Titel:
Objektiv willkürlicher Verweisungsbeschluss
Normenketten:
GG Art. 103 Abs. 1
ZPO § 29, § 32b Abs. 1 Nr. 2, § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2, § 281 Abs. 4
EGZPO § 9
Leitsätze:
1. Einem Verweisungsbeschluss kommt die in § 281 Abs. 2 S. 4 ZPO vorgesehene Bindungswirkung dann nicht zu, wenn er schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder weil er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Objektiv willkürlich ist ein Verweisungsbeschluss, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar und offensichtlich unhaltbar ist. Dabei genügt es für die Bewertung als willkürlich nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist; es bedarf vielmehr zusätzlicher Umstände, die die getroffene Entscheidung als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar erscheinen lassen. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zuständigkeitsbestimmung, örtliche Zuständigkeit, rechtliches Gehör, Willkür
Fundstelle:
BeckRS 2022, 37603
Tenor
Örtlich zuständig ist das Landgericht München II.
Gründe
1
Der im Bezirk des Landgerichts München II wohnhafte Kläger macht mit seiner zu diesem Gericht erhobenen Klage gegen die im Bezirk des Landgerichts Landshut ansässige Beklagte, ein „Geldanlagehaus“ in der Rechtsform einer Kommanditgesellschaft, einen Schadensersatzanspruch aus „Beraterhaftung und weiter Prospekthaftung“ im Zusammenhang mit dem Erwerb einer mittelbaren Beteiligung an einer Fondsgesellschaft geltend.
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In der Klageschrift bringt er vor, er habe im Jahr 2012 eine (mittelbare) Beteiligung an der A. GmbH & Co. KG gezeichnet. Der Zeichnung sei eine Beratung durch die Beklagte vorausgegangen. Ein Mitarbeiter der Beklagten habe ihn anlässlich eines Termins, der beim Kläger zuhause stattgefunden habe und zu dem es nach telefonischer Vereinbarung und Kontaktaufnahme durch den Berater gekommen sei, im Zusammenhang mit der Beteiligung nicht anleger- und anlagegerecht beraten. Die Vorstellung der Beteiligung sei auf der Grundlage, jedoch nicht anhand des Emissionsprospekts erfolgt, der an mehreren Stellen fehlerhaft sei. Eine Übergabe des Prospekts sei nicht erfolgt. Mit dem Klageantrag Ziffer I verlangt der Kläger die Rückzahlung der geleisteten Einlage in Höhe von 35.000,00 € zzgl. 2,5% Agio abzüglich erhaltener Ausschüttungen in Höhe von 766,00 € nebst Zinsen. Der Klageantrag Ziffer II ist auf die Bezahlung entgangenen Gewinns in Höhe von 15.248,07 € nebst Zinsen gerichtet. Die Verurteilung aus den Klageanträgen Ziffern I und II habe Zug um Zug gegen Abtretung der treuhänderisch gehaltenen Beteiligung an der Fondsgesellschaft in Höhe von 35.000,00 € zu erfolgen; mit dem Klageantrag Ziffer IV begehrt der Kläger die Feststellung, dass sich die Beklagte mit der Annahme der Abtretung in Annahmeverzug befinde. Da die Beratung bei dem Kläger zuhause stattgefunden habe, sei das Landgericht München II zuständig.
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Am 24. Juni 2022 hat das Landgericht München II das schriftliche Vorverfahren angeordnet und verfügt, dass die Anordnung mit einer am Vortag erlassenen, ausschließlich an den Kläger gerichteten Verfügung vom 23. Juni 2022 herauszugeben sei. In dieser ist der Kläger auf Zweifel an der örtlichen Zuständigkeit hingewiesen worden. Zur Begründung wird ausgeführt, es dürfte die ausschließliche örtliche Zuständigkeit nach § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO einschlägig sein. Die Vorschrift umfasse Schadensersatzansprüche aus Prospekthaftung im weiteren Sinne, mithin wegen „Verwendung eines fehlerhaften Prospekts“. Als Beklagte kämen neben dem Emittenten auch die Anbieter solcher Vermögensanlagen in Betracht. Sinn und Zweck des § 32b ZPO sei es, die in solchen Verfahren typischerweise notwendigen Beweiserhebungen zu erleichtern und an einem Gerichtsort zu konzentrieren. Bei Schadensersatzklagen wegen Verwendung von falschen öffentlichen Kapitalmarktinformationen sei es ausreichend, dass die Vermittlung oder Beratung auf der Grundlage einer falschen oder irreführenden öffentlichen Kapitalmarktinformation erfolgt sei, ausreichend sei auch die Weitergabe von Prospektinhalten, egal in welcher Form (BGH NJW 2016, 1178). Als Anspruchsgrundlage für die fehlerhafte Anlageberatung komme auch § 280 BGB i. V. m. § 241 Abs. 1, § 311 Abs. 2, 3 BGB in Betracht (sogenannte Prospekthaftung im weiteren Sinne).
