommuniziert habe.
36
Die Haftdaten beruhen auf den hierzu getroffenen Feststellungen durch den Vorsitzenden in der Hauptverhandlung.
37
Die Feststellung, dass der Angeklagte bislang nicht vorbestraft ist und ein gegen ihn geführtes Verfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit Sachbeschädigung nach § 45 Abs. 2 JGG eingestellt wurde, beruht auf dem Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 07.12.2021 sowie auf dem diesbezüglichen Aktenvermerk der Polizeiinspektion N.O. vom 25.03.2019 und der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vom 26.04.2019 zum dortigen Aktenzeichen 605 Js 55597/19jug.
38
Die Feststellungen zum ausländerrechtlichen Status des Angeklagten stützen sich auf den Ausländerzentralregisterauszug vom 31.12.2021 sowie die Duldungsverfügungen vom 06.12.2016 und 16.06.2017, die Aufenthaltsgestattungen vom 31.08.2017 und 01.03.2018, den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19.01.2018, die Aufenthaltserlaubnis (Verfügung eAT) mit Gültigkeit ab 22.12.2020 und den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 07.01.2021.
II.
Zur Person des Geschädigten
39
Die Feststellungen zur Person des Geschädigten beruhen auf dessen glaubhaften Angaben gegenüber der Kammer, den Angaben seiner Tochter - der Zeugin J. … - sowie den Schreiben der Deutschen Rentenversicherung vom 01.07.2020, 10.12.2021 und 11.01.2022. Die Feststellungen zu den strafrechtlichen Vorahndungen des Geschädigten beruhen auf dem ihn betreffenden Bundeszentralregisterauszug vom 04.01.2022 sowie den hierzu ergangenen schriftlichen Gründen der Entscheidungen des Amtsgerichts Nürnberg vom 21.12.1999 (Az. Cs 105 Js 1136/99), 17.02.2003 (Az. 42 Ds 801 Js 22873/02), 22.05.2006 (Az. 42 Ds 801 Js 18061/05) und 10.01.2014 (Az. 48 Ds 801 Js 19764/13).
III.
Feststellungen zur Sache
40
Die Feststellungen zu Tatzeit, Tatort und Tatgeschehen beruhen neben der Einlassung des Angeklagten - soweit dieser unter Berücksichtigung der erheblichen Alkoholisierung und daraus resultierender Erinnerungslücken des Angeklagten gefolgt werden konnte - auch auf einer Mehrzahl von glaubhaften Zeugenaussagen, Sachverständigengutachten, Videoaufzeichnungen, Lichtbildern und Urkunden. Die Kammer hat bei ihrer Würdigung der Einlassung des Angeklagten, der Bekundungen der Sachverständigen sowie der Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugen die von den Verfahrensbeteiligten sowie sämtlichen Zeugen und Sachverständigen während der Anwesenheit im Sitzungsaal zu tragende MundNasen-Bedeckung und die so nur eingeschränkt zu erkennende Gesichtsmimik berücksichtigt. Gleichwohl gab es angesichts der weitgehenden Übereinstimmung mit den bereits im Ermittlungsverfahren getroffenen Angaben und lediglich vereinzelt aufgetretenen, auf den Zeitablauf zurückzuführenden Erinnerungslücken keinen Anlass, an der Glaubwürdigkeit der oben genannten Zeugen bzw. der Glaubhaftigkeit von deren Aussagen oder den Darlegungen der Sachverständigen Zweifel zu hegen. Dies u.a. deshalb, weil die Angaben durchweg ruhig und sachlich ohne erkennbaren Belastungseifer vorgetragen wurden.
41
Die rechtsmedizinischen Sachverständigen … und … sind der Kammer bereits geraume Zeit als fachkundige Gelehrte ihres Sachgebiets mit umfangreicher klinischer Expertise und jahrelanger forensischer Erfahrung bekannt. Die Kammer fand keinen Anhalt zu Zweifeln an der Kompetenz dieser Sachverständigen. Entsprechende Anhaltspunkte wurden auch von den Verfahrensbeteiligten nicht vorgebracht. Die Kammer hat die Darstellungen der Sachverständigen als widerspruchsfrei nachvollzogen und selbst kritisch gewürdigt.
1.
Objektive und subjektive Tatseite
a)
Einlassungen des Angeklagten
42
Der Angeklagte ließ sich im Ermittlungsverfahren (1) gegenüber dem Ermittlungsrichter und im Rahmen der psychiatrischen Exploration sowie in der Hauptverhandlung gegenüber der Kammer (2) zur Sache ein.
(1)
43
Im Ermittlungsverfahren äußerte sich der Angeklagte - was der Zeuge KHK …, nach eigenem Bekunden kriminalpolizeilicher Ermittlungsführer, der Kammer berichtete - gegenüber der Kriminalpolizei nicht zur Sache.
44
Gegenüber dem Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Nürnberg, räumte der Angeklagte am 03.09.2021 - wie vom zuständigen Richter, dem Zeugen … vor der Kammer glaubhaft bekundet - über eine von ihm als zutreffend bestätigte Erklärung seines Verteidigers, Rechtsanwalt G1., den äußeren Ablauf des Tatgeschehens ein und bestätigte, alkoholisiert gewesen zu sein und Drogen konsumiert zu haben. Er habe die Flasche geworfen, da er in der Vergangenheit selbst bereits zweimal verletzt worden sei und sich habe verteidigen wollen.
45
Gegenüber dem psychiatrischen Sachverständigen gab der Angeklagte anlässlich der Exploration - wie vom Sachverständigen … glaubhaft gegenüber der Kammer berichtet - zur Sache an, er habe in dieser Zeit fast jeden Tag nach der Arbeit Alkohol getrunken. Auch habe er schlecht schlafen können und häufig an die Situation in Afghanistan gedacht. Er sei in dieser Zeit auch schreckhaft und ängstlich gewesen. Den Taxifahrer habe er vorher nie gesehen und nicht gekannt. Auch habe er nicht gewusst, dass dieser aus dem Iran stamme. An das Geschehen selbst habe er schon noch Erinnerungen, wolle dazu derzeit aber keine genauen Angaben machen. Er könne aber sagen, dass er selbst unter Drogen- und Alkoholeinfluss gestanden habe sowie Angst gehabt habe. Jedenfalls sei der Mann aggressiv auf ihn zugegangen. Er habe befürchtet, von diesem Mann angegriffen oder geschlagen zu werden. Er habe an dem Tag des Vorfalls Jägermeister und Wodka getrunken und zusätzlich Bier. In der Gruppe seien insgesamt zwei bis drei Flaschen Jägermeister und eine Flasche Wodka konsumiert worden. Dabei habe er mehr getrunken als die anderen Anwesenden. Er sei sehr stark betrunken gewesen und habe noch eine halbe Tablette Ecstasy eingenommen. Seiner Erinnerung nach habe er noch gehen und wohl auch sprechen können, wobei er sich bezüglich letzterem nicht sicher sei.
(2)
46
Gegenüber der Kammer ließ sich der Angeklagte am ersten Hauptverhandlungstag mittels einer von ihm bestätigten Erklärung seines Verteidigers - im Wesentlichen - wie folgt zur Sache ein:
47
Es sei zutreffend, dass er sich in der Nacht vom 28. auf den 29.08.2021 gemeinsam mit den Zeugen ... und … zur ...-Tankstelle, … in N. begeben und dort im Verkaufsraum eine 0,5-Liter-Flasche „Z.“ Bier erworben habe. Er sei zu diesem Zeitpunkt stark alkoholisiert gewesen und habe zuvor Ecstasy konsumiert. Zwischen ihm und dem Geschädigten … habe sich zu diesem Zeitpunkt bereits ein kurzes von ihm, dem Angeklagten, ausgelöstes Gespräch entwickelt. Nachdem dann auch der Geschädigte den Verkaufsraum verlassen hatte, habe dieser sich schnellen Schrittes und mit erhobener Hand bzw. Faust auf ihn zu bewegt. Dabei sei es auch zu Beschimpfungen durch den Geschädigten gekommen. Er habe in dieser Situation aufgrund früherer Vorfälle Angst gehabt, erneut verletzt zu werden. Auch sei er aufgrund seiner Fluchterfahrungen und der damals aktuellen Vorkommnisse in Afghanistan traumatisiert gewesen. Bei dem Wurf der Flasche sei seine Intention gewesen, den Geschädigten weiter auf Distanz zu halten. An ein Wegdrehen bzw. Weggehen des Geschädigten, bevor es zum Wurf der Flasche kam, erinnere er sich nicht. Vielmehr habe der Geschädigte sich erst weggedreht, nachdem dieser den Flaschenwurf bemerkt habe.
48
Am letzten Hauptverhandlungstag ließ sich der Angeklagte über eine weitere von ihm als zutreffend bestätigte Verteidigererklärung dahingehend ein, dass an der Geltendmachung einer Notwehrsituation nicht weiter festgehalten und der objektive und subjektive Tatbestand: einer gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil des Zeugen … insgesamt eingeräumt werde.
b)
Geschehen vor der Tat
49
Die Feststellungen zum Verlauf der Abend- bzw. Nachtstunden vor der Tat - auch zu den Trinkmengen und zum Betäubungsmittelkonsum des Angeklagten - beruhen auf den Angaben des Angeklagten und den damit im Wesentlichen in Einklang stehenden glaubhaften Bekundungen der auch insoweit unmittelbaren Zeugen … und …. Diese legten der Kammer dar, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt erheblich alkoholisiert gewesen sei, weil er in der Nacht vom 28. auf den 29.08.2021 neben Bier auch in erheblichem Maße - deutlich mehr als die beiden Zeugen - Jägermeister und Wodka aus mehreren Flaschen getrunken habe. Hierzu passend bekundete die Zeugin …, Lebensgefährtin des Angeklagten, dass sie in der Tatnacht in der Wohnung des Angeklagten im Anwesen … zugegen war und mit dem Angeklagten und den beiden vorgenannten Zeugen gemeinsam Alkohol konsumierte. Als sie sich gegen 03:00 Uhr zu Bett begab, sei der Angeklagte bereits „ziemlich betrunken gewesen“.
50
Auch die Angaben des von der Zeugin KHK‘in …r im Ermittlungsverfahren vernommenen … standen zur Überzeugung der Kammer im Einklang mit den bereits dargelegten Bekundungen der vorgenannten Zeugen. So berichtete die Zeugin KHK’in… der Kammer, dass dieser Zeuge bei seiner Vernehmung ihr gegenüber berichtet habe, dass bis 03:00 Uhr - zu diesem Zeitpunkt habe …die Wohnung des Angeklagten verlassen - von mehreren in der Wohnung anwesenden Personen, u.a. vom Angeklagten, zwei Flaschen Wodka getrunken worden seien. Diese Angaben des …, der infolge unbekannten Aufenthaltes - wie KHK … der Kammer berichtete - von der Kammer nicht persönlich vernommen werden konnte, seien glaubhaft gewesen.
51
Hierzu passend beschrieb auch die Zeugin …, die in der Tatnacht nach eigenem Bekunden als Kassiererin in der ...-Tankstelle zugegen war und den Angeklagten in der Hauptverhandlung auf den ausgedruckten Lichtbildern der Videoaufnahme (Position „Eingang“1) wiedererkannte, eine offenkundig erhebliche Alkoholisierung des Angeklagten. Die Zeugin … erkannte beim Angeklagten zwar keine Gangunsicherheit, stellte bei diesem aber - auch anhand einer kurzen Unterhaltung anlässlich des Kassiervorgangs - ein alkoholbedingtes Herumalbern sowie ausgelassenes Verhalten fest. Hierzu passend zeigen die gesicherten Videoaufnahmen der Tankstelle aus der Tatnacht mit den Positionen
„Eingang“, „Kasse1“ und „Shopfront rechts“2, die Unterhaltung der Zeugin mit dem
1 Auf die Lichtbilder Bl. 116 d.A. wird wegen der Einzelheiten gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen.
2 Auf die zitierten Aufnahmen wird wegen der Einzelheiten gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen.
Angeklagten und ferner zur Überzeugung der Kammer auch, dass sich dieser bei vergleichsweise sicheren motorischen Fähigkeiten ausgelassen verhielt.