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Der Beklagten ist am 29. Juni 2022 die „Vfg. v. 24.06.2022 u. Anl.“ zugestellt worden.
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Mit Schriftsatz vom 9. August 2022 hat die Beklagte die örtliche Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts gerügt. Grundsätzlich werde der allgemeine Gerichtsstand juristischer Personen durch deren Sitz bestimmt; danach seien Klagen gegen die Beklagte vor dem dafür örtlich zuständigen Landgericht Landshut einzubringen. Mit dem Verweis auf ein Beratungsgespräch beziehe sich der Kläger vermutlich auf § 30 ZPO. Die Tatbestandsalternativen des § 30 ZPO lägen nicht vor, so dass die Klage vor einem örtlich unzuständigen Gericht erhoben worden sei.
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Mit an beide Parteien gerichteter Verfügung vom 11. August 2022 hat das Landgericht München II den Kläger nochmals auf die „möglicherweise fehlende örtliche Zuständigkeit“ hingewiesen, die die Beklagte gerügt habe, auch wenn § 30 ZPO nicht die richtige Vorschrift sein könne. Es werde um Stellungnahme bis 24. August 2022 gebeten, ob die Verweisung des Rechtsstreits beantragt werde.
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Mit Schriftsatz vom 15. August 2022, der der Beklagten am Freitag, den 19. August 2022 übermittelt worden ist, hat der Kläger entgegnet, er sei nach wie vor der Ansicht, dass das Landgericht München II zuständig sei; die örtliche Zuständigkeit ergebe sich aus § 29 ZPO. Es sei weder eine Zuständigkeit gemäß § 30 ZPO noch eine ausschließliche Zuständigkeit nach § 32b ZPO gegeben. Nach § 32b ZPO seien Anlageberater und Anlagevermittler insoweit nicht in den Anwendungsbereich der Norm einbezogen, als sich die Klage nicht zumindest „auch“ (Anmerkung des Senats: Im Original in Fettdruck hervorgehoben) gegen den Emittenten, den Anbieter oder die Zielgesellschaft richte; zum Beleg bezieht sich der Kläger auf „Musielak-ZPO, 10. Auflage 2013, § 32b Rz. 5; BT-Drucks. 17/8799, S. 27; BR-Drucks. 2/05, S. 12“. Die hiesige Klage sei aber ausschließlich gegen die Beklagte erhoben worden, nicht hingegen auch gegen den Emittenten, die Anbieterin oder die Zielgesellschaft. Damit sei
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§ 32b ZPO schon nach seinem Wortlaut nicht einschlägig. Dass im Rahmen der Klage auch Prospektfehler geltend gemacht würden, führe zu keinem anderen Ergebnis, was auch für die vom Landgericht angeführte Entscheidung des Bundesgerichtshofs, Az. X ARZ 573/15, gelte. Der dortige Sachverhalt sei mit dem hiesigen nicht vergleichbar. Schließlich habe es im Gegensatz zur hiesigen Klage mehrere Beklagte gegeben. Hilfsweise werde beantragt, den Rechtsstreit an das nach § 32b ZPO zuständige Landgericht Hamburg zu verweisen. Fondsgesellschaft und Emittentin hätten dort ihren Sitz. Höchsthilfsweise werde beantragt, den Rechtsstreit an das gemäß § 17 ZPO zuständige Landgericht Landshut zu verweisen.
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Am Montag, den 22. August 2022 ist der Rechtsstreit gemäß § 348a Abs. 1 ZPO auf die Einzelrichterin übertragen worden. Mit Beschluss vom selben Tag, der den Parteien formlos übermittelt worden ist, hat sich diese für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht Hamburg verwiesen. Zur Begründung hat das Landgericht auf die Verfügung vom 23. Juni 2022 Bezug genommen. Eine Zuständigkeit nach § 32b ZPO sei gegeben, da die Vorstellung der streitgegenständlichen Geldanlage nach dem eigenen Vortrag des Klägers auf der Grundlage des Emissionsprospekts erfolgt sei, welcher auch die alleinige Arbeitsgrundlage des Beraters gewesen sei. Es sei irrelevant, ob der Berater ausdrücklich oder konkludent auf den Prospekt Bezug genommen habe, daher sei auch der Zeitpunkt der Übergabe des Prospekts nicht relevant. Wie der Bundesgerichtshof bereits mit Urteil vom 8. Dezember 2015 (X ARZ 573/15) entschieden habe, reiche es für die ausschließliche Zuständigkeit nach § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO aus, wenn nach dem Klägervortrag eine öffentliche Kapitalmarktinformation verwendet worden sei. Es genüge, dass der Berater oder Vermittler eine im Prospekt enthaltene Information an den Interessenten weitergegeben habe. Entgegen der klägerischen Auffassung sei es nicht relevant, dass lediglich die Beklagte als Beraterin in Anspruch genommen werde und nicht gleichzeitig die Emittentin; insoweit ergebe sich aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 8. Dezember 2015 nichts für die im Schriftsatz vom 15. August 2022 vertretene Auffassung der Klagepartei. Regelungszweck des § 32b ZPO sei es, eine typischerweise notwendige Beweiserhebung zu erleichtern, eine einheitliche Beurteilung von öffentlichen Kapitalmarktinformationen zu sichern und dadurch die Konzentration der Verfahren bei einem Ausgangsgericht zu bündeln. Da der Kläger hilfsweise die Verweisung an das zuständige Landgericht Hamburg beantragt habe, habe sich das Landgericht München II für unzuständig zu erklären und den Rechtsstreit an das Landgericht Hamburg zu verweisen.
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Mit Beschluss vom 16. September 2022, der beiden Parteien formlos bekanntgegeben worden ist, hat sich das Landgericht Hamburg für örtlich unzuständig erklärt. Die Verweisung sei objektiv willkürlich. Das Landgericht München II habe den Anwendungsbereich des § 32b ZPO vollends verkannt. Der Kläger habe bereits in seinem Schriftsatz vom 15. August 2022 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass - neben der Geltendmachung von bestimmten Schadensersatzansprüchen - die zweite Voraussetzung des § 32b ZPO sei, dass sich die Klage zumindest auch gegen den Emittenten, den Anbieter oder die Zielgesellschaft richte. Diesen Hinweis habe das Landgericht nicht zum Anlass genommen, sich mit den Voraussetzungen des § 32b ZPO im Einzelnen auseinanderzusetzen. Das Landgericht München II habe - trotz ausdrücklichen Hinweises der Klagepartei - auch verkannt, dass sich eine andere Beurteilung nicht aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 8. Dezember 2015 ergebe. Das Landgericht München II sei zudem nach § 29 ZPO zuständig.
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Mit Verfügung vom 7. Oktober 2022 ist die Akte dem Bayerischen Obersten Landesgericht nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO vorgelegt worden.
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Im Zuständigkeitsbestimmungsverfahren beantragt der Kläger, das Landgericht München II als sachlich und örtlich zuständiges Gericht zu bestimmen; hilfsweise, das nach Rechtsansicht des Landgerichts München II gemäß § 32b ZPO zuständige Landgericht Hamburg und höchsthilfsweise das gemäß § 17 ZPO zuständige Landgericht Landshut als sachlich und örtlich zuständiges Gericht zu bestimmen.
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Die örtliche Zuständigkeit ergebe sich aus § 29 ZPO. Dies gelte unabhängig von der Frage, ob der Kläger am Tag des persönlichen Gesprächs an seinem Wohnsitz gezeichnet habe oder einige Tage später. Eine ausschließliche Zuständigkeit des Landgerichts Hamburg sei nicht gegeben. Die Beklagte habe ihren Sitz im Zuständigkeitsbereich des Landgerichts Landshut, so dass auch eine Zuständigkeit dieses Gerichts gemäß § 17 ZPO gegeben wäre.