52
Anhand der vorgenannten Beweismittel überzeugte sich die Kammer davon, dass der Angeklagte in der Nacht vom 28. auf den 29.08.2021 Alkohol im festgestellten Umfang konsumiert hat. Hierbei übersah die Kammer nicht, dass die Zeugen  … … und … den Angeklagten nicht durchgehend beobachteten und teilweise auch nicht während der gesamten Trinkepisode zugegen waren, allerdings übereinstimmend berichteten, dass der Angeklagte neben einigen Flaschen Bier insbesondere hochprozentigen Alkohol - Jägermeister und Wodka - in ganz erheblichem, die Trinkmengen der weiteren in der Wohnung anwesenden Personen übersteigenden Umfang konsumiert habe. Dass der Angeklagte selbst hierzu angab, keine konkrete Erinnerung an diesen Zeitraum sowie seine genaue Konsummenge zu haben, passt wiederum zu der von der Kammer festgestellten ganz erheblichen Alkoholisierung des alkoholgewöhnten Angeklagten zur Tatzeit. Diese vom Angeklagten eingeräumte nur noch rudimentäre Erinnerung an die Tatnacht war zur Überzeugung der Kammer glaubhaft, deckte sich diese doch mit der ihrerseits glaubhaften Schilderung des Zeugen … wonach der Angeklagte bereits im Verlauf des 29.08.2021 nach einer Ruhephase nicht mehr genau gewusst habe, was passiert sei und sich dies von ihm - dem Zeugen - habe schildern lassen müssen.
53
Eine konkrete Bestimmung des Blutalkoholgehalts zum Zeitpunkt der Tathandlung war der Kammer und auch dem psychiatrischen Sachverständigen … - wie dieser anlässlich seiner Anhörung in der Hauptverhandlung nachvollziehbar erläuterte - nicht möglich, da beim Angeklagten tatzeitnah weder ein Atemalkohol- noch ein Blutalkoholwert bestimmt wurde und genaue Angaben zum Trinkbeginn bzw. Trinkende weder vom Angeklagten noch von den vernommenen Zeugen gemacht werden konnten. Dass der Angeklagte neben den festgestellten Alkoholmengen auch geringe Mengen an Marihuana und Ecstasy - wie von der Kammer festgestellt in den Abend- bzw. Nachtstunden vor der Tat - konsumiert hatte, ergibt sich aus seiner eigenen diesbezüglichen Einlassung und den hiermit in Einklang stehenden glaubhaften Angaben des Zeugen …, der hiervon aufgrund eigener Wahrnehmung berichten konnte.
54
Über Auseinandersetzungen des Angeklagten mit … während der Abend- bzw. Nachtstunden vor der Tat berichtete … wie von der Vernehmungsbeamtin KHK‘in …wiedergegeben, im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung. Hierbei bekundete …i auch frühere Gelegenheiten, bei denen er durch den Angeklagten unter Alkoholeinfluss körperlich attackiert worden war. Dass es zu Streitigkeiten im Verlauf der Feier zwischen dem Angeklagten und … gekommen war, gaben auch die Zeugin … und der Zeuge … vor der Kammer an.
55
Hinsichtlich des Verlassens der Wohnung, des Fußweges in die O.straße und des Einkaufs einer Flasche „Z.“ Bier durch den Angeklagten an der Tankstelle im Vorfeld des eigentlichen Tatgeschehens stützen sich die Feststellungen auf die insoweit mit der Einlassung des Angeklagten übereinstimmenden Angaben der Zeugen … und … Ferner konnte sich die Kammer ihre Überzeugung auch anhand der hierzu passenden Videoaufzeichnung der Tankstelle zur Position „Eingang“3 bilden, auf der deutlich zu erkennen ist, dass der - so auch von der Zeugin … identifizierte grau gekleidete - Angeklagte beim Verlassen des Verkaufsraumes eine Bierflasche in der linken Hand hielt.
c)
Zur Tatörtlichkeit
56
Die Kammer hat hinsichtlich des Tatortes, der Außenanlage der ...-Tankstelle in der … in N., mit der Zeugin KHK‘in … die von dieser angefertigte Tatortskizze (Bl. 4-6 des Sonderhefts Tatortskizze) und mehrere Dateien mit Lichtbildaufnahmen, die einen räumlichen Überblick über das Tankstellengelände geben, in Augenschein genommen.
57
Aufgrund der glaubhaften Bekundungen dieser Zeugin anhand der Tatortskizze, der dazu gehörenden Lichtbilder und der weiteren Lichtbilder gemäß Bl. 62ff. d.A.4 konnte sich die Kammer von den räumlichen Gegebenheiten und der Beschaffenheit des Tankstellengeländes, auch und insbesondere der Lage und Beschaffenheit des Verkaufsraumes sowie des Tatortbereichs der neben der Staubsaugeranlage gelegenen Parkplätze, der Abstell- bzw. Parksituation der beiden Fahrzeuge - des Taxis des Geschädigten und des weißen PKW der Zeugin … - sowie der Lage des Tankstellenshops im Verhältnis zum späteren Tatort überzeugen.
d)
Tatzeitpunkt
58
Ausgehend vom Eingang des Notrufes, welcher - ausweislich dessen Verschriftung und der entsprechenden Bekundungen des Zeugen KHK … - am 29.08.2021 um 04:31 Uhr von der Zeugin …abgesetzt wurde, konnte sich die Kammer von der Tatzeit kurz vor 04:30 Uhr überzeugen. Hierfür sprach zunächst die Videoaufnahme der Tankstelle aus den Positionen „Eingang“ und „Shopfront rechts“5: Diese zeigen jeweils wie die Zeugin … etwa 25 Sekunden nachdem der Geschädigte den Verkaufsraum verlassen hat, am Ausgang des Verkaufsraumes erscheint, diesen Richtung Tankstellengelände verlässt und nur wenige Augenblicke später aus dem Kassenbereich - zu sehen auf der Videoaufnahme „Kasse1“6 - ein Telefon holt. Hierzu passend gab die Zeugin … gegenüber der Kammer an, zu
3 Auf die zitierte Aufnahme wird wegen der Einzelheiten gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen.
4 Auf die zitierte Skizze sowie die Lichtbilder wird wegen der Einzelheiten gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen.
5 Auf die zitierten Aufnahmen wird wegen der Einzelheiten gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen.
6 Auf die zitierte Aufnahme wird wegen der Einzelheiten ebenfalls gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen.
diesem Zeitpunkt - und damit unmittelbar nach dem eigentlichen Tatgeschehen - den Notruf abgesetzt zu haben.
e)
Zum eigentlichen objektiven Tatgeschehen
59
Die Feststellungen zum weiteren objektiven Hergang des Geschehens stützen sich insbesondere auf die glaubhaften Angaben der Zeugen … und …. Diese sagten - wie der Zeuge KHK … als Vernehmungsbeamter der Kammer berichtete - bereits im Ermittlungsverfahren im Wesentlichen so aus, wie auch vor der Kammer. Auch die geständige, zu den Angaben der beiden genannten Zeugen nicht in Widerspruch stehende Einlassung des Angeklagten trug - soweit dieser infolge des Alkoholkonsums detailarmen Schilderung gefolgt werden konnte - zur Überzeugungsbildung der Kammer bei. Die Kammer hatte auch keinen Grund, an der Glaubwürdigkeit der beiden unmittelbaren Tatzeugen … und …oder der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben Zweifel zu hegen. Beide Zeugen sagten im Wesentlichen konstant im Ermittlungsverfahren und vor der Kammer aus, schilderten in der Hauptverhandlung ihre Wahrnehmungen detailreich, erlebnisbasiert und dennoch ruhig. Sie räumten auch vereinzelte Erinnerungsschwächen ein, indem sie freimütig zu erkennen gaben, wenn sie sich an Details nicht mehr erinnern konnten. Ungenauigkeiten in der zeitlichen Einordnung des Geschehensablaufs, wie sie der Zeuge … vereinzelt zeigte, sind zur Überzeugung der Kammer vor allem auf den Zeitablauf und nicht etwa einen Entlastungseifer zurückzuführen.
60
Der Geschädigte … vermochte - offenbar aufgrund der erlittenen Verletzungen - gegenüber der Kammer hingegen keine detaillierten Angaben mehr zum Geschehensablauf zu machen. Insbesondere wusste er nicht, wie es zu seinen Verletzungen im Kopfbereich gekommen war und wer ihm diese zugefügt hatte. So gab er in der Hauptverhandlung u.a. an, es sei eine „Gruppe von mindestens vier Personen“ gewesen, aus der heraus er mit einer „Eisenstange“ von hinten niedergeschlagen worden sei. Im Ermittlungsverfahren erinnerte sich der Nebenkläger - wie der Zeuge KHK …, nach eigenem Bekunden mit dessen kriminalpolizeilicher Zeugenvernehmung befasst, der Kammer berichtete - noch daran, dass „der mit dem grauen Jogginganzug“ eine Bierflasche in der Hand gehabt habe sowie später von hinten geschlagen und dann bewusstlos geworden zu sein. Insoweit stützen lediglich die Angaben des Nebenklägers im Ermittlungsverfahren teilweise die zur Überzeugung der Kammer getroffenen Feststellungen. Dessen Angaben zum Tathergang in der Hauptverhandlung hat die Kammer - angesichts der weiteren Beweismittel unpräzise und nicht erlebnisbasiert - nicht für die Rekonstruktion des Tatsachverhalts herangezogen.
(1)
61
Die Feststellung zu dem kurz vor der Tat erfolgten Aufeinandertreffen des Angeklagten und des Nebenklägers im Eingangsbereich des Verkaufsraumes beruht auf den übereinstimmenden Angaben des Angeklagten und der auch insoweit unmittelbaren Zeugen … und ….
62
Letztere schilderten der Kammer jeweils, dass der Angeklagte den späteren Geschädigten im Verkaufsraum der Tankstelle mit unverständlichen Worten - etwa „wa, wa, wa“ - angesprochen habe. Auch die Zeugin … konnte, wie sie der Kammer berichtete, diese Begegnung wahrnehmen, ohne dass sie die Äußerungen des Angeklagten verstanden hat. Beleg der diesbezüglichen Feststellungen der Kammer sind auch die mit den Angaben der genannten Zeugen in Einklang stehenden Videoaufnahmen „Eingang“ und „Shopfront rechts“7. Diese zeigen ebenfalls ein Zusammentreffen der Dreiergruppe mit dem späteren Geschädigten im Eingangsbereich zum Verkaufsraum der Tankstelle und den Umstand, dass sich der Angeklagte dem Nebenkläger dort kurzzeitig in den Weg stellte sowie etwas zu diesem sagte. Diese Aufzeichnungen zeigen auch, wie der Nebenkläger der sich vom Eingangsbereich des Verkaufsraumes entfernenden Gruppe um den Angeklagten anschließend für etwa 18 Sekunden nachblickt, ohne dass die Kammer - aufgrund der vom Nebenkläger zu dieser Zeit getragenen Mund-Nasen-Bedeckung - zweifelsfrei etwaige Äußerungen desselben erkennen konnte. Hiervon war die Kammer aber aufgrund der auch insoweit glaubhaften Angaben des Zeugen … überzeugt. Dieser gab an, ein beleidigendes türkisches Schimpfwort - er kenne mehrere solche von Freunden türkischer Herkunft - verstanden zu haben. Hierzu passte auch, dass die Zeugin … einen kurzen Wortwechsel zwischen einer Person aus der Dreiergruppe und dem Nebenkläger im Eingangsbereich schilderte und ferner, dass letzterer dort noch einige Zeit gestanden und etwas für sie nicht Verständliches in Richtung der sich entfernenden Gruppe um den Angeklagten gerufen habe.
63
Nach alldem war die Kammer davon überzeugt, dass der Zeuge …von der geöffneten Türe des Verkaufsraumes aus dem Angeklagten - zumindest u.a. - etwas Beleidigendes nachrief, ohne dass der genaue Wortlaut noch hätte aufgeklärt werden können. Hierzu passte auch die Schilderung des Zeugen …, der angab, im Außenbereich der Tankstelle habe man noch gewartet, weil der Angeklagte „die Sache noch habe klären wollen“. Auf entsprechenden Vorhalt in der Hauptverhandlung stellte der Zeuge … vor der Kammer seine Vermutung dar, der Angeklagte habe die zuvor durch den Nebenkläger erfolgte Beleidigung - solche sind dem Nebenkläger ausweislich seiner zahlreichen Einträge im Bundeszentralregister grundsätzlich auch nicht fremd - klären wollen. Zur Überzeugung
7 Auf die zitierten Aufnahmen wird wegen der Einzelheiten gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen.
der Kammer hätte es für den Angeklagten ohne eine solche beleidigende Äußerung zu seinem Nachteil mit dem Nebenkläger auch nichts mehr zu klären gegeben.