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Die Beklagte vertritt die Ansicht, zuständig sei das Landgericht Landshut, § 17 ZPO. Der lapidare Hinweis der Klagepartei, es habe ein Beratungsgespräch im Hause des Klägers stattgefunden, führe zu keinem abweichenden Gerichtsstand. Keine der Tatbestandsalternativen des § 29c ZPO - „Haustürgeschäfte“ - sei gegeben. Der Besuch ihres Mitarbeiters sei nach dem eigenen Vorbringen des Klägers auf dessen Veranlassung hin erfolgt. Damit sei die erste Ausnahme des § 312 Abs. 3 BGB in seiner zum Zeitpunkt des Erwerbs der Beteiligung geltenden Fassung einschlägig; es handele sich um kein Haustürgeschäft. Außerdem sei es in den Privaträumen des Klägers nicht 102 AR 136/22 - Seite 6 - zu einem Geschäftsabschluss gekommen. Andere mögliche, von der Regelung des § 17 ZPO abweichende Gerichtsstände seien nicht ersichtlich.
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Auf die zulässige Vorlage ist die (örtliche) Zuständigkeit des Landgerichts München II auszusprechen.
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1. Die Voraussetzungen für die Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO (vgl. Schultzky in Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 36 Rn. 34 ff. m. w. N.) durch das Bayerische Oberste Landesgericht liegen vor.
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Das Landgericht München II hat sich durch unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 22. August 2022 für unzuständig erklärt, das Landgericht Hamburg durch den zuständigkeitsverneinenden Beschluss vom 16. September 2022. Die jeweils beiden Parteien mitgeteilte und ausdrücklich ausgesprochene Leugnung der eigenen Zuständigkeit erfüllt das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2017, X ARZ 204/17, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 12; Schultzky in Zöller, ZPO, § 36 Rn. 35; jeweils m. w. N.). Dem steht nicht entgegen, dass das Landgericht Hamburg den Parteien vor seiner Entscheidung kein rechtliches Gehör gewährt hat, denn es hat ihnen seine Entscheidung zumindest nachträglich bekannt gemacht (vgl. BayObLG, Beschluss vom 15. September 2020, 1 AR 88/20, juris Rn. 11; KG, Beschluss vom 6. März 2008, 2 AR 12/08, NJW-RR 2008, 1465 [juris Rn. 5]; Schultzky in Zöller, ZPO, § 36 Rn. 35; Roth in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 36 Rn. 44).
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2. Zuständig für die Bestimmungsentscheidung ist gemäß § 36 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 9 EGZPO das Bayerische Oberste Landesgericht, weil die Bezirke der am negativen Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichte zu den Zuständigkeitsbereichen unterschiedlicher Oberlandesgerichte (Oberlandesgericht München und Hanseatisches Oberlandesgericht) gehören, so dass das für sie gemeinschaftliche im Rechtszug zunächst höhere Gericht der Bundesgerichtshof ist. An dessen Stelle entscheidet das Bayerische Oberste Landesgericht, weil das mit der Rechtssache zuerst befasste Gericht in Bayern liegt. Aus dem Verweisungsbeschluss des Landgerichts München II ergibt sich keine örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Hamburg, da dieser ausnahmsweise keine Bindungswirkung entfaltet.
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a) Nach ständiger Rechtsprechung kommt einem Verweisungsbeschluss die in § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO vorgesehene Bindungswirkung dann nicht zu, wenn er schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder weil er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss (BGH, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 15; Beschluss vom 9. Juni 2015, X ARZ 115/15, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9; Beschluss vom 10. September 2002, X ARZ 217/02, NJW 2002, 3634 [juris Rn. 13 f.]; Beschluss vom 15. März 1978, IV ARZ 17/78, BGHZ 71, 69 [juris Rn. 4]; BayObLG, Beschluss vom 5. März 2020, 1 AR 152/19, juris Rn. 15; Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 16 ff.; jeweils m. w. N.).
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aa) Der in Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gericht braucht dabei zwar nicht jedes Vorbringen ausdrücklich zu bescheiden; es hat vielmehr bei der Abfassung seiner Entscheidungsgründe eine gewisse Freiheit und kann sich auf die für den Entscheidungsausgang wesentlichen Aspekte beschränken. Es müssen in den Gründen aber die wesentlichen Tatsachen- und Rechtsausführungen verarbeitet werden. Wenn ein bestimmter Vortrag einer Partei den Kern deren Vorbringens darstellt und für die Entscheidung von ausschlaggebender Bedeutung ist, besteht für das Gericht eine Pflicht, die vorgebrachten Argumente zu erwägen (st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Februar 2018, 2 BvR 2821/14, NJW-RR 2018, 694 Rn. 18 m. w. N.).
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bb) Objektiv willkürlich ist ein Verweisungsbeschluss, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BGH NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9 m. w. N.). Dabei genügt es für die Bewertung als willkürlich nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist; es bedarf vielmehr zusätzlicher Umstände, die die getroffene Entscheidung als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar erscheinen lassen (vgl. BGH NJW-RR 2015, 1016 Rn. 11 m. w. N.).
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b) Bei Anlegung dieser Maßstäbe entfaltet der Verweisungsbeschluss keine Bindungswirkung, weil er gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs verstößt (hierzu aa] und bb]). Der Verweisungsbeschluss ist auch als objektiv willkürlich zu werten (hierzu cc]).
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aa) Der Kläger hat sich zur Begründung seiner Auffassung, § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO sei vorliegend nicht einschlägig, in seiner Stellungnahme vom 15. August 2022 zu dem gerichtlichen Hinweis vom 23. Juni 2022 ausdrücklich und durch Fettdruck des Wortes „auch“ darauf berufen, die Vorschrift setze voraus, dass die Klage zumindest „auch“ gegen den Emittenten, den Anbieter oder die Zielgesellschaft gerichtet sei; zur Untermauerung seiner Rechtsauffassung hat er sich auf eine Bundestags- und eine Bundesratsdrucksache und eine Fundstelle in der Kommentarliteratur berufen.
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Mit diesem, den Wortlaut des § 32b Abs. 1 ZPO berücksichtigenden und zutreffenden Einwand (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2016, X ARZ 180/16, NJW-RR 2017, 693 Rn. 11; Beschluss vom 30. Juni 2013, X ARZ 320/13, NJW-RR 2013, 1302 [juris Rn. 24]; Heinrich in Musielak/Voit, ZPO, 19. Aufl. 2022, § 32b Rn. 5 unter Hinweis auf BT-Drs. 17/8799 S. 27; BR-Drs. 2/05 S. 12; vgl. auch Patzina in Münchener zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 32b Rn. 4; Bendtsen in Saenger, ZPO, 9. Aufl. 2021, § 32b Rn. 3; Schultzky in Zöller, ZPO, § 32b Rn. 7b; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 43. Aufl. 2022, § 32b Rn. 8) hat sich das Landgericht in seinem Verweisungsbeschluss nicht auseinandergesetzt. Soweit es (lediglich) erwähnt, aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 8. Dezember 2015 (X ARZ 573/15, NJW 2016, 1178) ergebe sich keine für das klägerische Vorbringen günstige Bewertung, hat sich der Kläger zur Begründung seiner Rechtsauffassung auf diesen Beschluss bereits nicht berufen.
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Soweit der Bundesgerichtshof eine einschränkende Auslegung des § 32b Abs. 1 ZPO trotz des Wortlauts der Bestimmung für die - hier nicht einschlägige - Konstellation dahin annimmt, die in § 32b Abs. 1 Hs. 2 ZPO formulierte Voraussetzung, dass „die Klage zumindest auch gegen den Emittenten, den Anbieter oder die Zielgesellschaft gerichtet wird“, gelte nicht, wenn ausschließlich ein Prospektverantwortlicher im Sinn des § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO verklagt werden solle (vgl. BGH NJW-RR 2013, 1302 [juris Rn. 24 bis 28]), liegt dieser Fall hier eindeutig nicht vor und wird vom Landgericht München II auch nicht angenommen. In seinem Hinweis vom 23. Juni 2022, auf den der Verweisungsbeschluss Bezug nimmt, stellt das Landgericht München II ausdrücklich nur auf § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO ab. Der Kläger behauptet nicht, die Beklagte sei Prospektverantwortliche, indem sie den Prospekt herausgegeben habe oder zu den Gründern, Initiatoren oder Gestaltern der Gesellschaft gehöre, soweit diese das Management bildeten oder beherrschten; er bringt auch nicht vor, die Klage sei gegen einen „Hintermann“ gerichtet, der hinter der Gesellschaft stehe, auf ihr Geschäftsgebaren oder die Gestaltung des konkreten Anlagemodells besonderen Einfluss ausübe und deshalb Mitverantwortung trage (vgl. BGH NJW-RR 2017, 693 Rn. 12 m. w. N.).