(2)
64
Dass der Angeklagte und seine beiden Begleiter nach dem Einkauf noch auf dem Tankstellengelände auf Höhe des weißen PKW der Zeugin … verweilten, ergibt sich aus den diesbezüglichen Schilderungen der Zeugen … und …, die im Wesentlichen übereinstimmten und lediglich in Bezug auf die genauen Standpositionen der einzelnen Personen differierten. Den Grund für das Zuwarten - die Äußerung des Angeklagten, noch etwas klären zu wollen - gab allein der Zeuge … wieder. Der Zeuge … konnte eine solche Äußerung des Angeklagten zwar nicht aus eigener Wahrnehmung bekunden, gab aber gleichzeitig an, weiter als der Zeuge … vom Angeklagten entfernt gestanden und daher einzelne Äußerungen unter Umständen nicht gehört zu haben. Gleichwohl schenkte die Kammer der Schilderung des Zeugen … auch insoweit Glauben, weil dieser - wie von KHK … bestätigt - bereits im Ermittlungsverfahren Entsprechendes ausgesagt und damit insoweit Aussagekonstanz gezeigt hat.
(3)
65
Auch die Feststellung, dass der Nebenkläger nach Verlassen des Verkaufsraumes mit bedrohlicher Geste und Beschimpfungen auf den Angeklagten zulief, stützt sich insbesondere auf die mit der Einlassung des Angeklagten korrespondierenden Angaben der beiden unmittelbaren Tatzeugen … und …. Letztere schilderten jeweils glaubhaft, der Zeuge … sei schnellen Schrittes sowie weiterhin schimpfend in Richtung des Angeklagten gelaufen und habe - kurz bevor er diesen erreicht habe - die Arme bzw. Fäuste erhoben. Hierzu passen auch die Videoaufzeichnungen der Positionen „Eingang“ und „Staubsauger“8, auf denen zu sehen ist, dass der spätere Geschädigte schnellen Schrittes den Geschäftsraum verließ und zielstrebig - hier allerdings noch mit normaler Armhaltung - am Kofferraum seines Taxis in Richtung des Angeklagten vorbeilief. Durch die genannten Videoaufzeichnungen konnte die Kammer zu ihrer vollen Überzeugung auch den zeitlichen Ablauf des Geschehens am Tatort zweifelsfrei nachvollziehen.
(4)
66
Die Feststellung, dass der Zeuge … sich schlichtend zwischen den Nebenkläger und den Angeklagten stellte, beruht auf den insoweit übereinstimmenden glaubhaften Schilderungen der Zeugen … und …. Es sei - so beide Zeugen - von beiden Kontrahenten in aufgeheizter Stimmung weiter laut geschrien worden, ohne dass es
8 Auf die zitierten Aufnahmen wird wegen der Einzelheiten wiederum gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen.
zunächst zu körperlichen Aggressionen oder sonstigen Berührungen zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger gekommen sei.
(5)
67
Die Überzeugung, dass sich der Nebenkläger unmittelbar vor der eigentlichen Verletzungshandlung von der Gruppe um den Angeklagten abwandte, um zu seinem Fahrzeug zu gehen, gewann die Kammer aufgrund der Angaben des Zeugen … zum Tathergang anlässlich dessen rechtmedizinischer Untersuchung am 03.09.2021.
68
Wie der Zeuge KHK R. der Kammer gegenüber darlegte, sei er bei dieser Untersuchung …s durch den Rechtsmediziner … zugegen gewesen. … habe dabei geschildert, dass sich der Geschädigte kurz vor dem Flaschenwurf weggedreht habe. Auf Vorhalt des mit seinen Angaben vor der Kammer korrespondierenden und bei der Akte befindlichen Vermerks des KHK R., gab der Zeuge … spontan und von sich aus - ohne entsprechende Nachfrage eines Verfahrensbeteiligten - an, dass er sich zum Zeitpunkt dieser Untersuchung nur wenige Tage nach der Tat wohl noch besser an das Geschehen erinnert habe und seine damalige Aussage daher sicher zutreffend sei. Zu dieser Aussage passte zur Überzeugung der Kammer im Übrigen auch, dass der Zeuge … mit der Flasche an der linken Schädelseite getroffen wurde und es für ihn den kürzesten Weg zur Fahrerseite seines Taxis darstellte, sich nach rechts umzudrehen und so dem Angeklagten die linke Körper- bzw. Schädelseite zuzuwenden. Dass der Zeuge … diese Wegdrehbewegung eigenem Bekunden nach hingegen nicht wahrgenommen hat, steht hierzu nicht in Widerspruch und ist dadurch zu erklären, dass er seinen Blick in diesem Moment - anders als der Zeuge … - offensichtlich nicht auf den Geschädigten, sondern auf den Angeklagten gerichtet hatte und deshalb auch berichten konnte, dass der Angeklagte kurz vor dem Flaschenwurf noch einen Schritt nach hinten gemacht habe. Diese Rückwärtsbewegung konnte wiederum der Zeuge A2. nicht schildern, da sein Hauptaugenmerk zu diesem Zeitpunkt auf den Geschädigten gerichtet war.
(6)
69
Die Feststellung, dass der Angeklagte die geschlossene Bierflasche aus einer Entfernung von etwa zwei bis drei Metern in Richtung des Geschädigten warf, beruht vor allem auf den insoweit übereinstimmenden Angaben der Zeugen … und …, die entsprechende Schätzungen hierzu bekundeten, welche mit der von der Zeugin KHK‘in … angefertigten und von dieser erläuterten Tatortskizze nebst der entsprechenden Lichtbilder gemäß Bl. 63 f. d.A. in Einklang zu bringen waren.
(7)
70
Dass der Nebenkläger vom Flaschenboden an der linken Kopfseite oberhalb des Ohres getroffen wurde, ergibt sich zur Überzeugung der Kammer insbesondere aufgrund der Ausführungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen Prof. Dr. …. Dieser erläuterte anhand der dem schriftlichen Gutachten beigefügten Lichtbildtafel - dort Abb. 2 und 39 -, dass die bogenförmige Riss-Quetsch-Wunde in Form und Ausdehnung dem Auftreffen des Flaschenbodens auf diese Stelle zweifelsfrei zuzuordnen sei. Hierzu passend schilderten auch die beiden unmittelbaren Tatzeugen … und …, dass der Geschädigte von der Flasche am Kopf getroffen wurde, wobei sie sich hinsichtlich des genauen Auftreffpunktes der Flasche unsicher waren. Dies war für die Kammer aber mit der Dynamik des Geschehensablaufes erklärbar.
71
Dass die Bierflasche dabei nicht am Kopf des Nebenklägers, sondern erst beim Herunterfallen auf den Boden zerbrochen ist, konnte die Kammer in Übereinstimmung mit und anhand der diesbezüglichen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. … unter Berücksichtigung der entsprechenden Lichtbilder gemäß Bl. 63 f. d.A.10 zu ihrer vollen Überzeugung nachvollziehen: Wäre die Flasche bereits am Kopf des Geschädigten geplatzt, wäre infolge der dadurch bedingten Verteilung der Flüssigkeit ein weiter ausgedehnter Fleck auf dem Boden neben dem abgestellten Taxi zu erwarten gewesen. Zudem, so übereinstimmend die rechtsmedizinischen Sachverständigen Prof. Dr. … und …, konnten keine Schnittverletzungen im Kopfbereich des Nebenklägers festgestellt werden. Diese wären aber bei einem Zerbrechen der Flasche beim Aufprall am Kopf des Nebenklägers zu erwarten gewesen.
(8)
72
Auch die Feststellungen zum Sturz des Zeugen … beruhen im Wesentlichen auf den Ausführungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen Prof. Dr. … in der Hauptverhandlung in Ansehung der maßgeblichen Lichtbilder:
73
Danach sei die Verteilung der Flecken auf dem Pflasterboden, veranschaulicht anhand der Lichtbilder gemäß Bl. 63f. d.A.11, nur dadurch erklärbar, dass der Nebenkläger infolge des Aufpralls der Flasche an der linken Schädelseite - bewusstseinsgetrübt und motorisch beeinträchtigt - noch einige Meter in Richtung des weißen PKW getorkelt und dort dann mit dem Gesicht voran ungebremst auf dem Boden aufgeschlagen sei. Dieser Ablauf sei auch plausibel, da es äußerst unwahrscheinlich sei, dass jemand durch den Aufprall einer Glasflasche sofort bewusstlos zu Boden gehe. Zu diesen Ausführungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen passt die Schilderung der Zeugin …, die den Geschädigten bei Verlassen des Verkaufsraumes hinter ihrem PKW in einer Art Hockstellung
9 Auf die zitierten Lichtbilder wird wegen der Einzelheiten gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen.
10 Auf die zitierten Lichtbilder wird wegen der Einzelheiten gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen.
11 Auf die zitierten Lichtbilder sowie die Tatortskizze wird wegen der Einzelheiten gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen.
verharrend auffand. Diese Beobachtung der Zeugin … ließ zur Überzeugung der Kammer ebenfalls den Schluss zu, dass der Geschädigte jedenfalls nicht längere Zeit bewusstlos gewesen sein kann. Zudem befand sich dieser bei Eintreffen der Zeugin … auch nicht mehr an der Stelle, an der die Bierflasche am Boden zerbrochen war, sondern einige Meter hiervon entfernt hinter deren weißem PKW. Dass die Zeugen … und … hiervon abweichend berichteten, der Geschädigte sei quasi sofort bewusstlos umgefallen, kann wiederum mit der Dynamik des Geschehens und der für die Zeugen in dieser Art überraschenden Entwicklung der Situation erklärt werden.
74
Die Kammer schloss sich den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. … nach kritischer Würdigung derselben an, weil zur Überzeugung der Kammer - auch unter Würdigung der von der Zeugin KHK‘in … angefertigten und in der Hauptverhandlung erläuterten Tatortskizze sowie in Ansehung der Lichtbilder gemäß Bl. 63 f. d. A.12 - kein anderer hiermit in Einklang stehender Geschehensablauf denkbar erscheint, der die Verletzungen des Zeugen … und die am Tatort aufgefundenen Spuren zu erklären vermag.
(9)
75
Die Feststellungen zum tatbedingten Verletzungsbild beim Zeugen … ergeben sich zur Überzeugung der Kammer anhand der rechtsmedizinischen Untersuchung des Zeugen …am 31.08.2021 im Klinikum N.-S., welche der rechtsmedizinische Sachverständige G2. … als Untersucher in der Hauptverhandlung nachvollziehbar erläuterte. Ergänzend hierzu legte der rechtsmedizinische Sachverständige Prof. Dr. … dar, wie es zu den einzelnen Verletzungen insbesondere im Kopfbereich des Geschädigten gekommen ist. Dabei führte er in Ansehung der durch den Sachverständigen … am 31.08.2021 angefertigten Lichtbildtafel13 aus, dass die an der linken seitlichen Schädelpartie vorhandene Kopfschwartendefektstelle als Folge stumpfer Gewalt durchaus durch die energiereiche Einwirkung einer Bierflasche aus Glas verursacht worden sein könne. Aus der Verletzungsmorphologie als solcher könne grundsätzlich nicht zwischen einem schlag- oder wurfbedingten Kontakt unterschieden werden. Die Schürfwunden über der rechten Stirn, das Monokelhämatom rechts sowie auch die im CTBefund beschriebenen Hirnblutungen und die knöchernen Verletzungen des Nasenbeins, der Stirnhöhle und der Augenhöhlenbegrenzung rechts seien sämtlich durch einen Sturz nach vorne mit energiereichem Aufschlag der rechten Stirnregion zu erklären. Korrespondierend hierzu belegen die Arztbriefe der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie des Klinikums N. vom 29.08.2021 und der Klinik für Neurochirurgie des Klinikums N. vom 12 Auf die zitierten Lichtbilder sowie die Tatortskizze wird wegen der Einzelheiten gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen.
13 Gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO wird wegen der Einzelheiten auf diese Lichtbilder verwiesen.
08.09.2021 die Verletzungen, die stationäre Behandlungsdauer, den Behandlungsverlauf und das eigenmächtige Verlassen des Krankenhauses entgegen ärztlichem Rat.
76
Die Feststellungen zu den aktuell noch vorhandenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Geschädigten beruhen auf dessen glaubhafter Schilderung hierzu und den Angaben seiner Tochter, der Zeugin J. …, sowie auf dem Arztbericht des Facharztes für Neurologie, Dr. … vom 11.01.2022.
(10)
77
Dass Tathandlungen vergleichbar der angeklagten generell dazu geeignet sein können, lebensgefährliche Verletzungen auszulösen, steht fest aufgrund der überzeugenden, von der Kammer kritisch gewürdigten Ausführungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen Prof. Dr. …. Dieser Sachverständige verfügt als Facharzt für Rechtsmedizin und als langjähriger Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität E.-N. über eine ausgewiesene klinische Expertise und jahrelange forensische Erfahrung und traf seine Ausführungen gestützt auf die Aktenlage sowie die von ihm anhand der Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnisse nachvollziehbar und plausibel, ohne dass die Kammer zu Zweifeln hieran Anlass hatte:
78
So können durch wuchtige Schläge auf den Schädel mit einem Gegenstand zwar Impressionsfrakturen des Schädeldaches eintreten, in deren Folge es zu Hirnblutungen oder Hirngewebsverletzungen kommen könne. Der Sachverständige gab allerdings zu bedenken, dass der Wurf einer vollen Bierflasche gegen den Kopf insofern als weniger gefährlich im Vergleich zur direkten schlagbedingten Einwirkung einzuschätzen sei. Denn beim Schlag mit einer Flasche gebe es keinen „Abfederungseffekt“ wie dieser durch den Abprall einer geworfenen Flasche am Schädel mit einer dadurch bedingten Reduktion der auf den Schädel einwirkenden Energie zu erwarten sei. Er könne trotz seiner etwa 30-jährigen klinischen und forensischen Erfahrung von keinem Fall berichten, in dem unmittelbar und primär durch den Wurf einer Bierflasche tödliche Verletzungen eingetreten seien. Es könne allerdings infolge primärer stumpfer Gewalteinwirkung - wie vorliegend - zu sekundären Verletzungen z.B. infolge eines Sturzes des Geschädigten und dem damit verbunden Schädelaufschlag auf dem Boden kommen; hierdurch könne ein schweres Schädel-HirnTrauma mit Hirnblutungen oder direkten Hirngewebsschädigungen eintreten. Weitere denkbare Verläufe - so Prof. Dr. … - seien die infolge Bewusstlosigkeit mögliche Aspiration von Erbrochenem oder Blut, was zu einem unmittelbaren Ersticken oder entzündlichen Veränderungen in der Lunge im Sinne einer - unter Umständen auch letal verlaufenden - Aspirationspneumonie führen könne. Zudem seien im Falle umfangreicher Kopfschwartendurchtrennungen starke Blutverluste mit der Folge eines möglichen Blutvolumenmangelschocks und daraus resultierendem Multiorganversagen oder Verbluten denkbar. Ferner könne auch das Eindringen von Bakterien in das Schädelinnere mit der potentiellen Folge einer Hirnhautentzündung aus rechtsmedizinischer Sicht nicht ausgeschlossen werden.
(11)
79
Die Feststellungen zum Verhalten des Angeklagten und seiner Begleiter unmittelbar nach dem Flaschenwurf sowie zu dem Umstand, dass sich zum Tatzeitpunkt keine weiteren Personen im Außenbereich der Tankstelle aufhielten, beruhen auf den glaubhaften und übereinstimmenden Angaben der beiden unmittelbaren Tatzeugen … und …. Auch die Zeugin … bekundete in Übereinstimmung hiermit, das Weglaufen der drei Personen wahrgenommen zu haben.
80
Dass sich im Moment des Weglaufens des Angeklagten und seiner beiden Begleiter die Zeugin … vom Verkaufsraum aus bereits in Richtung des Außenbereichs der Tankstelle in Bewegung setzte, berichtete glaubhaft der Zeuge …. Bei der Würdigung dessen Aussage hat die Kammer insofern, aber auch insgesamt in den Blick genommen, dass dieser Zeuge im Ermittlungsverfahren zunächst den Status eines Beschuldigten innehatte und - nachdem die Ermittlungen gegen ihn mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vom 08.11.2021 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurden - er auch weiterhin ein Motiv für eine auch ihn insoweit entlastende Aussage hatte. Allerdings ergab sich aus den Lichtbildaufnahmen der Tankstelle, welche die Zeugin KHK‘in … gefertigt hatte, sowie deren Angaben vor der Kammer, dass der Verkaufsraum durchgängig mit Fenstern in Richtung der Zapfsäulen ausgestattet ist und vom Kassenbereich aus auch das Areal um die Staubsaugeranlage - somit der Tatortbereich - einsehbar ist. Auch ergab sich aus den Videoaufzeichnungen „Kasse1“14, dass die Zeugin … sich tatsächlich nur etwa 25 Sekunden, nachdem der Geschädigte den Bereich der Kamera „Kasse1“ verlassen hatte, vom Kassenbereich aus in Richtung zur Eingangstüre in Bewegung setzte, was der Zeuge … aufgrund der festgestellten baulichen und örtlichen Gegebenheiten von außen ohne Weiteres wahrgenommen haben konnte.
(12)
81
Dass zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten ein Vergleich des festgestellten Inhalts zustande gekommen und hierauf ein Bargeldbetrag von 700,00 EUR bezahlt worden ist, steht fest aufgrund des am 07.02.2022 zu Protokoll geschlossenen Vergleichs und der ebenfalls protokollierten Bargeldübergabe an die Nebenklägervertreterin. Zu Protokoll wurde seitens der Nebenklägervertreterin ferner erklärt, dass der Geschädigte den Vergleichsabschluss nicht als Täter-Opfer-Ausgleich verstanden wissen möchte.
14 Gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO wird wegen der Einzelheiten auf diese Lichtbilder verwiesen.
f)
Subjektive Tatseite
82
Hinsichtlich der subjektiven Tatseite ist die Kammer aufgrund einer Einzel- und Gesamtbetrachtung der Tatumstände davon überzeugt, dass der Angeklagte - entsprechend seiner Einlassung - den Zeugen … verletzen wollte und hierbei auch den Eintritt schwerwiegender Verletzungen im Kopfbereich billigend in Kauf nahm. Keine hinreichende Überzeugung vermochte sich die Kammer hingegen davon zu bilden, dass der Angeklagte auch mit bedingtem Tötungsvorsatz handelte, weil es zur Überzeugung der Kammer im Zeitpunkt des Flaschenwurfs bereits am kognitiven Element des bedingten Vorsatzes fehlte. Der Angeklagte erkannte zu diesem Zeitpunkt nicht, dass der Nebenkläger an den Folgen des Flaschenwurfes versterben könnte. Im Zeitpunkt des Verlassens des Tankstellengeländes war dem Angeklagten dies in Ansehung der Verletzungsfolgen dann zwar bewusst, er handelte insoweit aber nicht gleichgültig, weil er auf eine zeitnahe Erfolgsabwendung durch Dritte, insbesondere die im Tankstellengebäude anwesende Zeugin …, vertraute.
(1)
83
Die Kammer nahm bei der von ihr insoweit vorgenommenen kritischen Würdigung insbesondere folgende rechtlichen Gesichtspunkte in den Blick:
84
Bedingter Tötungsvorsatz liegt grundsätzlich dann vor, wenn der Täter den Erfolgseintritt als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, gleichwohl sein gefährliches Handeln fortsetzt und einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt (BGH, Urteil vom 07.09.2015 - 2 StR 194/15) und dies bereits dann der Fall ist, wenn dem Täter die Folgen seiner Tat zumindest gleichgültig sind (BGH, Urteil vom 15.07.2020 - 6 StR 43/20). Bewusste Fahrlässigkeit liegt hingegen dann vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft - nicht nur vage - darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten. Es sind hierbei sämtliche objektiven und subjektiven, für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände des Einzelfalls in eine individuelle Gesamtschau einzubeziehen und zu bewerten (BGH, Beschluss vom 09.10.2013 - 4 StR 364/13; Urteil vom 22.03.2012 - 4 StR 558/11). Vor allem die objektive Gefährlichkeit der Gewaltanwendung, die konkrete Angriffsweise des Täters, aber auch dessen psychische Verfassung bei der Tatbegehung sowie seine Motivationslage sind in diese Abwägung einzubeziehen (BGH, Urteile vom 08.12.2016 - 1 StR 351/16, und vom 16.05.2013 - 3 StR 45/13). Bei äußerst gefährlichen Handlungen - vorbehaltlich in die Gesamtbetrachtung einzustellender gegenläufiger Umstände im Einzelfall - liegt es dabei nahe, dass der Täter die Möglichkeit, das Opfer könne durch seine Handlungen zu Tode kommen, erkennt und, weil er gleichwohl sein gefährliches Handeln beginnt oder fortsetzt, auch einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt (BGH, Beschluss vom 09.10.2013 - 4 StR 364/13; Urteil vom 16.10.2013 - 3 StR 45/13). In solchen Fällen ist ein Vertrauen des Täters auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolges zu verneinen, wenn der von ihm vorgestellte Ablauf des Geschehens einem tödlichen Ausgang so nahekommt, dass nur noch ein glücklicher Zufall diesen verhindern kann (BGH, Urteil vom 01.12.2011 - 5 StR 360/11). Ferner sah die Kammer, dass auch eine möglicherweise affektive Erregung des Täters nicht per se gegen einen Tötungsvorsatz spricht, weil eine gewisse affektive Erregung bei einem tödlichen Angriff als üblich anzusehen ist (BGH, Urteil vom 20.09.2011 - 1 StR 120/11). Angesichts der Hemmschwelle gegenüber einer Tötung ist dabei auch in Betracht zu ziehen, dass der Täter die Gefahr der Tötung nicht erkannt oder jedenfalls darauf vertraut haben könnte, ein solcher Erfolg werde nicht eintreten. Insbesondere bei spontanen, unüberlegten, in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus dem Wissen um den möglichen Erfolgseintritt nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass auch das - selbstständig neben dem Wissenselement stehende - voluntative Vorsatzelement gegeben ist (BGH, Urteil vom 28.01.2010 - 3 StR 533/09; Beschluss vom 08.05.2008 - 3 StR 142/08; Urteil vom 23.01.2020 - 3 StR 385/19). Bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements ist es regelmäßig erforderlich, dass sich das Tatgericht auch mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung sowie seine Motivation in Betracht zieht (BGH, Beschluss vom 15.12.2020 - 2 StR 140/20; Urteil vom 19.01.2022 - 2 StR 323/21).
(2)
85
Gemessen hieran konnte sich die Kammer - bezogen auf den Zeitpunkt des Flaschenwurfs - nicht vom Vorliegen des erforderlichen Wissenselementes, aber auch des Willenselementes beim Angeklagten überzeugen. So sprachen insbesondere das festgestellte Tatbild und die Ausführungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen Prof. Dr. … zum Zustandekommen des Verletzungsbildes beim Geschädigten nicht dafür, dass der Angeklagte im Hinblick auf den Wurf der gefüllten Bierflasche in Richtung des Nebenklägers und dem daraus resultierenden Kopftreffer die potentielle Lebensgefährlichkeit seiner Handlung erkannte, diese billigend in Kauf nahm und deshalb mit bedingtem Vorsatz bezogen auf die mögliche Tötung des … handelte:
86
Ausgehend von den Darlegungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen Prof. Dr. … nahm die Kammer im Rahmen einer umfassenden Würdigung aller Tatumstände vor dem Hintergrund der glaubhaften Angaben der Tatzeugen … und … insbesondere in den Blick, dass die massiveren und potentiell lebensgefährlichen Verletzungen des Zeugen … erst durch dessen ungebremsten Sturz auf sein Gesicht als sekundäre Folgen der Tathandlung des Angeklagten verursacht wurden. Der Sachverständige Prof. Dr. … legte in diesem Zusammenhang überzeugend dar, dass diese Zweiaktigkeit des Geschehens auch der typische Geschehensablauf bei Körperverletzungshandlungen wie derjenigen des Angeklagten ist. Anders als etwa bei einem Fußtritt gegen den Kopf resultiert die potentielle Lebensgefährlichkeit des Wurfes einer Glasflasche gegen den Kopf dabei in erster Linie nicht aus der primären stumpfen Gewalteinwirkung auf den Schädel, sondern aus sekundären Verletzungen wie z.B. im Falle eines Sturzes infolge kurzzeitiger Bewusstseinstrübung bzw. Bewusstlosigkeit. Zum Nachweis des kognitiven Vorsatzelementes zum Tatzeitpunkt ist bei solchen zweiaktigen Geschehensabläufen zunächst erforderlich, dass der Angreifer erkennt, dass ein Schlag mit einer Flasche auf den Kopf oder der noch schwieriger zu koordinierende und im Regelfall - entsprechend den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. … weniger gefährliche - Wurf einer Flasche mit einem daraus resultierenden Kopftreffer erhebliche Primärverletzungen hervorrufen kann. Darüber hinaus ist zum Nachweis des kognitiven Vorsatzelementes dann noch erforderlich, dass der Angreifer sich auch der Möglichkeit einer lebensgefährlichen Sekundärverletzung - etwa infolge eines Sturzes und dadurch bedingter Schädel- oder Gehirnverletzungen - bewusst ist.