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Dem steht auch nicht entgegen, dass der Kläger in der „Vorbemerkung“ zur Klage davon spricht, er mache Schadensersatzansprüche aus Beraterhaftung „und weiter Prospekthaftung“ geltend. Für eine über die Prospektverantwortlichkeit nach § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO hinausgehende Haftung wegen Prospekthaftung im weiteren Sinne, die unmittelbar aus § 311 Abs. 2 und 3 BGB oder aus einem Auskunfts- oder Beratungsvertrag folgen kann, kommt eine Zuständigkeit gemäß § 32b Abs. 1 ZPO allein nach dessen Nr. 2 ZPO in Frage (BGH NJW-RR 2017, 693 Rn. 13; BT-Drs. 17/8799 S. 16, 27; BayObLG, Beschluss vom 3. Dezember 2019, 1 AR 112/19, juris Rn. 25).
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Die Missachtung des klägerischen Vorbringens, die einzig gegen die Beklagte als Anlageberaterin bzw. Anlagevermittlerin gerichtete Klage unterfalle nicht § 32b ZPO, zeigt, dass das Landgericht München II das zentrale Vorbringen des Klägers, das nach Lage des Falles ersichtlich der inhaltlichen Würdigung bedurfte, nicht zur Kenntnis genommen hat. Darin liegt eine Verletzung der Garantie des rechtlichen Gehörs (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Juli 2013, 1 BvR 1018/13, juris Rn. 18; BayObLG, Beschluss vom 5. März 2020, 1 AR 144/19, juris Rn. 87).
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bb) Zudem liegt ein Gehörsverstoß darin, dass das Landgericht München II der Beklagten den Verweisungsantrag zwar zugeleitet hat, der Verweisungsbeschluss aber ergangen ist, bevor die Beklagte zu diesem und den Ausführungen des Klägers im Schriftsatz vom 15. August 2022 Stellung nehmen konnte. Nach den besonderen Umständen des Einzelfalls kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Verweisungsbeschluss auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruht (vgl. BayObLG, Beschluss vom 17. Oktober 2022, 101 AR 80/22, ZInsO 2022, 2601 Rn. 18 m. w. N.). Zwar beruht ein Verweisungsbeschluss dann, wenn die Zuständigkeit des zunächst angerufenen oder eines anderen Gerichts weder durch rügelose Einlassung noch durch Vereinbarung mit dem Gegner begründet werden kann (§ 40 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), nicht auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Februar 2018, X ARZ 5/18, juris Rn. 7, 13). Jedoch ist vorliegend kein ausschließlicher Gerichtsstand nach § 32b Abs. 1 ZPO eröffnet. Die vorliegende Konstellation ist auch nicht mit der dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 26. August 2014, X ARZ 275/14 (juris Rn. 14 f.) zugrundeliegenden Fallgestaltung vergleichbar, in der die beklagte Partei zwar nicht den Verweisungsantrag, aber den vorher erteilten Hinweis des Gerichts erhalten hat, zu dem nur der Klagepartei eine Stellungnahmefrist eingeräumt worden ist, vor deren Ablauf das Gericht den Rechtsstreit verwiesen hat. Nach Aktenlage ist der Beklagten die gerichtliche Verfügung vom 23. Juni 2022 nicht übermittelt worden; zur Begründung der Rüge der örtlichen Unzuständigkeit in der Klageerwiderung hat sich die Beklagte zudem nicht zu § 32b ZPO geäußert; dass das Landgericht München II die Anwendung des § 32b Abs. 1 ZPO in Erwägung zog, konnte die Beklagte schließlich auch nicht dem gerichtlichen Hinweis vom 11. August 2022 entnehmen. Es kann somit nicht ausgeschlossen werden, dass das Landgericht München II bei Setzung einer Äußerungsfrist zum klägerischen Schriftsatz vom 15. August 2022 zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre. Die Beklagte hat nach Erlass des Verweisungsbeschlusses die Rechtsansicht des Landgerichts München II, es gelte § 32b ZPO, nicht geteilt, sondern vorgebracht, dass anstelle des vom Landgericht München II für zuständig erachteten Landgerichts Hamburg das Landgericht Landshut nach §§ 12, 17 ZPO zuständig sei.