87
Die Kammer vermochte indes nicht festzustellen, dass der erheblich alkoholisierte, unter dem zusätzlichen Einfluss von Betäubungsmitteln stehende und in einer sich rasch entwickelnden affektiven Erregungssituation von weniger als 30 Sekunden handelnde Angeklagte zu dieser vorausschauenden Erkenntnis in der Lage gewesen ist. Bei ihrer diesbezüglichen Würdigung der Gesamtumstände hat die Kammer auch in den Blick genommen, dass sich die Alkoholisierung des Angeklagten nicht auf seine Einsichts-, sondern nach den in Übereinstimmung mit den diesbezüglichen Feststellungen der Kammer stehenden gutachterlichen Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen … lediglich auf dessen Steuerungsfähigkeit in rechtserheblicher Weise auswirkte. Allerdings sah die Kammer hierbei auch, dass sich der Angeklagte kurz vor der eigentlichen Tathandlung nach den getroffenen Feststellungen in einer alkohol- bzw. rauschmittelbedingt ausgelassenen, von Herumalbern geprägten Stimmung befand.
88
Mit solch einer alkoholbedingten Stimmungslage - zumal in Anbetracht des noch vergleichsweise jungen Alters des Angeklagten - geht häufig, was auch der psychiatrische Sachverständige der Kammer so darlegte, einher, dass Gefahren verkannt oder in ihrer Tragweite unterschätzt werden. Hierbei hat die Kammer nicht aus dem Blick verloren, dass der Angeklagte in den Stunden vor der Tat mehrfach mit seinem Freund … … gestritten und insoweit auch aggressive Verhaltensweisen gezeigt hatte, wobei diese Situationen - … hatte nach den Angaben der Zeugin KHK‘in … die Wohnung des Angeklagten bereits um 03:00 Uhr verlassen - bereits eineinhalb Stunden zurücklagen und ausweislich der festgestellten ausgelassenen Stimmung des Angeklagten kurz vor der Tatausführung für die hier abgeurteilte Tat nicht mehr bestimmend waren.
89
Auch hat die Kammer gesehen, dass sich der Angeklagte zur Tatzeit im zweiten Ausbildungsjahr zum Gesundheits- und Krankenpfleger befand und somit zumindest anatomische und medizinische Grundkenntnisse hatte, allerdings ohne über eine abgeschlossene pflegerische oder gar medizinische Berufsausbildung und somit vertiefte medizinische Kenntnisse oder weitreichende praktische Erfahrungen im Hinblick auf Unfall- bzw. Gewaltverletzungen zu verfügen.
90
Insbesondere aufgrund der Komplexität des zweiaktigen Verletzungsgeschehens einerseits und der lediglich Sekunden andauernden Auseinandersetzung mit dem Nebenkläger auf dem Tankstellengelände andererseits - zwischen dem Verlassen des Verkaufsraumes durch den Zeugen … und dem Zuhilfekommen der Zeugin … lagen nur etwa 25 Sekunden - konnte sich die Kammer nicht davon überzeugen, dass dem Angeklagten die potentielle Lebensgefährlichkeit seines Handelns bewusst war. Für ein entsprechendes Bewusstsein spricht zur Überzeugung der Kammer auch nicht, dass der Angeklagte - was die Kammer dabei gleichwohl nicht aus dem Blick verloren hat - zum Zeugen … sagte, „die Sache noch klären zu wollen“. Denn in diesem Zeitpunkt antizipierte der Angeklagte lediglich eine weitere verbale Auseinandersetzung mit dem seinerseits erkennbar erregten Geschädigten; nicht aber, dass er in dessen Richtung die gefüllte Bierflasche werfen würde. Die hier festgestellte Tathandlung war nicht von langer oder auch nur kurzer Hand geplant, sondern - so auch die glaubhafte Schilderung der unmittelbaren Tatzeugen … und … - zur vollen Überzeugung der Kammer Ausdruck einer kurzfristigen, „aus dem Nichts heraus“ - so der Zeuge … - gefassten Entscheidung des Angeklagten in einer affektiv aufgeladenen Situation auf dem Boden einer, wie auch der psychiatrische Sachverständige erläuterte, alkoholbedingten Enthemmung. Hierzu passte auch, dass der Zeuge … den Wurf der Flasche als „reflexartig“ beschrieb und auch beide Tatzeugen übereinstimmend angaben, vom plötzlichen Wurf der Flasche und dessen Folgen überrascht gewesen zu sein. Beide Zeugen beschrieben auch, dass der Angeklagte, mit dem sie direkt nach der Tat noch hierüber gesprochen hätten, über sein Verhalten und die Folgen schockiert gewesen sei. Der Zeuge … tat hierzu passend kund, er habe nicht den Eindruck gehabt, dass der Angeklagte an einer derartigen Eskalation oder einer körperlichen Auseinandersetzung mit dem Nebenkläger interessiert gewesen sei oder es hierauf angelegt habe.
91
Zudem hat die Kammer gewürdigt, dass der Angeklagte im Jahr 2016 selbst Opfer eines Angriffs mit einer - damals allerdings abgebrochenen - Bierflasche wurde. Hierdurch waren beim Angeklagten damals zwar ganz erhebliche, mehrere Operationen und Krankenhausaufenthalte nach sich ziehende Verletzungen und eine bleibende Einschränkung der Sehleistung des rechten Auges, aber gerade keine lebensgefährdende Verletzung hervorgerufen worden. Dies ergab sich zur Überzeugung der Kammer in Ansehung eines Lichtbildes der Verletzungen gemäß Bl. 22 der entsprechenden Verfahrensakte15, dem entsprechenden Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität E. vom 15.02.2016, den Arztberichten des Klinikums N. - Klinik für Augenheilkunde vom 08.02.2016 und 23.05.2016 sowie aus dem diesbezüglichen polizeilichen Schlussvermerk vom 21.02.201716. Damit konnte der Angeklagte auch nicht aufgrund seiner eigenen Vorerfahrung auf eine potentielle Lebensgefährlichkeit seines Tuns schließen, zumal er den Geschädigten nicht mit einer abgebrochenen Flasche attackierte, welche gefährliche Schnittverletzungen - im seinerzeitigen rechtsmedizinischen Gutachten wird über „typische Glasscherbenverletzungen“ berichtet - hervorrufen kann, sondern mit einer geschlossenen intakten Flasche.
92
Gegen einen bedingten Tötungsvorsatz zum Zeitpunkt des Flaschenwurfes sprach neben dem fehlenden Tötungsmotiv der Umstand, dass die Tat vor Zeugen begangen wurde.
93
Weiter war der Angeklagte - wie die Zeuginnen … und M., beide Tankstellenmitarbeiterinnen, bekundeten - als regelmäßiger Kunde tatortkundig, weshalb ihm die Überwachung des Tankstellengeländes mittels mehrerer Kameras bewusst war. Dieser Umstand war auch dem erstmalig auf dem Tankstellengelände anwesenden Zeugen …, wie dieser gegenüber der Kammer angab, aufgefallen.
(2)
94
Hinsichtlich des zweiten, für ein versuchtes Tötungsdelikt - allerdings in Form des Unterlassens - ebenfalls als Anknüpfungspunkt in Betracht kommenden Zeitpunkt des Verlassens des Tankstellengeländes, war die Kammer zwar davon überzeugt, dass der Angeklagte aufgrund des Zusammenbruchs des blutenden Geschädigten ein potentiell lebensgefährliches Verletzungsbild erkannte und damit rechnen konnten, dass der Geschädigte - sollte ihm keine Hilfe zu Teil werden - versterben könnte. Nach einer Gesamtwürdigung aller in Betracht zu ziehender Umstände fehlte es dem Angeklagten zu diesem Zeitpunkt aber am voluntativen Element des bedingten Vorsatzes. Denn - durch objektive Tatsachen gestützt - vertraute er wie seine beiden Begleiter darauf, die Zeugin … und durch ihre Vermittlung dritte Personen würden dem Verletzten zeitnah zu Hilfe kommen und so eine mögliche Lebensgefahr abwenden.
95
Denn sowohl nach der Schilderung der Zeugen … und … als auch nach den Angaben des Nebenklägers und der Zeugin …, die in der Tatnacht eigenem Bekunden nach als Kassiererin in der Tankstelle war, fand die verbale Auseinandersetzung im Eingangsbereich des Verkaufsraumes der Tankstelle im Beisein sowie in Wahrnehmung
15 Gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO wird wegen der Einzelheiten auf dieses Lichtbild gemäß Bl. 22 der Beiakte 114 UJs 185055/17, Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth, verwiesen.
16 Zitierte Urkunden sämtlich aus der Beiakte 114 UJs 185055/17, Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth, dort Bl. 68ff, 48ff und 112ff.
durch der Zeugin … statt. Diese Zeugin wusste also um die angespannte Situation zwischen dem Angeklagten und dem Zeugen …. Im Moment des Flaschenwurfes befand sich die Zeugin …, wie ebenfalls die Videoaufzeichnungen der Tankstelle belegen, zwar im Inneren des Verkaufsraumes. Auf den Videoaufzeichnungen insbesondere aus der Position „Shopfront rechts“17 ist aber zu sehen - dies bestätigte auch die Zeugin KHK‘in … -, dass der Verkaufsraum zum Tankstellengelände hin verglast und vom Bereich der Kasse aus das Tankstellengelände einsehbar ist. Der Zeuge … schilderte weiterhin glaubhaft und hierzu passend, dass er beim Verlassen des Tankstellengeländes daran gedacht habe, der Geschädigte könne „schon tot“ sein, etwa zehn Minuten später sei aber bereits ein Rettungswagen zur Tankstelle gekommen, was er und seine beiden Begleiter von der Wohnung des Angeklagten im Anwesen …straße 26 aus wahrgenommen haben. Der Zeuge … gab insoweit ebenfalls glaubhaft an, er sei zunächst - von der Tathandlung überrascht und von den sichtbaren Folgen schockiert - am Tatort verharrt, habe dann aber, so der Zeuge … weiter, gesehen, wie sich die Zeugin … im Verkaufsraum bewegt habe, so dass er davon ausgegangen sei, diese sei auf dem Weg zu ihnen und zum Geschädigten. Unmittelbar nach dieser Wahrnehmung seien er, der Zeuge … und der Angeklagte, der diese Bewegungen der Zeugin … auch wahrgenommen haben müsste, vom Tankstellengelände weggelaufen. Mit dieser Schilderung des Zeugen … stand in Einklang die Videoaufzeichnung aus der Position „Eingang“18: Hierauf ist zu sehen, dass die Zeugin … etwa 25 Sekunden nachdem der Geschädigte den Verkaufsraum verlassen hatte - und damit unmittelbar nach dem Sturz des Zeugen … - sich selbst ins Freie begab, um sich über den Fortgang des Geschehens zu vergewissern. Aus den örtlichen Gegebenheiten der Tankstelle und den Angaben der Zeugen schloss die Kammer zu ihrer vollen Überzeugung, dass sich der Angeklagte und seine beiden Begleiter zwar der grundsätzlichen Hilfsbedürftigkeit des Zeugen …bewusst waren, sie aber als „Stammgäste“ der Tankstelle - so die bereits zuvor zitierten Bekundungen der Zeuginnen … und … - auch wahrnahmen, dass die Zeugin … offenbar auf das Geschehen im Außenbereich der Tankstelle aufmerksam geworden war und sie davon ausgingen, dass diese sich um den Verletzten - wie tatsächlich geschehen - kümmern werde. Damit vertraute der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt tatsachengestützt auf einen infolge der Hilfe Dritter nicht letalen Ausgang des Geschehens betreffend den Geschädigten. Dabei handelt es sich angesichts des Verhaltens der Zeugin … auch nicht um eine lediglich vage Hoffnung. Hierzu passt auch, dass der Angeklagte sowie die Zeugen … und … - wie von beiden Zeugen übereinstimmend berichtet - unmittelbar nach der Tat von der Wohnung des Angeklagten im
17 Gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO wird wegen der Einzelheiten auf diese Aufnahmen verwiesen.
18 Auf die entsprechende Aufnahme wird gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO wegen der Einzelheiten verwiesen.
Anwesen …straße 26 aus zum Tankstellengelände blickten und sich vergewisserten, dass dort bereits ein Krankenwagen angekommen war.
g)
Gesamtwürdigung
96
Hinsichtlich der Feststellungen zum objektiven und subjektiven Tatgeschehen konnte sich die Kammer ihre volle Überzeugung aufgrund der bereits dargestellten Einzelbetrachtung und Würdigung der Indizien sowie aufgrund einer sich daran anschließenden kritischen Gesamtwürdigung sämtlicher Beweismittel und der sich daraus ergebenden Tatumstände sowie anhand der - auch an den Fortgang der Hauptverhandlung zumindest angelehnten - Einlassung des Angeklagten bilden.
2.
Zur Schuldfähigkeit
97
Die Feststellungen zu den medizinischen Voraussetzungen der Schuldfähigkeit und einer ggfs. erforderlichen Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt beruhen auf den in Übereinstimmung mit den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen … hierzu gewonnenen Erkenntnissen der Kammer in der Hauptverhandlung.
98
T. …, der als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie forensische Psychiatrie über eine fundierte praktische Expertise und auch über eine umfangreiche forensische Erfahrung verfügt, ist der Kammer bereits geraume Zeit als kompetent bekannt. Dieser Sachverständige traf im Rahmen seiner Anhörung vor der Kammer - nach Teilnahme an der Beweisaufnahme und ausgehend von zutreffenden Anknüpfungstatsachen - seine Ausführungen detailreich, gleichwohl nachvollziehbar und widerspruchsfrei. Er legte dar, dass der Angeklagte zur Tatzeit unter einer akuten Intoxikation mit Alkohol litt. Ein genauer Blutalkoholgehalt ließ sich zum einen mangels Blutentnahme infolge Festnahme des Angeklagten erst Tage nach der Tat und - so der Sachverständige - mangels konkret bestimmbarer Zeitpunkte für Trinkbeginn und Trinkende nicht berechnen. Gleichwohl sei aufgrund der im Rahmen der Beweisaufnahme durch die Angaben verschiedener Zeugen bekundeten - von der Kammer festgestellten - Trinkmengen nicht auszuschließen, dass beim Angeklagten im Tatzeitpunkt bereits eine gravierende Einschränkung des Hemmvermögens gegeben war mit der Folge, dass zum Tatzeitpunkt die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aus medizinischer Sicht gemäß § 21 StGB nicht ausschließbar erheblich vermindert, nicht jedoch aufgehoben war.
99
Dem schloss sich die Kammer nach kritischer Würdigung an. Denn Anknüpfungstatsachen für eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung im Sinne des § 21 StGB lagen auch zur Überzeugung der Kammer in Übereinstimmung mit den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen vor: Diese Anknüpfungstatsachen ergaben sich insbesondere aus den Angaben der Zeugen zu den an diesem Abend konsumierten erheblichen Trinkmengen unter Berücksichtigung des vom Sachverständigen … als anamnestische Angabe des Angeklagten berichteten vergleichsweise geringen Körpergewichts von 62 kg, die auch durch den persönlich Eindruck, den die Kammer während der Hauptverhandlung vom Angeklagten gewonnen hat, in Einklang steht. Weiterhin standen als Anknüpfungstatsachen Videoaufnahmen der Tankstelle (insbesondere aus der Position „Shopfront rechts“19) zur Verfügung, auf denen der Angeklagte einen erheblich alkoholisierten, ausgelassenen und phasenweise albernen Eindruck machte, aber noch über relativ gute motorische Fähigkeiten verfügte. Weder torkelte noch schwankte er, musste sich auch nicht aufstützen und konnte mit seinen Begleitern sowie der Zeugin … - dies ist zu sehen auf der Videoaufnahme „Kasse1“20 - kommunizieren. Passend hierzu berichteten auch die Zeugen …, … und … übereinstimmend und ohne erkennbaren Entlastungseifer jeweils von einem deutlich betrunkenen, aber nicht volltrunkenen Zustand des Angeklagten unmittelbar vor der Tatausführung. Die Zeugen … und … bekundeten auch erhebliche Erinnerungsschwächen des Angeklagten in Bezug auf das Tatgeschehen am 29.08.2021 mehrere Stunden nach der Tat im Anschluss an eine nicht nur unerheblich lange Ruhephase.
100
Dagegen lagen zur Überzeugung der Kammer keine Anhaltspunkte für eine Aufhebung oder Verminderung der Einsichtsfähigkeit sowie für eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit vor; dies auch mit Blick auf die in den letzten Monaten vor der Tat erworbene Alkoholgewöhnung des Angeklagten.
C)
Rechtliche Würdigung
101
Der Angeklagte hat sich durch die Tat einer gefährlichen Körperverletzung mittels eines anderen gefährlichen Werkzeugs und einer das Leben gefährdenden Behandlung gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 und Nr. 5 StGB schuldig gemacht.
102
Mit dem Wurf der gefüllten, gläsernen 0,5 Liter Bierflasche gegen den Kopf des Geschädigten lag nicht nur eine das Leben gefährdende Behandlung vor, sondern auch eine Körperverletzung mittels eines anderen gefährlichen Werkzeugs vor.
103
Die Tat des Angeklagten war auch rechtswidrig.
104
Von Seiten des Zeugen …gingen im Außenbereich der Tankstelle unmittelbar vor der Tat verbale Aggressionen mit beleidigendem Inhalt gegenüber dem Angeklagten aus. Die
19 Auf die Abbildungen, welche auf der näher bezeichneten Videoaufnahme zu sehen sind, wird wegen der Einzelheiten gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen.
20 Auf die Abbildungen, welche auf der näher bezeichneten Videoaufnahme zu sehen sind, wird wegen der Einzelheiten gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen.
Kammer nahm hierbei in den Blick, dass auch die Ehre ein grundsätzlich notwehrfähiges Rechtsgut darstellt. Der verbal-aggressive Angriff des Geschädigten war jedoch zum Zeitpunkt des Flaschenwurfes bereits beendet und somit nicht mehr gegenwärtig. Denn der Zeuge …hatte sich bereits nach rechts gedreht und von der Gruppe abgewandt, um zu seinem Taxi zu gehen. Überdies wäre der Einsatz eines potentiell lebensgefährlichen Tatmittels zur Abwehr eines Angriffs auf die Ehre nicht das erforderliche, weil relativ mildeste Mittel, um einen solchen Angriff zu beenden, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt eine Rechtfertigung nicht in Betracht kam.
105
Ebenso war ein Schuldausschließungsgrund nach § 33 StGB nicht gegeben. Denn § 33 StGB betrifft lediglich den auf asthenischen Affekten beruhenden intensiven Notwehrexzess, nicht auch den extensiven Notwehrexzess, bei dem - gegebenenfalls irrtumsbedingt - die zeitlichen Grenzen des Notwehrrechts überschritten werden. Da hier - wie festgestellt - zum Zeitpunkt des Flaschenwurfes keine objektive Notwehrlage bestand, kommt es nicht mehr darauf an, ob der Angeklagte - wie von ihm geschildert - gerade aus Angst vor neuerlicher Verletzung zu einem nicht erforderlichen Notwehrmittel griff.
D)
Strafzumessung
I.
Strafrahmen
106
Die Kammer ging im Rahmen der Strafzumessung zunächst vom Regelstrafrahmen der gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 StGB aus.
1.
107
Kein minderschwerer Fall i.S.d. § 224 Abs. 1 StGB Die Kammer konnte die Voraussetzungen für die Annahme eines minderschweren Falles gemäß § 224 Abs. 1 StGB nicht erkennen:
a)
108
Zwar hat die Kammer festgestellt, dass dem Flaschenwurf durch den Angeklagten zumindest verbale Aggressionen des Geschädigten mit erhobenen Armen vorausgegangen waren. Von einer eigentlichen Provokationslage im Sinne von § 213 Alt .1 StGB - eine solche wäre auch im Rahmen von § 224 Abs. 1 StGB zur Begründung eines minder schweren Falles geeignet - konnte sich die Kammer indes aufgrund des vorangegangenen Verhaltens des Angeklagten im Eingangsbereich des Verkaufsraums der Tankstelle nicht überzeugen. Denn insoweit erfolgte die Provokation seitens des Zeugen … jedenfalls nicht „ohne Schuld“ des Angeklagten. Denn eine Schuld im strafrechtlichen Sinne wird diesbezüglich nicht vorausgesetzt und ein auch zeitlich zurückliegender Beitrag zur Verschärfung der Situation - wie vorliegend von der Kammer auf Seiten des Angeklagten festgestellt - kann hierbei genügen (Fischer, Strafgesetzbuch 69. Auflage 2022, § 213 Rn. 8 mwN). Dass der Nebenkläger seinerseits massiv ehrverletzende, den Rahmen der Angemessenheit überschreitende Beleidigungen gegenüber dem Angeklagten ausgestoßen hat, konnte die Kammer indes nicht feststellen.
b)
109
Auch ein sonstiger minderschwerer Fall war nicht gegeben. Ein solcher liegt in der Regel nur dann vor, wenn die schuldmindernden Umstände in ihrem Gewicht insgesamt der Affekt- bzw. Provokationslage gleichkommen. Ausreichend ist hierbei ein Zusammentreffen mehrerer gewöhnlicher Milderungsgründe, wobei eine Gesamtbewertung aller maßgeblichen zugunsten und zulasten des Angeklagten sprechenden Umstände entscheidend ist. Die Kammer hat für diese Beurteilung aufgrund der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung alle Umstände einbezogen und gewürdigt, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen, insbesondere das Tatbild, die Persönlichkeit des Angeklagten, dessen Gesamtverhalten sowie Motive, die Tat selbst und die Tat begleitenden Umstände. Danach wich die Tat zur vollen Überzeugung der Kammer nicht derart vom Durchschnitt gewöhnlich vorkommender Fälle der gefährlichen Körperverletzung nach unten ab, dass der gesetzliche Regelstrafrahmen unangemessen erschien.
(1)
110
Zugunsten des noch vergleichsweise jungen und durch die Erlebnisse in seiner Heimat Afghanistan sowie auf der Flucht traumatisierten Angeklagten sprach, dass dieser ein vollumfängliches, von Schuldeinsicht und Reue getragenes Geständnis ablegte. Hierbei verkannte die Kammer nicht, dass er dieses bei bestehenden Erinnerungsschwächen erst am letzten Tag der Hauptverhandlung auch in subjektiver Hinsicht ablegte. Die Kammer sah aber auch, dass er seine Täterschaft in objektiver Hinsicht - wie der Zeuge N. bekundet hat - bereits anlässlich der Eröffnung des Untersuchungshaftbefehls am 03.09.2021 zu einem frühen Zeitpunkt im Rahmen des Ermittlungsverfahrens einräumte, als die Zeugen … und … - wie der Zeuge KHK … der Kammer darlegte - noch nicht kriminalpolizeilich vernommen waren. Er reduzierte so den Kreis der theoretisch möglichen Täter - eine Videoaufzeichnung des unmittelbaren Tatgeschehens, aus welcher sich die Person des Flaschenwerfers ergeben hätte, existiert nicht - von drei Personen auf sich und sorgte auf diese Weise, wie ebenfalls der Zeuge … vor der Kammer bestätigte, frühzeitig für eine Fokussierung der Ermittlungen auf seine Person. Als Ausdruck seiner Schuldeinsicht und Reue wertete die Kammer auch die vom Angeklagten gegenüber der Kammer bekundete Einsicht in die Behandlungsbedürftigkeit seines Alkohol- und Betäubungsmittelkonsums sowie des damit verbundenen Aggressionspotentials.
111
Weiterhin wertete die Kammer zugunsten des Angeklagten dessen ernsthaften Versuch, den immateriellen Schaden des Nebenklägers wieder gut zu machen, indem er mit diesem einen abschließenden zivilrechtlichen Vergleich schloss und eine nicht nur völlig unerhebliche Anzahlung von 700,00 EUR in Anrechnung auf das vereinbarte Schmerzensgeld über 10.000,00 EUR noch in laufender Hauptverhandlung zahlte. Hierbei verlor die Kammer nicht aus dem Blick, dass der Nebenkläger diese zivilrechtliche Vereinbarung nicht als TäterOpfer-Ausgleich verstanden wissen wollte.
112
Auch die Folgen der Strafhaft für den Angeklagten, insbesondere bezogen auf das aufgelöste Ausbildungsverhältnis, berücksichtigte die Kammer zu dessen Gunsten.
113
Schließlich sah die Kammer - ohne dabei dessen Eintrag im Bundeszentralregister wegen des nach § 45 Abs. 2 JGG eingestellten Ermittlungsverfahrens aus dem Blick zu verlieren - zugunsten des Angeklagten, dass dieser bislang nicht vorbestraft ist.
(2)
114
Zulasten des Angeklagten wertete die Kammer, die festgestellten erheblichen Verletzungen, welche der Nebenkläger infolge des Flaschenwurfes erlitt und die dadurch erforderliche mehrtägige stationäre Behandlung im Krankenhaus. Der Nebenkläger hat aus dem Geschehen - zumindest vorläufig - bleibende körperliche sowie psychische Folgen erlitten, welche die Kammer - auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum typischerweise mit der Begehung eines Delikts verbundenen Tatunrecht (BGH, Beschluss vom 15.09.2015 - 2 StR 21/15) - als beachtlich angesehen hat.
115
Zum Nachteil des Angeklagten sah die Kammer auch, dass dieser mit der hier abgeurteilten Straftat tateinheitlich zwei Tatbestandsalternativen des § 224 StGB verwirklichte.
116
Schließlich sah die Kammer auch das Nachtatverhalten des Angeklagten zu dessen Nachteil: Der Angeklagte hielt sich - zu diesem Zeitpunkt von seiner Tathandlung offenbar noch nicht sonderlich beeindruckt - bereits am 03.09.2021, wie der Zeuge PHM H. der Kammer bekundete, nur wenige Tage nach der Tat erneut an der ...-Tankstelle in alkoholisiertem Zustand auf und trug so allerdings - unbewusst - auch zu seiner vorläufigen Festnahme bei.
(3)
117
Die Kammer sah nach der erforderlichen Gesamtbewertung der maßgeblichen Umstände auch davon ab, nach § 50 StGB zusätzlich das Vorliegen des vertypten Milderungsgrundes der erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit i.S.d. § 21 StGB zur Begründung eines minder schweren Falles heranzuziehen. Gegen die Annahme eines minder schweren Falles sprach auch insoweit die Schwere der tatbedingten Verletzungen des Nebenklägers.
2.
Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB
118
Aufgrund der im Zeitpunkt der Tathandlung nicht ausschließbar erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nahm die Kammer unter Berücksichtigung aller Umstände des vorliegenden Falles eine Verschiebung des Regelstrafrahmens des § 224 Abs. 1 StGB gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB vor.
119
Die fakultative Strafrahmenmilderung war vorliegend auch nicht wegen eines „Vorverschuldens“ des Angeklagten im Hinblick auf den Konsum von Alkohol und die ihm bereits aus der Vergangenheit bekannte aggressionssteigernde Wirkung dieses Rauschmittels zu versagen. Dies wäre grundsätzlich nur möglich, wenn die selbst zu verantwortende Trunkenheit dem Täter uneingeschränkt vorwerfbar ist (BGH, Beschluss vom 29.09.2009 - 3 StR 301/09), er insbesondere weder alkoholkrank ist noch Alkohol aufgrund eines unwiderstehlichen Hanges trinkt. Beim Angeklagten sind zur Überzeugung der Kammer anhand der auch insofern nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen … zwar die Kriterien einer Abhängigkeitserkrankung im Hinblick auf Alkohol als noch nicht erfüllt anzusehen. Allerdings diagnostizierte der Sachverständige einen kritischen Alkoholkonsum im Sinne eines schädlichen Gebrauchs und zusätzlich eine beim Angeklagten aufgrund seiner Fluchterfahrungen bestehende posttraumatische Belastungsstörung. Wie der Angeklagte glaubhaft - und vom psychiatrischen Sachverständigen als ohne Weiteres nachvollziehbar bezeichnet - gegenüber der Kammer angab, benutzte er Alkohol dazu, über bestimmte Dinge nicht mehr so genau nachdenken zu müssen. Auf dem Boden dieser Diagnosen und der hier von der Kammer ebenfalls gewürdigten glaubhaften Angabe des Angeklagten, er habe zur Tatzeit auch unter der sich krisenhaft zuspitzenden politischen Situation mit der Machtübernahme durch die Taliban in seiner Heimat Afghanistan und der Tatsache gelitten, Bekannten und Freunden dort nicht helfen zu können, konnte die Kammer eine uneingeschränkte Vorwerfbarkeit des Alkoholkonsums beim Angeklagten nicht feststellen.
120
Dies auch vor dem Hintergrund, dass sich der Angeklagte zwar gegenüber seinem Freund … unter Alkoholeinfluss bereits aggressiv zeigte, aber wegen Aggressionsdelikten unter Alkoholeinfluss bislang nicht vorbestraft ist (BGH, Beschluss vom 20.04.2005 - 5 StR 147/05).
3.
Keine weitere Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 46a, 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB
121
Die Voraussetzungen für eine weitere Strafrahmenverschiebung nach § 46a StGB waren hingegen nicht erfüllt.
122
Sind wie vorliegend durch eine Straftat beim Geschädigten insbesondere immaterielle Schäden hervorgerufen worden, bestimmt sich der für eine Strafrahmenmilderung erforderliche Ausgleich - jedenfalls vorrangig - nach § 46a Nr. 1 StGB (BGH, Urteil vom 12.01.2012 - 4 StR 290/22). Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 46a StGB verlangen von einem Täter zwar kein bestimmtes Prozessverhalten, die Anforderungen an das Einlassungsverhalten werden vielmehr durch die Erfordernisse des kommunikativen Prozesses beeinflusst (M1. Kommentar zum StGB [MüKoStGB], 3. Auflage 2016, § 46a Rz. 31). Dieser kommunikative Prozess ist u. a. bei gravierenden Gewaltdelikten zwar nicht grundsätzlich (BGH, Beschluss vom 25.06.2008 - 2 StR 217/08), aber doch regelmäßig ohne ein umfassendes Geständnis kaum denkbar (BGH, Beschluss vom 04.08.2009 - 1 StR 297/09; Urteil vom 19.02.2002 - 1 StR 405/02). Es kommt grundsätzlich entscheidend darauf an, ob ein Täter den Geschädigten als Opfer der Tat respektiert und erkennen lässt, dass er für seine Tat die Verantwortung übernimmt (BGH, Beschluss vom 04.08.2009 - 1 StR 297/09; Urteil vom 09.10.2019 - 2 StR 468/19 und 22.05.2019 - 2 StR 203/18) und sich letztlich dadurch eine „friedensstiftende Wirkung“ entfaltet oder angebahnt wird, ohne dass eine Versöhnung im engeren Sinn erforderlich ist (BGH, Urteil vom 12.01.2012 - 4 StR 290/11; Fischer, Strafgesetzbuch, 69. Auflage 2022, § 46a Rz. 11 mwN). Gemessen hieran waren die Voraussetzungen des Täter-Opfer-Ausgleichs i.S.d. § 46a Nr. 1 StGB vorliegend nicht erfüllt:
123
Der Angeklagte hat zwar authentisch zum Ausdruck gebracht, dass er Verantwortung für die begangene Tat übernimmt und hat dem Geschädigten zum Ausgleich der bei der Tat erlittenen immateriellen Beeinträchtigung noch in laufender Hauptverhandlung einen Betrag von 700,00 EUR angezahlt und zur Regulierung der weiteren materiellen und immateriellen Schäden einen abschließenden Vergleich mit diesem getroffen. Der Nebenkläger wollte aber - trotz Annahme des Vergleichs und der Anzahlung - diese vertragliche Vereinbarung und deren bereits teilweise erfolgte Erfüllung ausweislich der für ihn von seiner anwaltlichen Vertreterin abgegebenen Erklärung nicht als Täter-Opfer-Ausgleich verstanden wissen. Dies verstand die Kammer so, dass der Nebenkläger dem Vergleich und damit den Bemühungen des Angeklagten um einen Ausgleich mit ihm keine friedensstiftende Wirkung beimisst. Dies aber wäre grundsätzlich für die Annahme eines Täter-Opfer-Ausgleichs im Sinne der genannten Vorschrift erforderlich gewesen.
124
Die Kammer verlor hierbei nicht aus dem Blick, dass in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen ist, wie wahrscheinlich die Erfüllung der Schmerzensgeldzahlungsverpflichtung ist und welche Folgen diese Verpflichtung für den Täter haben wird (BGH, Urteil vom 12.01.2012 - 4 StR 290/11) und lediglich dann, wenn die Weigerung des Tatopfers sich als rechtlich nicht mehr schützenswert darstellt, auf die Voraussetzung der Akzeptanz einer Einigung als friedensstiftenden Ausgleich verzichtet werden kann (F., aaO Rz. 18). Letzteres war zur Überzeugung der Kammer vorliegend nicht anzunehmen. Denn die tatsächliche Erfüllung des vereinbarten Schmerzensgeldbetrages erscheint vor dem Hintergrund der limitierten wirtschaftlichen Verhältnisse derzeit ungewiss, so dass die Haltung des Nebenklägers zur etwaigen friedensstiftenden Wirkung des zivilrechtlichen Vergleichs der Kammer rechtlich schützenswert erschien.
II.
Strafzumessung im engeren Sinne
125
Bei der konkreten Strafzumessung nahm die Kammer die zuvor unter D.I.1 aufgeführten, für und gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte in den Blick. Hierbei würdigte die Kammer einerseits insbesondere dessen durch eine Alkoholintoxikation und vorangegangenen Betäubungsmittelkonsum geprägte Tatzeitverfassung und die für diesen aus der Tat unmittelbar resultierenden Folgen, hier v.a. die Auflösung seines Ausbildungsverhältnisses.
126
Mit minderem Gewicht berücksichtigte die Kammer auch etwaige negative Konsequenzen der strafrechtlichen Ahndung durch die Kammer in ausländer- bzw. aufenthaltsrechtlicher Hinsicht. Diese wiegen angesichts der fortbestehenden Beziehung des Angeklagten zur Zeugin … und der bis zur Tat gezeigten Integration des Angeklagten in die deutsche Gesellschaft und Arbeitswelt mit Blick auf eine Aufhebung oder nicht zu erteilende Verlängerung der befristet bis zum 30.09.2022 nach § 25a Abs. 1 AufenthG gültigen Aufenthaltserlaubnis auch besonders. Andererseits sah die Kammer aber auch die Folgen der Tat für den Geschädigten sowie generalpräventive Aspekte zur Vermeidung ähnlicher Taten in der Zukunft. Danach erachtete die Kammer eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren 10 Monaten als tat- und schuldangemessen.
E)
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
127
Gemäß § 64 StGB war die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt anzuordnen. Der Angeklagte hat den Hang, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, musste vorliegend wegen einer rechtswidrigen Tat, die auf diesen Hang zurückgeht, verurteilt werden und es besteht die Gefahr, dass er infolge seines Hanges auch zukünftig erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Diese Feststellungen traf die Kammer in Übereinstimmung mit den nachvollziehbaren, überzeugenden und widerspruchsfreien, von der Kammer gewürdigten mündlichen Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen T. …. Dessen Ausführungen, welche die Kammer kritisch gewürdigt hat, stehen in Einklang mit den Feststellungen der Kammer.
I.
Hang
128
Für einen Hang gemäß § 64 StGB - dieser muss sicher feststehen, ohne dass für den Zweifelssatz Raum wäre (BGH, Beschluss vom 19.02.2020 - 3 StR 415/19) - ausreichend ist eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen oder psychischen Abhängigkeit erreicht haben muss (BGH, Beschlüsse vom 24.02.2021 - 6 StR 18/21; 09.02.2021 - 6 StR 17/21; 05.05.2020 - 6 StR 78/20; 07.04.2020 - 6 StR 28/20; 24.03.2020 - 6 StR 44/20), zwingend ausgeprägte Entzugssymptome (BGH, Beschluss vom 05.06.2018 - 2 StR 200/18) oder gar eine Aufhebung oder Einschränkung der Schuldfähigkeit bei Tatbegehung vorliegen müssten (BGH, Urteil vom 25.11.2020 - 5 StR 493/19). Ein solcher Hang muss sowohl während der Anlasstat („die auf seinen Hang zurückgeht“) als auch im Zeitpunkt der letzten tatrichterlichen Hauptverhandlung vorliegen (BGH, Beschlüsse vom 08.06.2010 - 3 StR 162/10, und vom 01.03.2001 - 4 StR 36/01). Gemessen hieran lag bei dem Angeklagten ein solcher Hang vor:
129
Der Sachverständige … legte dar, dass bei dem Angeklagten - in Übereinstimmung mit dem Ergebnis der chemisch-toxikologischen Analyse der beim Angeklagten entnommenen Haarprobe - die psychiatrische Diagnose eines schädlichen Gebrauchs von Alkohol und Cannabis zu stellen sei. Insbesondere der fortdauernde und in der letzten Zeit vor der Tat massiv angestiegene Alkoholkonsum hat beim Angeklagten zu erheblichen Auswirkungen in der beruflichen Entwicklung geführt. So wurde sein Ausbildungsverhältnis letztlich aufgrund der alkoholbedingt begangenen Tat beendet. Die Kammer ist davon überzeugt, dass die alkoholbedingte Enthemmung und Aggression des Angeklagten Auslöser der hier in Rede stehenden Tat war. Daher erscheint der Angeklagte als sozial gefährlich. Dem Angeklagten gelang es nicht, auf den regelmäßigen Konsum von Alkohol und Betäubungsmitteln dauerhaft zu verzichten. Deshalb war die Kammer tatzeitbezogen und aktuell vom Vorliegen eines Hanges i. S. d. § 64 StGB überzeugt.
II.
Anlasstat / Symptomatischer Zusammenhang
130
Ein symptomatischer Zusammenhang liegt vor, wenn der Hang allein oder zusammen mit anderen Umständen (BGH, Beschlüsse vom 09.02.2021 - 6 StR 17/21 und 08.10.2020 - 6 StR 270/20) zur Begehung einer erheblichen rechtswidrigen Tat beigetragen hat und dies bei unverändertem Verhalten auch für die Zukunft zu erwarten ist, die konkrete Tat in dem Hang also ihre Wurzel hat (BGH, Beschlüsse vom 21.03.2019 - 3 StR 81/19; 13.06.2018 - 1 StR 132/18). Eine Mitursächlichkeit des Hanges ist demnach ausreichend; § 64 StGB setzt nicht voraus, dass der Suchtmittelgebrauch „handlungsleitend“ ist (BGH, Beschluss vom 19.11.2020 - 2 StR 318/20). Gemessen hieran war die Kammer davon überzeugt, dass zwischen dem Hang des Angeklagten und der abgeurteilten Straftat ein solcher Zusammenhang besteht:
131
Der Angeklagte neigt dazu - wie auch die in der Vergangenheit jeweils unter Alkoholeinfluss erfolgten Verwicklungen des Angeklagten in körperliche Auseinandersetzungen und die hierbei erlittenen Verletzungen zeigen - insbesondere unter der Wirkung von Alkohol enthemmt und aggressiv zu reagieren. Dies bestätigte glaubhaft auch die Zeugin KHKin …, die nach eigenem Bekunden den für die Kammer unerreichbaren Zeugen … … - einen Freund des Angeklagten - im Ermittlungsverfahren vernommen hatte. Dieser habe ihr berichtet, dass der Angeklagte auch ihm gegenüber unter Alkoholeinfluss schon aggressiv geworden sei und ihn körperlich angegangen habe. Auch die gegenständliche Tat war - hiervon ist die Kammer überzeugt - durch den übermäßigen Konsum von Alkohol und zusätzlichen Rauschmitteln zumindest mitverursacht worden.
132
Hierdurch war der Angeklagte nämlich - so auch der psychiatrische Sachverständige - enthemmt.
III.
Gefahrprognose
133
Bei dem Angeklagten bestand im Zeitpunkt der Hauptverhandlung die Gefahr, dass er infolge seines Hanges auch zukünftig erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.
134
Erforderlich für diese Prognose ist die begründete Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer erheblicher Straftaten, wobei mit einer Wiederholung zu rechnen, dies also konkret zu besorgen und nicht nur mit geringer Wahrscheinlichkeit denkbar sein muss (BGH, Beschluss 22.11.2018 - 4 StR 356/18). Diese hangbedingte Gefahr zukünftiger erheblicher rechtswidriger Taten besteht, wenn die Suchtproblematik des Angeklagten unbehandelt bleibt. Dieser Annahme stand nicht entgegen, dass der Angeklagte die Behandlungsbedürftigkeit seiner Sucht selbst erkannt und sich in der Hauptverhandlung glaubhaft therapiewillig gezeigt hat. Denn diese Bereitschaft sowie Möglichkeiten, Chancen und Maßnahmen einer therapeutischen Behandlung haben bei der anzustellenden Gefährlichkeitsprognose bezogen auf den Zeitpunkt der Hauptverhandlung außer Betracht zu bleiben:
135
Die Kammer war aufgrund einer Gesamtwürdigung des Angeklagten und seiner Tat in Übereinstimmung mit den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen davon überzeugt, dass angesichts des nicht unerheblichen Alkoholkonsums und des wiederholt unter Alkoholeinfluss gezeigten aggressiven Verhaltens ohne therapeutische Einwirkung mit der Begehung weiterer Aggressionsdelikte zu rechnen ist. Denn auch die bisherigen negativen gesundheitlichen Folgen, die der Angeklagte aufgrund von Auseinandersetzungen unter Alkoholeinfluss erlitten hat - insbesondere in Form einer dauerhaften Beeinträchtigung der Sehleistung des rechten Auges - haben ihn nicht nachhaltig von weiterem übermäßigen Konsum abzuhalten vermocht.
IV.
Erfolgsaussichten
136
Die Beurteilung der konkreten Erfolgsaussichten bedarf einer Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen maßgeblichen Umstände (BGH, Beschluss vom 12.05.2021 - 5 StR 73/21), wonach - im maßgeblichen Zeitpunkt der Hauptverhandlung (BGH, Urteil vom 28.05.2018 - 1 StR 320/17) - eine hinreichend konkrete Aussicht bestehen muss, den Angeklagten von seiner Sucht zu heilen oder diesen über eine erhebliche Zeitspanne vor einem Rückfall in den suchtbedingten Rauschmittelkonsum zu bewahren (BGH Beschluss vom 23.11.2021 - 4 StR 289/21). Sofern sich dies nicht von selbst versteht, ist es dazu erforderlich, unter Berücksichtigung der Art und des Stadiums der Sucht sowie bereits eingetretener physischer und psychischer Veränderungen und Schädigungen in der Persönlichkeit und den Lebensumständen des Angeklagten konkrete Anhaltspunkte zu benennen, die dafür sprechen, dass es innerhalb eines zumindest „erheblichen“ Zeitraums nicht (mehr) zu einem Rückfall kommen wird; die bloße Möglichkeit einer therapeutischen Veränderung vermag die Prognose eines hinreichend konkreten Therapieerfolgs nicht zu stützen (BGH, Beschluss vom 23.11.2021 - 4 StR 289/21). Notwendig, aber auch ausreichend ist eine durch Tatsachen begründete Wahrscheinlichkeit des Behandlungserfolgs; einer sicheren oder unbedingten Gewähr bedarf es nicht (BGH, Beschluss vom 23.11.2021 - 4 StR 289/21; vgl. auch BT-Drucks. 16/1110, 13). Hierzu genügen bereits solche Kenntnisse der deutschen Sprache, die eine Verständigung im Alltag ermöglichen, für eine erfolgreiche Therapie (BGH, Beschluss vom 21.03.2019 - 3 StR 81/19). Gemessen hieran konnte sich die Kammer nach einer Gesamtwürdigung der gutachterlichen Ausführungen und der Angaben des Angeklagten davon überzeugen, dass eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, den Angeklagten von seiner Neigung, Alkohol und Betäubungsmittel im Übermaß zu konsumieren, zu heilen oder diesen zumindest über eine erhebliche Zeitspanne vor einem Rückfall in den Rauschmittelkonsum zu bewahren:
137
Für eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht sprach, dass der Angeklagte selbst für sich eine Behandlungsbedürftigkeit sieht und einen Schlussstrich unter seinen übermäßigen Alkohol- und Betäubungsmittelkonsum ziehen möchte. Beleg dieser von dem Angeklagten bekundeten Therapiebereitschaft war seine in der Hauptverhandlung glaubhaft zum Ausdruck gebrachte Hoffnung, eine Therapie machen zu können, um abstinent leben, sich eine neue berufliche Perspektive aufbauen und gegebenenfalls eine Familie gründen zu können. Die Kammer gewann vor diesem Hintergrund die Überzeugung, dass bei dem Angeklagten eine ausreichende Behandlungsmotivation besteht. Die Kammer hat bei dieser Gesamtwürdigung auch die Art und das Stadium der Abhängigkeitserkrankung bzw. des schädlichen Gebrauchs berauschender Substanzen sowie etwa bereits eingetretene physische und psychische Veränderungen und Schädigungen in der Persönlichkeit und den Lebensumständen des Angeklagten berücksichtigt und danach konkrete Anhaltspunkte erkannt, die eine Wahrscheinlichkeit eines entsprechenden Behandlungserfolges für den Angeklagten begründen (BGH, Beschluss vom 14.08.2019 - 4 StR 147/19). Insbesondere verfügt der Angeklagte, der eigenen Angaben zufolge sowie nach Angaben der Zeugin … nach wie vor eine Beziehung zu dieser unterhält und in gutem Kontakt zu der Zeugin … steht, über einen gesicherten sozialen Empfangsraum. Auch spricht der Angeklagte - wovon sich die Kammer im Rahmen der Hauptverhandlung überzeugen konnte - sehr gut Deutsch. Er kann die Entzugsbehandlung in deutscher Sprache absolvieren, so dass in sprachlicher Hinsicht keine Therapiebarrieren bestehen. Wie der psychiatrische Sachverständige darlegte, liegen auch keine Begleiterkrankungen vor, die den Erfolg einer Therapie in Frage stellen könnten.
138
Der Angeklagte verfügt zudem aktuell über eine Aufenthaltserlaubnis, so dass er nicht vollziehbar ausreisepflichtig ist und auch nicht mit seiner alsbaldigen Ausweisung zu rechnen ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt war daher nicht - ausnahmsweise - von der Anordnung der Unterbringung nach § 64 StGB abzusehen (BGH, Beschluss vom 13.06.2018 - 1 StR 132/18).
V.
Verhältnismäßigkeit
139
Die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt war auch hinsichtlich der Anlasstat und der anzustellenden Kriminalprognose verhältnismäßig, § 62 StGB. Ohne eine erfolgreiche Unterbringung ist mit weiteren erheblichen Straftaten des Angeklagten mit entsprechenden Gefahren für die Allgemeinheit zu rechnen.
VI.
Vorwegvollzug
140
Ein Vorwegvollzug gemäß § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB war in Anbetracht der Dauer der verhängten Freiheitsstrafe und der vom Sachverständigen mit Blick auf die beim Angeklagten bestehende posttraumatische Belastungssymptomatik prognostizierte und auch von der Kammer so zugrunde gelegten Behandlungsdauer von 24 Monaten vorliegend nicht anzuordnen.
F)
Kosten
141
Der Angeklagte hat als Verurteilter die Kosten des Verfahrens sowie seine notwendigen Auslagen und die notwendigen Auslagen des Nebenklägers zu tragen (§§ 464, 465, 472 Abs. 1 Satz 1 StPO).