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cc) Indem sich das Landgericht München II über die erforderliche Prüfung der eigenen Zuständigkeit mit der unhaltbaren Begründung hinweggesetzt hat, es sei das Landgericht Hamburg nach § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO ausschließlich örtlich zuständig, hat es auch gegen das Willkürverbot verstoßen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 6. Februar 2017, 32 SA 80/16, juris Rn. 14; Bacher in BeckOK ZPO, 46. Ed. Stand: 1. September 2022, § 281 Rn. 32.4). Die Lektüre der vom Kläger zitierten Kommentarliteratur sowie der Fundstellen zur Entstehung des § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO hätte für das Landgericht München II Anlass gegeben, die eigene Rechtsauffassung kritisch zu hinterfragen. Indem das verweisende Gericht § 32b Abs. 1 ZPO abweichend vom Wortlaut und unter Negierung des klägerischen Vorbringens interpretiert hat, liegt nicht nur ein einfacher Auslegungsfehler vor. Vielmehr ist die Beurteilung, § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO begründe vorliegend eine ausschließliche Zuständigkeit des Landgerichts Hamburg für eine Klage, die sich ausschließlich gegen den Anlageberater bzw. Anlagevermittler richtet, objektiv willkürlich.
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3. Örtlich zuständig ist nach § 29 Abs. 1, § 35 ZPO das von dem Kläger angerufene Landgericht München II.
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a) Schadensersatz wegen Verletzung einer auf Vertrag beruhenden primären Beratungs- oder Aufklärungspflicht ist an dem Ort zu erbringen, an dem die verletzte primäre Leistungspflicht zu erfüllen war (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Januar 2014, X ARZ 578/13, ZIP 2014, 243 Rn. 13; Urt. v. 7. November 2012, VIII ZR 108/12, BGHZ 195, 243 Rn. 14; BayObLG, Beschluss vom 3. Dezember 2019, 1 AR 112/19, juris Rn. 28 m. w. N.).
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b) Ausgehend hiervon ist vorliegend ein Gerichtsstand am Wohnsitz des Klägers gegeben.
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c) Die Frage, ob sich aus dem der Zeichnung der Kapitalanlage vorangegangenen Gespräch in den Privaträumen des Klägers ein Gerichtsstand wegen Vorliegens eines Haustürgeschäfts ergeben hat, ist irrelevant. Für ein Haustürgeschäft folgt aus § 29c Abs. 1 Satz 1 ZPO (in der Fassung vom 5. Dezember 2005) i. V. m. § 312 BGB (in der Fassung vom 29. Juli 2009) jedenfalls keine ausschließliche Zuständigkeit eines anderen Gerichts als des vom Kläger angerufenen Landgerichts München II; eine Klage gegen einen Verbraucher i. S. d. § 29c Abs. 1 Satz 2 ZPO in der Fassung vom 5. Dezember 2005 liegt nicht vor.
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d) Der Kläger hatte unter den mehreren zuständigen Gerichten (§§ 12, 17 ZPO; § 29 Abs. 1 ZPO; ggf. § 29c Abs. 1 Satz 1 ZPO) die Wahl, § 35 ZPO, die er mit der Klageerhebung zum Landgericht München II endgültig und unwiderruflich (vgl. Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, § 35 Rn. 2) ausgeübt hat.
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4. Für die Bestimmung des sachlich zuständigen Gerichts besteht keine Veranlassung, da insoweit kein Zuständigkeitsstreit besteht, § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO.