Titel:
Keine Schutzgewähr für in Deutschland geborenes Kind äthiopischer Flüchtlinge
Normenketten:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Äthiopische Staatsangehörige, deren exilpolitisches Engagement sich im Rahmen dessen bewegt, was bei zahlreichen Landsleuten festzustellen ist oder war (Mitgliedschaft in einer exilpolitischen (Oromo-)Organisation, Teilnahme an Demonstrationen und Veranstaltungen sowie deren Mitgestaltung und Organisation, Veröffentlichung von Beiträgen in Druckwerken oder im Internet) werden von äthiopischen Stellen nicht als gefährliche Oppositionelle wahrgenommen, die deshalb mit Repressionen rechnen müssten. (Rn. 51) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Trotz der in Äthiopien vorherrschenden Unruhen ist es angesichts der Größe des Landes nicht einmal ansatzweise erkennbar, dass es sich um landesweite oder doch zumindest weite Landesteile betreffende anhaltende Unruhen handelt, die zu einer ernsthaften individuellen Bedrohung von Leben oder körperlicher Unversehrtheit Unbeteiligter iSv § 4 Abs. 1 AsylG führen könnten. Insbesondere liegen keine greifbaren Hinweise vor, dass die Lage im Bereich von Addis Abeba die im Rahmen von § 4 AsylG anzulegende Schwelle auch nur ansatzweise überschreiten würde. (Rn. 54 – 55) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist bereits dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können, wobei zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten auch Tätigkeiten zählen, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison, ausgeübt werden können, selbst wenn diese Bereich der sog. "Schatten- oder Nischenwirtschaft" angehören (BVerwG BeckRS 2022, 5151). (Rn. 57) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Nach der Auskunftslage ist selbst bei alleinerziehenden Frauen nicht anzunehmen, dass diese nicht in der Lage wären, den Lebensunterhalt für sich und ein minderjähriges Kind zu sichern. Erwerbsmöglichkeiten bestehen grundsätzlich auch für Personen ohne abgeschlossene Schulbildung. (Rn. 59) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Es gibt keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Versorgungslage in Äthiopien - auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen und Verschärfungen u.a. durch die Corona-Pandemie, Dürre-/Überschwemmungsereignisse, den Tigray-Konflikt und die Heuschreckenplage sowie jüngst den Russland-Ukraine-Krieg - gegenwärtig außerhalb der Tigray-Region und angrenzender Gebiete des nördlichen Äthiopiens derart desolat wäre, dass einem zurückkehrenden Kleinkind der Hungertod oder schwerste Gesundheitsschäden in Folge einer Mangelernährung drohten. (Rn. 65) (red. LS Clemens Kurzidem)
6. Die allgemein unsichere oder wirtschaftlich schlechte Lage infolge von Hungersnöten, Naturkatastrophen oder Epidemien - und damit auch infolge der Verbreitung des Coronavirus bzw. der Ausbreitung von Heuschrecken in Äthiopien - begründet Allgemeingefahren iSv § 60 Abs. 7 S. 6 AufenthG, weil ihr die gesamte Bevölkerung oder eine ganze Bevölkerungsgruppe des betroffenen Landes, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, ausgesetzt ist. (Rn. 73) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Äthiopien, Nachgeborenes Kind, Abschiebungsverbot (verneint), äthiopischer Staatsangehöriger, Oromo, Kleinkind, ausreisepflichtige Eltern, alleinerziehende Mutter, Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz, nationaler Abschiebungsschutz, Existenzminimum, Schatten- und Nischenwirtschaft, Extremgefahr, Tigray, Addis Abeba, exilpolitische Aktivitäten, desolate Versorgungslage, Heuschreckenplage, Corona-Pandemie
Fundstelle:
BeckRS 2022, 36783
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger ist der … in Deutschland geborene Sohn von Frau … und Herrn …, beide nach ihren Angaben äthiopische Staatsangehörige mit Volkszugehörigkeit der Oromo (Mutter) bzw. Oromo/Eritreer (Vater).
2
Das Asylverfahren der Mutter des Klägers ist rechtskräftig negativ abgeschlossen (Bescheid v. 11.09.2015 und nachfolgend VG Bayreuth, U.v. … … und BayVGH, U.v. … sowie BVerwG, B.v. … und abschließend BVerfG, B.v. ...). Gleiches gilt für das Asylverfahren des Vaters des Klägers (Bescheid v. 11.08.2017 und nachfolgend VG Bayreuth, Gb.v. …).
3
Der Vater des Klägers hatte anlässlich seiner Befragung durch die Regierung von Mittelfranken am 25.11.2016 u.a. angegeben, neben seiner Muttersprache Amharisch spreche er noch Englisch. Er sei in Ad. Ab.geboren und als Kind sei ein Umzug in die Stadt S. in der Nähe von Ad. Ab.erfolgt. In S. habe er bis zu seiner Ausreise aus Äthiopien im März 2016 gelebt. Der Vater des Klägers sei ledig. Sein eigener Vater habe sie verlassen, als der Vater des Klägers ein Kind gewesen sei. Die Mutter des Vaters des Klägers sei ca. 40 Jahre alt und sei in Or., Stadt …, geboren. Er wisse nicht, wo die Mutter aktuell lebe. Der Vater des Klägers habe zwei Schwestern, die in der Stadt S. lebten (ca. 15 und 17 Jahre alt). Der Vater des Klägers habe die Schule … von der ersten bis zur elften Klasse besucht, das sei in Ad. Ab.gewesen. Einen Beruf habe der Vater des Klägers nicht erlernt. Die Reise nach Deutschland habe 6.000 US-Dollar gekostet, die Mutter habe ihr Grundstück verkauft und die Reise finanziert.
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In der Befragung zur Vorbereitung der Anhörung gab der Vater des Klägers am 07.12.2016 u.a. an, an weiteren Verwandten im Heimatland lebten zwei Schwestern und die Großfamilie. Der Vater des Klägers habe die Mittelschule bis zur 10. Klasse besucht. Anlässlich seiner Anhörung gab er am 28.12.2016 u.a. an, er habe sich bei Ad. Ab.in S. aufgehalten, das gehöre zu Or.. Er habe dort mit seiner Mutter gelebt. Der Vater des Klägers wisse nicht, wo seine Mutter nun sei. Er wisse seit seiner Kindheit nicht, wo sein Vater sei. Der Vater des Klägers habe zwei jüngere Schwestern, ein Bruder sei mit ihm ausgereist und ebenfalls im Asylverfahren, befinde sich (damals) in einer Unterkunft für Minderjährige. Einen Beruf habe der Vater des Klägers nicht erlernt, er habe auch nicht gearbeitet.
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Die Mutter des Klägers gab in ihrer Befragung zur Vorbereitung der Anhörung am 11.04.2012 u.a. an, sie habe zuletzt in Ad. Ab.*gelebt. Sie habe die 12. Klasse Gymnasium in Ad. Ab.abgeschlossen und keinen Beruf erlernt. Sie habe bei ihrem Vater im Lebensmittelgroßhandel gearbeitet, ihre wirtschaftliche Lage sei gut gewesen. Gegenüber der Regierung von Mittelfranken hatte sie am 16.04.2012 u.a. angegeben, sie spreche Amharisch und Oromo. Papiere habe sie keine dabei, sie sei ja illegal eingereist. Sie wolle ihre Familie nicht anrufen und Dokumente bestellen. Sie habe zuletzt in Ad. Ab.*gelebt. Die Ausreise habe 180.000 Birr gekostet einschließlich Flugtickets für den Direktflug von Ad. Ab.*nach Frankfurt.
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In ihrer Anhörung am 26.06.2012 gab sie u.a. an, ihr eigener Vater sei verschwunden, ihre Schwester sei verheiratet und lebe mit ihrem Mann zusammen in Ad. Ab.. Die Schwester sei mittlerweile im Gefängnis. Das habe die Mutter des Klägers nach ihrer Einreise in Deutschland von einem Bekannten erfahren, den sie in Äthiopien angerufen habe. Beruflich habe die Schwester im Geschäft des Vaters gearbeitet, wie auch die Mutter des Klägers, zusätzlich hätten sie noch einen Musikladen betrieben, in dem die Mutter des Klägers auch gearbeitet habe. Beide Geschäfte seien vom Staat geschlossen bzw. beschlagnahmt worden. Das Geschäft des Vaters habe ihm selbst gehört, den Musikladen, den Laden der Mutter des Klägers, habe sie gemietet. An Vermögen hätten die Mutter des Klägers und ihre Eltern in Äthiopien Folgendes: ihr Haus, in dem sie gelebt hätten, sowie Geld bei der Bank. Die Mutter des Klägers habe eine High School in Ad. Ab.besucht. Sie sei im April 2012 aus Äthiopien ausgereist. Ihr Büro sei z.B. mit einem Aktenschrank, einem normalen Schrank, einem Schreibtisch, einem Computer und einem Tisch mit Stühlen ausgestattet gewesen. In ihrem Geschäft habe sie vorne einen Raum mit Regalen gehabt, wo sie Kassetten und Videos aufbewahrt habe. Im hinteren Raum sei ihr Büro gewesen, es sei mit Computer und Geräten zum Vervielfältigen und Kopieren der Demos und Mastertapes ausgestattet gewesen.
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In ihrem eigenen gerichtlichen Verfahren (...) ließ die Mutter des Klägers über ihren Bevollmächtigten u.a. ausführen, dass die eigene Mutter im Oktober 2009 gestorben sei. Eine falsche Identität werde von der Klägerin nicht verwendet. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof am … führte die Mutter des Klägers u.a. aus, sie wisse nicht, wohin sie in Äthiopien nach sieben Jahren Aufenthalt in Deutschland gehen solle. Sie habe dort niemanden. Zweitens seien nach ihrer Kenntnis nur bekannte Aktivisten nach Äthiopien zurückgekehrt, die dort keine Probleme hätten. Sie wisse aber nicht, wie das mit anderen Personen sei, die Regierungsgegner seien, aber nicht so bekannt seien. Auf Frage des Gerichts, wie es der Schwester der Mutter des Klägers gehe, habe die Mutter des Klägers ausgeführt, ihre Schwester sei inzwischen in die USA ausgewandert. Zuvor habe sie sich in Kenia in einem Flüchtlingscamp aufgehalten. Das genaue Datum der Ausreise könne sie nicht nennen. Sie habe inzwischen wieder Kontakt zu ihrer Schwester, nachdem dies die ersten Jahre ihres Aufenthalts in Deutschland nicht der Fall gewesen sei. In Deutschland arbeite die Mutter des Klägers als Reinigungskraft. Wegen ihrer Vorfluchtgründe habe die Mutter des Klägers nach wie vor Sorgen, dass ihr deshalb in Äthiopien etwas passiere. Sie glaube, dass sie Probleme bekomme, es gebe Erkenntnisse, dass weniger prominente Oppositionelle Probleme bekämen. Ihres Wissens nach würden weniger prominente Oppositionelle im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen in Äthiopien unter Druck gesetzt. Die Mutter des Klägers sei gegen die jetzige Regierung, es sei immer noch dieselbe Partei, sie habe kein Vertrauen.
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Aufgrund der Antragsfiktion des § 14a Abs. 1, 2 AsylG galt mit dem 22.11.2021 ein Asylantrag für den Kläger als gestellt. Am 02.12.2021 erteilte das Bundesamt der Mutter des Klägers diverse Belehrungen und gab ihr - soweit nicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens verzichtet wird - auf, innerhalb von zwei Wochen schriftlich die Asylgründe für den Kläger mitzuteilen. Daraufhin zeigte sich der Bevollmächtigte beim Bundesamt an, erhielt die beantragte Akteneinsicht und gab am 07.01.2022 eine Stellungnahme für den Kläger ab. U.a. wurde ausgeführt, dass die Eltern der Mutter des Klägers verstorben seien; weitere Verwandte lebten, soweit der Mutter des Klägers bekannt, nicht mehr in Äthiopien. Bei „Rückkehr“ werde der Kläger faktisch in die Verfolgung seiner Mutter einbezogen. Überdies hätte die Familie des Klägers in der derzeitigen Lage in Äthiopien keine Existenzmöglichkeit.
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Im Einzelnen wurde geltend gemacht, aufgrund der Änderung der Lage in Äthiopien könne die vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof getroffene Feststellung (Urteil vom …), dass der Mutter des Klägers zum damaligen Zeitpunkt wegen ihrer exilpolitischen Aktivitäten für die UOSG keine Gefahr mehr drohe, nicht mehr Bestand haben. Der Mutter des Klägers und damit faktisch auch dem Kläger drohten erneut Verfolgung aufgrund der hiesigen Tätigkeiten für die UOSG. Die OLF bzw. die OLA sei mittlerweile wieder als terroristische Gruppierung eingestuft, sie habe sich zudem mit der TPLF verbündet. Neun Oppositionsgruppen (wurde ausgeführt) hätten sich am 05.11.2021 offiziell zusammengetan, um Abiy Ahmed zu stürzen. Der Ausnahmezustand für das ganze Land sei ausgerufen worden, Straßen seien gesperrt und Medien unterlägen der Zensur. Äußerungen gegen die Sicherheitsorgane und deren Handlungen seien untersagt. Menschen ohne Ausweise müssten sich bei den Sicherheitskräften melden. Die USA habe große Teile ihres Personals zurückbeordert. Auch Deutschland und Frankreich habe nun seine Staatangehörigen aufgefordert, Äthiopien zu verlassen. Drohe der Mutter des Klägers als vermeintliche Unterstützerin der OLA in dieser Lage im Falle ihrer Rückkehr Haft, würde der Kläger selbst (bestenfalls) in ein Heim kommen und dort mit Sicherheit von seiner Mutter entfremdet.
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Davon unabhängig hätten der Kläger und seine Mutter in Ad. Ab. ... nicht die Möglichkeit, eine das Überleben ermöglichende Existenz zu führen. Die wirtschaftliche Lage sei für Rückkehrer ohnehin extrem schwierig. Sie sei derart katastrophal, dass Rückkehrern ein Überleben in Äthiopien nicht möglich sei, wenn sie auch nur mit minimalen, im Allgemeinen nicht ins Gewicht fallenden Handicaps belastet seien, wie z.B.: längere Zeit in Deutschland gelebt, hiesige politische Aktivitäten, die jedenfalls nicht gern gesehen würden, alleinstehende Frau, o.a.. Ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom Juni 2021 habe sich die wirtschaftliche Lage des Landes im vergangenen Jahr erheblich verschlechtert. Zahlreiche Ereignisse seien festzustellen, die ihrerseits unmittelbare Folgen für die wesentlichen Faktoren, die eine wirtschaftliche und soziale Lage eines Landes bestimmten, nach sich gezogen hätten:
- Die COVID-Pandemie bzw. die gegen diese ergriffenen Schutzmaßnahmen hätten zu Mobilitätseinschränkungen geführt. Dies habe seinerseits Preissteigerungen und erhöhte Arbeitslosigkeit ausgelöst. Zugleich sei medizinisches Personal gebunden worden. Da zahlreiche Europäer in Europa und den USA aufgrund der dortigen COVID-Schutzmaßnahmen extreme Einkommenseinbußen erlitten, würden die Deviseneinnahmen durch deren Zahlungen an Angehörige in Äthiopien sinken. Der ursprüngliche Anteil dieser Zahlungen am Devisenfluss werde auf ca. 25 Prozent geschätzt.
- Ethnisch und politisch begründete gewaltsame Konflikte im Land hätten ihrerseits eine Einschränkung der Mobilität einschließlich des Warenverkehrs zur Folge, die Zahl der Binnenflüchtlinge sei auf über 4 Millionen gestiegen. Das mindere nicht nur erheblich die Produktivität, sondern schränke auch u.a. durch die Reduzierung der Mobilität das verfügbare Angebot von Waren ein. Ein zusätzlicher Versorgungsbedarf entstehe in nennenswertem Umfang. Aufgrund des nun ausgerufenen landesweiten Ausnahmezustands sei die Mobilität nochmals drastisch reduziert. Personen, die keine ID-Karte von Ad. Ab.vorweisen könnten, dürften nicht in die Stadt.
- Die Energiepreise stiegen weltweit, dies erhöhe zusätzlich die Inflation, die nunmehr bereits bei 25 Prozent angekommen sei. Dies wirke ihrerseits nachfragemindernd und schlage so auf den Stellenmarkt durch.
- Die mittlerweile akute Kriegsführung gegen die TPLF belaste den ohnehin überschuldeten Staatshaushalt erheblich. Dies führe zu Mittelknappheit in anderen Bereichen und werde qua Inflation wiederum auf den Waren- und Arbeitsmarkt kommuniziert.
- Die Ethnisierung der Gesellschaft werde immer weiter vorangetrieben. Auch in Ad. Ab.*müssten nun Tigray alleine wegen ihrer Volkszugehörigkeit mit Haft und Misshandlung rechnen. Oromo stünden wieder im Generalverdacht der Unterstützung der (mit der TPLF zusammenarbeitenden) OLA/OLF und damit im Terrorismusverdacht - mit den daraus im Ausnahmezustand folgenden unbegrenzten Befugnissen der Sicherheitskräfte.
- Neben den unmittelbaren Folgen dieser Ethnisierung für die Betroffenen beinhalte diese auch den verstärkten Rückgriff auf tradierte, vormoderne kulturelle und soziale Vorstellungen, die notwendig seien, um eine abbildbare Identität der jeweiligen Ethnie und damit eine Identifikationsfläche zu kreieren. Das schließe Rückschritte hinsichtlich der Rolle der Frauen, steigende Beschneidungsquoten, Stigmatisierung u.a. ein. Dadurch entstehe nicht nur eine Spirale von Eskalation des Konflikts durch Ethnisierung einerseits und durch konfliktbedingte Intensivierung der ethnischen Orientierung andererseits, sondern es würden auch Kommunikationsabbrüche ausgelöst, die unmittelbar die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigten.
- Hinzu kämen die „normalen“ schweren Katastrophen, namentlich Dürre und Überschwemmungen 2020 und 2021, die die Produktivität minderten und zur Erhöhung der Zahl an Binnenflüchtlingen führten.
- Die Verstädterung von Ad. Ab.als Sitz ausländischer Unternehmen und Einrichtungen und ihrer Mitarbeiter bringe die dortigen Lebensverhältnisse in eine besondere Abhängigkeit von ökonomischen Schwankungen. Sie habe die dortigen Preise insgesamt stark in die Höhe getrieben, die Mieten in Ad. Ab.hätten durchaus europäisches Niveau. Aufgrund nunmehr sinkender Attraktivität des Landes für ausländische Investoren und Lieferanten und zunehmender Unsicherheit komme es aber schnell zu einem Abfluss der zahlungskräftigen und devisenbringenden Bewohner. Das einheimische Hilfspersonal bleibe - bei gleichen Preisen vor Ort - arbeitslos zurück.
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Das Ineinandergreifen dieser, ihrerseits verschränkten, Faktoren neueren Datums bilde den Ursachenteppich für eine dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage, die nicht zuletzt durch den Krieg mit der TPLF einen weiteren Schub erhalten habe. Und dieser Krieg eskaliere immer weiter. Die TPLF habe weite Teile Amharas eingenommen, die wichtigsten Städte D. und K. erobert. Die Einnahme der Hauptstadt werde befürchtet. Man werde Ad. Ab.einnehmen, wenn das nötig sei, habe ein Militärsprecher der TPLF verkündet. Abiy Ahmed habe die gesamte Bevölkerung aufgerufen, mit gegen die TPLF zu kämpfen. Ehemalige Soldaten seien einberufen worden. „Wir werden den Feind mit unserem Blut begraben“ habe Abiy Ahmed gemeint. Man müsse Opfer bringen. Heroisch sei er nun selbst in Uniform an die Front gegangen, um den Kampf zu führen. Zwischenzeitlich hätten die Regierungstruppen La Libella wieder übernommen, seien von dort aber wieder von der TPLF vertrieben worden.
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Mit Bescheid vom 20.01.2022 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab (Nr. 1). Zugleich wurde der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt (Nr. 2), der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (Nr. 3) sowie festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Klageverfahrens. Sollte der Kläger die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er nach Äthiopien abgeschoben. Der Kläger könne auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei. Die durch Bekanntgabe des Bescheids in Lauf gesetzte Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der Klagefrist ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne der entsprechenden Definition. Soweit sich der Bevollmächtigte darauf berufe, die Verhältnisse in Äthiopien hätten sich verändert und die Mutter des Klägers sei nunmehr verfolgt, sei festzustellen, dass für den Kläger keine individuellen Gründe, eine befürchtete Verfolgung betreffend, vorgetragen worden seien. Eine konkret drohende individuelle und begründete Furcht vor Verfolgung sei trotz des Vortrags einer Sippenhaft nicht nachvollziehbar und auch nicht überzeugend vorgebracht. Eine erlittene Vorverfolgung könne angesichts der Tatsache, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren worden sei und sich zu keiner Zeit im Herkunftsland der Eltern aufgehalten habe, auch nicht vorliegen. Weshalb der äthiopische Staat bei einer Einreise nun den * Monate alten Kläger verfolgen sollte, sei nicht schlüssig. Zudem sei festzustellen, dass mögliche vorliegende Gründe für eine nunmehrige drohende Verfolgung der Mutter des Klägers jedoch ausschließlich im einem weiteren Asylverfahren der Mutter zu prüfen wären. Angemerkt wurde zudem, dass seitens des Bevollmächtigen keine individuellen neuen Gründe vorgetragen worden seien, warum der Mutter nunmehr Verfolgung drohen sollte. Warum der Bevollmächtige im Übrigen nun vortrage, man könnte der Mutter eine vermeintliche OLA Unterstützung vorwerfen, sei jedenfalls nicht nachvollziehbar und unbegründet vorgetragen. Im gesamten bisherigen Verfahren wolle sich die Mutter des Klägers lediglich für die UOSG und OLF exilpolitisch betätigt haben. Eine Ableitung von Flüchtlingsschutzes oder subsidiärem Schutz komme aufgrund der rechtskräftigen Ablehnung der Asylanträge der Eltern ebenfalls nicht in Betracht.
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Stichhaltige Gründe für einen dem Kläger drohenden ernsthaften Schaden i.S.d. § 4 AsylG lägen hier ebenfalls nicht vor.
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Es seien auch keine Abschiebungsverbote gegeben. Eine Abschiebung gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG sei unzulässig, wenn sich dies aus der EMRK ergebe. In Betracht komme dabei in erster Linie eine Verletzung des Art. 3 EMRK und damit die Prüfung, ob im Fall einer Abschiebung der Betroffene tatsächlich Gefahr liefe, einer dieser absoluten Schutznorm widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Es drohe dem Kläger aber keine durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. In Bezug auf Gefahren einer Verletzung des Art. 3 EMRK, die individuell durch einen konkret handelnden Täter drohten, sei daher keine andere Bewertung als bei der Prüfung des subsidiären Schutzes denkbar.
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Darüber hinaus könne eine Verletzung des Art. 3 EMRK ausnahmsweise auch dann in Betracht kommen, wenn der Kläger im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr laufe, im Aufnahmeland auf so schlechte humanitäre Bedingungen (allgemeine Gefahren) zu treffen, dass die Abschiebung dorthin eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstelle. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne danach nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllen.
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Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Äthiopien führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Bei Rückkehr nach Äthiopien könne im Allgemeinen von der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausgegangen werden.
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In den vergangenen Jahren habe sich Äthiopien zu einer der am schnellsten wachsenden Ökonomien entwickelt. Offizielle Statistiken zeigten ein durchschnittliches BIP-Wachstum von rund neun bis zehn Prozent. Modernisierungen in der Landwirtschaft hätten dazu geführt, dass mehr landwirtschaftliche Güter exportiert als importiert würden. Die eigene Bevölkerung könne in aller Regel selbst ernährt werden. Weiter sei die äthiopische Regierung bemüht, das Land aus der Armut herauszuführen und habe bereits in sei vergangenen Jahren enorme Fortschritte erzielen können: Nach Angaben der Weltbank sei der Anteil der extrem Armen in den letzten Jahren deutlich gesunken und das Pro-Kopf-Einkommen spürbar gestiegen. Der Anteil der äthiopischen Bürger, denen mehr als zehn US-Dollar Einkommen am Tag zur Verfügung stehe, habe sich in den letzten Jahren verzehnfacht. Somit könne davon ausgegangen werden, dass zumindest in den meisten Regionen, in jedem Fall aber in Ad. Ab., eine - wenn auch häufig sehr bescheidene - Existenzsicherung gewährleistet sei. Dies gelte insbesondere für Rückkehrer aus dem Ausland, die über besondere Qualifikationen und Sprachkenntnisse verfügten. Grundsätzlich sei es möglich, sich bereits mit geringfügigen Mitteln eine Existenzgrundlage zu schaffen.
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Nach Auffassung des Auswärtigen Amtes gelte dies auch für eine alleinstehende Mutter ohne abgeschlossene Schulbildung, wobei hier die Rückkehrsituation verbessernd hervorgehoben werden müsse, da der Vater des Klägers mit Mutter und Kind in einer Lebensgemeinschaft zusammenlebe und deshalb auch von einer gemeinsamen Rückkehr - die Asylanträge beider Elternteile seien rechtskräftig abgelehnt - ausgegangen werden könne.
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Dabei werde nicht verkannt, dass die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln nicht in allen Landesteilen Äthiopiens und nicht zu jeder Zeit gesichert sei. Nach Regierungsangaben benötigten 20 Millionen humanitäre Hilfe, die aber von den äthiopischen Behörden zum Großteil selbst erbracht bzw. durch Unterstützung aus dem Ausland sichergestellt werde. Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Rückkehrer von einer Nahrungsmittelhilfe ausgeschlossen wären.
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Es sei den Eltern des Klägers auch vor ihrer Ausreise gelungen, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Es sei nicht ersichtlich, warum dies nicht auch bei einer Rückkehr nach Äthiopien gelingen sollte. Zu beachten sei auch, dass nach den allgemein bekannten familiären und gesellschaftlichen Strukturen in Äthiopien vom Vorhandensein gegenseitiger Hilfe durch Familie, Großfamilie, Clan oder andere sich unterstützende Netzwerke auszugehen sei. Gegenteilige Behauptungen widersprächen grundsätzlich sowohl diesen Erkenntnissen als auch der allgemeinen Lebenserfahrung. Die Eltern des Klägers hätten in ihren Befragungen vorgetragen, über Familie in Äthiopien zu verfügen.
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Dass sich die Situation aufgrund des Ausbruchs der Corona-Pandemie und der Heuschreckenplage sowie Überschwemmung verschärft haben könnte, ergebe sich weder aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen hinreichend konkret noch sei dies anderweitig ersichtlich. Zwar hätten die Corona-Pandemie, Fälle von Masern, Cholera und Gelbfieber Äthiopien ebenso getroffen wie eine verheerende Heuschreckenplage, die in einigen Regionen zu Nahrungsmittelknappheit und Hunger führen könnten. Auch werde eine deutliche Verringerung des Wirtschaftswachstums erwartet, doch stelle sich die Versorgungslage für die Bevölkerung auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen und Verteuerungen nicht so dar, dass man auch nur annähernd von einem „sufficiently real risk“ sprechen könnte.
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Äthiopien habe am 13.03.2020 seinen ersten Fall von COVID-19 bestätigt, worauf die äthiopische Regierung am 08.04.2020 mit einem fünfmonatigen Ausnahmezustand auf die Pandemie reagiert habe. Alle Landesgrenzen, Schulen und Bars seien geschlossen worden, Tausende Gefangene aus der Haft entlassen, größere Versammlungen verboten und die ursprünglich für Mai 2020 vorgesehenen Parlamentswahlen um mehr als ein Jahr verschoben. Es bestünden landesweit zwar Reisebeschränkungen, ein weiterer Lockdown sei demgegenüber nicht angeordnet worden, auch sei der Ausnahmezustand nicht verlängert worden.
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Aufgrund der aktuellen Erkenntnislage ergebe sich, dass hinsichtlich der Auswirkungen der Corona-Pandemie, der Heuschreckenplage sowie Überschwemmung nach derzeitigem Stand nichts Konkretes dahingehend erkennbar sei, dass es mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit zu einer Verschlechterung der Versorgungslage kommen und der Kläger nicht einmal seinen existenziellen Lebensunterhalt sichern können werde. Demgegenüber beruhten weitere Berichte und Entscheidungen, die die Corona-Pandemie und die Heuschreckenplage thematisierten, auf unbelegten Annahmen und Zukunftsszenarien. Tatsächlich hätten sich die Prognosen zu Beginn der Pandemie, wie z.B. eine rasante Ausbreitung, kollabierende Gesundheitssysteme oder Hunderttausende Tote in Afrika nicht bestätigt. Allgemein zugänglichen Presseberichten bzw. Statistiken lasse sich nicht entnehmen, dass die Corona-Lage in Äthiopien aktuell besonders bedenklich wäre. So lägen die Fallzahlen nachgewiesener Erkrankungen oder die Sterberate in Äthiopien deutlich unter denen in Deutschland. Zudem erhalte das Land umfangreiche medizinische Hilfslieferungen (wurde weiter erläutert).
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Die äthiopische Wirtschaft sei längst nicht so hart betroffen wie zum Teil prognostiziert. So habe die Regierung frühzeitig reagiert und Maßnahmen ergriffen, so z.B. am 23.03. ein vorläufiges Konjunkturpaket in Höhe von fünf Milliarden Birr (ca. 160 Mio. USD), die Abschaffung der Einfuhrsteuern auf COVID-19-bezogene Artikel, schnellere Rückerstattung der Mehrwertsteuer für Unternehmen, die Unterstützung in Höhe von 21 Milliarden Birr (ca. 650 Mio. USD) für Banken, um den erwarteten Liquiditätsengpass aufgrund geringerer Einlagen und des Ausfalls von Krediten zu vermeiden. Außerdem habe die Regierung versichert, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die erwarteten Verluste im Industriesektor im Zusammenhang mit der Pandemie und dem weltweiten Wirtschaftsabschwung auszugleichen. Äthiopien erhalte zudem erhebliche Finanzhilfen ausländischer Institutionen: Die Europäische Union habe ebenso Finanzhilfen zugesagt wie Anfang Mai 2020 der Internationale Währungsfonds (IWF), der Äthiopien eine Soforthilfe von 411 Mio. US-Dollar zur Bekämpfung der Pandemie gewährt habe. Die Weltbank habe im April 2021 erklärt, 907 Mio. USD zur Verfügung zu stellen, u.a. auch im Kampf gegen COVID-19. Trotz der schwierigen Umstände habe Äthiopien im Fiskaljahr Juli 2019 - Juli 2020 sogar ein Wirtschaftswachstum von 6,1 Prozent erzielt. Die Ratingagentur Fitch habe für das Geschäftsjahr 2021 zwar einen Wachstumseinbruch prognostiziert, sehe jedoch mittelfristig wieder eine Rückkehr zu Wachstumsraten im Bereich von sechs bis sieben Prozent. Äthiopien selbst gehe bis zum Jahr 2022 aufgrund der globalen Erholung sogar von einem Wirtschaftswachstum von 8,7% aus. Es seien keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass es dem Kläger nicht möglich sein sollte, sich trotz der Pandemie eine, wenn auch bescheidene Existenz aufzubauen. Unterstützung erfahre Äthiopien auch hinsichtlich der Heuschreckenplage. Die Welthungerhilfe leiste gemeinsam mit anderen Organisationen finanzielle Hilfe, um Ernteverluste oder steigende Lebensmittelpreise auszugleichen.
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Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Individuelle gefahrenerhöhende Umstände für den Kläger oder dessen Eltern, welche über das Maß hinausgehen, mit dem sich die die gesamte Bevölkerung in Äthiopien auseinanderzusetzen habe, seien weder vorgetragen noch erkennbar.
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Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde (wurde näher ausgeführt). Auf die weiteren Ausführungen wird verwiesen.
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Mit am 04.02.2022 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz ließ der Kläger durch seinen Bevollmächtigten Klage gegen den Bescheid vom 20.01.2022 erheben.
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Zur Begründung der Klage wurde auf den Vortrag im behördlichen Verfahren sowie im Asylverfahren der Eltern, die derzeit zusammenlebten, Bezug genommen. Der Vater sei mütterlicherseits oromischer Abstammung und väterlicherseits Eritreer. Die Mutter gehöre der Volksgruppe der Oromo an und sei hier für die UOSG politisch aktiv gewesen. Dem Kläger drohe eine sippenhaftartige Einbeziehung in die Verfolgung der Mutter. Zudem wäre er im Falle einer Verbringung nach Äthiopien dort von Existenzgefährdung bedroht.
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Der Kläger habe Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter, da ihm im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung drohe. Auf das bisherige Vorbringen werde verwiesen. Die seitens des Bundesamts angegebenen Gründe könnten den Bescheid nicht tragen. Das Bundesamt unterstelle eine gemeinsame Rückkehr mit dem Vater. Die rechtlich anzunehmende gemeinsame Rückkehr einer Kernfamilie gelte jedoch ohne Weiteres nur für den Fall, dass diese Familie bereits vor der Ausreise aus dem Heimatland bestanden habe, was hier ersichtlich nicht gegeben sei.
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Dies dahingestellt wäre der Kläger, gleich ob eine Einreise nach Äthiopien und ein dortiger Verbleib allein mit der Mutter oder mit beiden Eltern erfolge, dort aufgrund der vorgegebenen Umstände einer existenzbedrohenden Lage ausgesetzt. Er und seine Mutter bzw. Eltern hätten derzeit und auf absehbare Zeit keine Chance, eine das Überleben sichernde Existenz zu führen.
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Der Hinweis des Bundesamts, schließlich hätten beide Eltern vor ihrer Ausreise für ihren Lebensunterhalt sorgen können, so dass dies nun auch im Falle einer Rückkehr anzunehmen sei, gehe fehl. Es handele sich um einen fehlgelaufenen Textbaustein, denn der Vater des Klägers habe nicht für seinen Lebensunterhalt gesorgt gehabt. Er sei gewissermaßen von der Schule weg aus dem Lande geflohen. Die Mutter habe lediglich mit der Hilfe ihrer Mutter einen kleinen Laden betreiben können. Beide Eltern hätten keine Qualifikationen. Der Vater sei zudem in Or. auf dem Lande aufgewachsen. Dort sei die Situation für die ansässige Bevölkerung lebensgefährlich. Zum einen komme es andauernd zu Übergriffen der äthiopischen Sicherheitskräfte, die die OLA bekämpfen wollten und aus diesem Grund auch die ansässige Bevölkerung als mögliche Unterstützer und Helfer dieser Organisation ansähen, Männer im kampfähigen Alter festnähmen und misshandelten, die Häuser und Wohnungen durchsuchten und die Anwesenden dabei misshandelten, sie zur Abgabe von Lebensmitteln zwängen und dergleichen.
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Darüber hinaus werde die ansässige Bevölkerung von den Mitgliedern der OLA genötigt und mit Gewalt dazu gezwungen, sie mit Lebensmitteln, Geld u.a. zu unterstützen. Die Männer würden unter Druck gesetzt, sich der OLA anzuschließen, wenn sie nicht als zu bekämpfende Verräter bzw. Feinde gelten wollten. Die äthiopische Armee bombardiere im vermeintlichen Kampf gegen die OLA bzw. die Allianz von TPLF und OLA unterschiedslos Orte in Or.. Die Konfliktlage und der Ausnahmezustand hätten die landwirtschaftliche und wirtschaftliche Tätigkeit weitgehend lahmgelegt. Es herrsche Hunger. Die Menschen seien auf fremde Hilfe angewiesen, die ihrerseits - auch aufgrund der Konfliktlage - nicht im ausreichenden Maße gewährt werden könne. Die Feststellungen des Bundesamts zur humanitären Lage der Rückkehrer gingen an der Realität vorbei. Sie ließen den Krieg mit der TPLF und dessen Folgen für das ganze Land außer Acht. Es wurde zitiert aus dem Lagebericht vom 18.01.2022, in dem es schlicht heiße, dass die wirtschaftliche und humanitäre Lage sich in 2020 und 2021 deutlich verschlechtert habe, über 20 Mio. Menschen benötigten nach Schätzungen der äthiopischen Regierung humanitäre Hilfsleistungen.
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Ergänzend wurde geltend gemacht, beide Eltern hätten das gemeinsame Sorgerecht, lebten jedoch nicht zusammen. Der Vater besuche den Kläger und kümmere sich um ihn. Zur Situation der oromischen Mutter werde ergänzt: Der Vater der Mutter, Großvater des Klägers, sei seit seiner Inhaftierung verschollen. Die Mutter der Mutter, Großmutter des Klägers, sei bereits 2009 verstorben. Die Schwester … sei in den USA. Soweit es weitere Verwandte gebe, Onkel, Tanten, pp. lebten diese in der Region von …, Or., der Heimatregion der Familie. Die Mutter kenne diese Personen nicht einmal dem Namen nach. Die Mutter des Klägers leide erneut unter einem Myom, das in den nächsten Wochen operativ entfernt werden müsse. Zudem liege eine Erkrankung der Hals- und Lendenwirbelsäule vor, die zu starken Schmerzen führe.
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Der eritreische Vater des Vaters, Großvater väterlicherseits, lebe in Italien. Er habe kein reguläres Einkommen im weitesten Sinne und lebe auf der Straße sowie in besetzten Häusern. Die Mutter des Vaters sei verschollen. Ein kleiner Bruder sei in Deutschland und gehe hier zur Schule. Die beiden jüngeren Schwestern sollen auch mittlerweile das Land verlassen haben. Der oromische Teil seiner Familie stamme aus S. in …, Or..
die Beklagte unter vollumfänglicher Aufhebung ihres Bescheides vom 20.01.2022, Az.: …, eingegangen am 24.01.2022, zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten gem. Art. 16a Abs. 1 GG anzuerkennen, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (§ 3 AsylG), ihm subsidiären Schutz zu gewähren (§ 4 AsylG) und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, 7 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
38
Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf die angefochtene Entscheidung.
39
Mit Beschluss vom 18.08.2022 hat das Gericht den Rechtsstreit auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Mit weiterem Beschluss vom 25.08.2022 wurde über den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe entschieden.
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Am 04.11.2022 wurde eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Die darin gestellten unbedingten Beweisanträge hat das Gericht mit Beschluss vom 22.11.2022 abgelehnt, gegen den mit am 09.12.2022 eingegangenem Schriftsatz Gegenvorstellung erhoben wurde.
41
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte samt Protokoll über die mündliche Verhandlung und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).
Entscheidungsgründe
42
I. Eine Änderung des Rubrums ist in der vorliegenden Sache nicht veranlasst. Insbesondere wird der Kläger gesetzlich von beiden Elternteilen vertreten. Der Bevollmächtigte hat diesbezüglich die Kopie einer bei der Stadt … aufgenommenen Urkunde vom … über die Sorgeerklärung nach § 1626a BGB zur Gerichtsakte übergeben.
43
II. Die Streitsache ist entscheidungsreif. Soweit der Bevollmächtigte mit Schriftsatz vom 07.12.2022 gegen den Beschluss des Gerichts vom 22.11.2022 Gegenvorstellung (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 20.11.2017 - 11 ZB 17.31318 - juris) erhoben hat, führen die darin enthaltenen Ausführungen bei nochmaliger Überprüfung nicht dazu, dass eine Beweiserhebung veranlasst wäre. Soweit gerügt wurde, dass die im Beschluss vom 22.11.2022 erwähnten bzw. in Bezug genommenen (Primär-)Quellen teils nicht mehr aktuell seien, ist diese Kritik unsubstantiiert geblieben. Es wird nicht dargelegt, welche Erkenntnismittel aus welchen Gründen nicht mehr herangezogen werden könnten. Unabhängig davon liegt auf der Hand, dass auch Auskunftsmittel, die im Zeitverlauf durch anderweitige Quellen „überholt“ sind, durchaus insoweit noch von Bedeutung sein können, als damit die Entwicklung in Äthiopien nachvollzogen werden kann.
44
Soweit der genannte Journalist weiterhin „ständigen“ Kontakt zu Personen und humanitären Organisation in Äthiopien habe, so dass seine Informationen aktuell seien und soweit ausgeführt wird, dass tatsächlich keine Geldleistungen im Rahmen der JRS-Hilfen erbracht würden, kann dies für das hiesige Verfahren als zutreffend unterstellt werden (vgl. hierzu weiter unten, S. 21/22).
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III. Über die Klage kann ohne (weitere) mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) entschieden werden, da der Bevollmächtigte des Klägers durch Erklärung in der mündlichen Verhandlung vom 04.11.2022 auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichtet hat (S. 8 des Protokolls). Die entsprechende schriftsätzliche Erklärung des Bundesamts datiert vom 29.11.2022. Die prozessuale Vorgehensweise war in der mündlichen Verhandlung mit der erschienenen Klägerseite einvernehmlich skizziert worden (vgl. S. 8 des Protokolls).
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IV. Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der angegriffene Bescheid vom 20.01.2022 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Dieser hat keinen Anspruch auf die mit der Klage geltend gemachten Rechtspositionen. Das Bundesamt hat vielmehr insbesondere den Asylantrag zu Recht abgelehnt. Rechtlich nicht zu beanstanden ist ferner die Verneinung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Auch im Übrigen erweist sich der angefochtene Bescheid als rechtmäßig.
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In der Sache selbst schließt sich das Gericht zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen zunächst im Wesentlichen den Gründen des angefochtenen Bescheides an und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend ist zur Sache sowie zur Klage das Folgende auszuführen:
48
1. Eine konkret individuelle Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a AsylG in Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund des § 3b AsylG hat der gegenwärtig ein Jahr alte Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.
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Soweit eine sippenhaftartige Einbeziehung des Klägers in die Verfolgung der Mutter geltend gemacht wurde, kann dies der Klage nicht zum Erfolg verhelfen.
50
Wie von der Klägerseite geltend gemacht, ergibt sich aus der für die Mutter des Klägers geführten Akte des Bundesamts, dass diese exilpolitisch aktiv gewesen war bzw. ist. Sie hat sich insbesondere für die TBOJ/UOSG engagiert (vgl. etwa Gz. …, S. 128 ff.). In der mündlichen Verhandlung hat die Mutter des Klägers erläutert, die Gruppe, der sie damals angehört habe, habe sich dann aufgelöst gehabt. Einige Mitglieder der Gruppe hätten sich der neuen Regierung von Abiy Ahmed angeschlossen. Andere Mitglieder dieser alten Gruppe hätten damit angefangen, eine neue Organisation zu gründen. Dann sei jedoch die Covid-Pandemie gekommen. Man sei aber immer noch dabei, eine neue Organisation auf die Beine zu stellen und wolle das exilpolitische Engagement fortführen. Sie erklärte weiter, es gebe Leute, die ihre Meinung teilen würden und die Mutter des Klägers sei damit beschäftigt, diese Leute zu sammeln. Man wolle sich weiter für die Befreiung von Or. einsetzen. Konkret angesprochen auf ihren aktuellen eigenen Beitrag, erklärte sie, sie versuche, die Leute zu organisieren, dass sie zusammenkämen. Sie bringe die Leute auch zusammen. Sie seien nun schon 40 Leute, die aus ganz Deutschland stammten, also Bayern und z.B. auch Frankfurt. Es gebe eine Person aus München, der die ganze Angelegenheit koordiniere, der versuche, die Organisation zu festigen. Derzeit sei es die ganz konkrete Aufgabe der Mutter des Klägers, Leute anzusprechen. Weitere Aufgaben habe sie diesbezüglich nicht (vgl. S. 2 des Protokolls).
51
Es ist in keiner Weise ersichtlich, dass die Mutter des Klägers bei einer Rückkehr nach Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Repressionen des äthiopischen Regimes (oder anderer Kräfte) wegen ihrer hiesigen exilpolitischen Tätigkeit zu erwarten hätte. Insbesondere ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass sie von äthiopischen Stellen als gefährliche Oppositionelle wahrgenommen würde, die deshalb mit Repressalien rechnen müsste. Ihr exilpolitisches Engagement bewegt sich im Rahmen dessen, was bei zahlreichen ihrer Landsleute festzustellen ist bzw. war (Mitgliedschaft in einer exilpolitischen (Oromo-) Organisation; Teilnahme an Demonstrationen und Veranstaltungen sowie deren Mitgestaltung und Organisation; Veröffentlichung von Beiträgen in einschlägigen Druckwerken/im Internet, usw.). Es kann vorliegend mangels jeglicher Anhaltspunkte nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass äthiopische Stellen die Mutter des Klägers als vermeintliche Unterstützerin der OLA ansehen (und deshalb mit Repressionen überziehen würden).
52
Aus den in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnismitteln lässt sich nicht der Schluss ableiten, dass für die Mutter des Klägers aufgrund ihrer vergangenen exilpolitischen Tätigkeit und ihres geschilderten aktuellen Engagements die beachtliche Gefahr von Repressalien bei hypothetischer Rückkehr bestünde. Solches lässt sich insbesondere nicht aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.01.2022 oder dem Positionspapier des UNHCR von März 2022 folgern. Auch die fortlaufende Berücksichtigung der Briefing Notes des Bundesamts, die die Lage jeweils sehr aktuell widerspiegeln (vgl. im Einzelnen S. 3 der Auskunftsliste Äthiopien, Stand: Oktober 2022 II), führt zu keinem anderen Ergebnis. Dabei werden in den Briefing Notes durchaus auch immer wieder kritische Entwicklungen aufgegriffen, auch in Bezug auf die Rückkehr von Äthiopiern in ihr Heimatland, wie etwa die Behandlung von zurückgekehrten tigrinischen Arbeitsmigranten in einer „kritischen“ Phase des Tigray-Konflikts (vgl. Briefing Notes vom 10.01.2022).
53
Auch die weiteren in das Verfahren eingeführten aktuellen Quellen, so etwa der Beitrag von Human Rights Council vom 19.09.2022 oder der Bericht der Bertelsmann Stiftung BTI 2022 Country Report, die sich u.a. mit der inmitten stehenden Thematik befassen oder ferner die Beiträge von ACLED und dem Home Office, jeweils von März 2022, können die vom Kläger vertretene Auffassung nicht stützen. Die Klägerseite hat unabhängig davon schon nicht substantiiert dargelegt, aus welchen Erkenntnismitteln sie in der gegenwärtigen Situation die Befürchtung ableiten möchte, dass die Mutter des Klägers wegen ihrer exilpolitischen Tätigkeit Repressalien zu befürchten hätte und dass der Kläger einbezogen werden würde. Auch im Zuge der Gegenvorstellung zum Beschluss des Gerichts vom 22.11.2022, mit dem Beweisanträge abgelehnt wurden, hat die Klägerseite nichts Substantiiertes dargetan, das einen abweichenden Befund oder die Notwendigkeit einer Beweiserhebung nahelegen würde.
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2. Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf subsidiären Schutz gem. § 4 AsylG zu. Trotz der vorherrschenden Unruhen ist es angesichts der Größe Äthiopiens nicht einmal ansatzweise erkennbar, dass es sich um landesweite oder doch zumindest weite Teile des Heimatlandes des Klägers (zur Tigray-Region siehe sogleich) betreffende anhaltende Unruhen handelt, die zu einer ernsthaften individuellen Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit Unbeteiligter führen könnten. Ob die Unruhen bzw. kriegerischen Auseinandersetzungen in der Region Tigray (noch) die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG erfüllen, kann vorliegend dahinstehen, da der Kläger bzw. seine Eltern nicht aus der Region Tigray stammen, die tigrinische Sprache nicht sprechen und auch keine tigrinischen Volkszugehörigen sind. Von einer Rückkehr in die Tigray-Region bzw. einer dortigen Niederlassung ist mithin keinesfalls auszugehen. Vorliegend kommt vor allem in Betracht, dass sich die Eltern des Klägers in Ad. Ab.bzw. dem zugehörigen Umfeld oder in einer anderen urbanen Region in Or. niederlassen. Insbesondere hat die Mutter des Klägers bereits vor ihrer Ausreise aus Äthiopien in Ad. Ab.gelebt, dort ein Gymnasium besucht und war später auch beruflich tätig gewesen (vgl. etwa Gz. …, Bl. 22/23, 165), so dass ihr das dortige Umfeld geläufig ist. Auch der Vater des Klägers ist im Umfeld von Ad. Ab., nämlich im Ort S. (teilweise ist auch von „S.“ die Rede) - einer Kleinstadt mit knapp 20.000 Einwohnern - aufgewachsen, und ist in Ad. Ab.zur Schule gegangen (vgl. etwa Gz. …, Bl. 13/14 und https://mapcarta.com/de/ … - vgl. S. 6 der Auskunftsliste Äthiopien, Stand Oktober 2022 II). Legt man dies zugrunde, erscheint eine Niederlassung der beiden Elternteile im Großraum Ad. Ab.naheliegend, es kommt aber auch eine andere Stadt/urbane Region in Or. in Betracht.
55
Es gibt keine greifbaren Hinweise, dass die Lage im Bereich von Ad. Ab.(oder in einer anderen Stadt/urbanen Region Or.s) die im Rahmen von § 4 AsylG anzulegende Schwelle auch nur ansatzweise erreichen würde. Beispielsweise wird in den eingeführten Quellen davon berichtet, dass die in Ad. Ab.verzeichneten Gewaltereignisse - drei von 202 erfassten Zwischenfällen im Jahr 2021 - sehr gering sind. Für die angrenzenden Regionen gilt dieser Befund zwar nicht in gleicher Weise, sondern dort wurden zahlenmäßig mehr Vorfälle registriert (vgl. zum Ganzen Home Office, Country Policy and Information Note von März 2022, z.B. S. 53 ff.), doch sind auch die anderweitig ausgewiesenen Zahlen angesichts der Größe und der vielen Einwohner von Or. nicht im Ansatz dazu geeignet, einen Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 Asyl darzutun. Aus den weiteren Erkenntnismitteln (vgl. z.B. den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.01.2022, die eingeführten Briefing Notes des Bundesamts oder auch die von Accord zusammengestellte Übersicht vom 30.05.2022) ergibt sich kein abweichender rechtlicher Befund. Dabei wird nicht verkannt, dass die Lage in einigen Bereichen Or.s keineswegs als durchgehend „ruhig und friedlich“ beschrieben werden kann, so wird etwa von landesweit 384 Konfliktvorfällen in 2021 berichtet, die in die Kategorie „Gewalt gegen Zivilpersonen“ fallen, wobei eben eine sehr unterschiedliche regionale Betroffenheit festzustellen ist. So wird für Or. von insgesamt 1911 Todesopfern berichtet, während in Ad. Ab.glücklicherweise nur zwei Opfer zu beklagen gewesen waren. Für den oromoischen Ort S. (S.*), der nahe der Hauptstadt Ad. Ab.gelegen ist, wurden gar keine Vorfälle registriert; anders liegen die Dinge dagegen für den Ort S. (teilweise wird diesbezüglich auch von „S.“ gesprochen), der Herkunftsregion der Familie (mütterlicherseits) der Mutter des Klägers (vgl. S. 5 des Protokolls und Bl. 567 der für die Mutter des Klägers geführten Ausländerakte), wobei die familiäre Verbindung nach S. jedoch ohnehin abgerissen sein soll (vgl. S. 5/6 des Protokolls und zur Thematik die von Accord zusammengestellte o.g. Kurzübersicht von März 2022). Auch in diesem Punkt ergibt sich aus den Ausführungen der Klägerseite in der Gegenvorstellung vom 07.12.2022 weder die Notwendigkeit einer Beweiserhebung noch hat der Kläger in substantiierter Weise Aspekte vortragen lassen, die ein anderes Ergebnis rechtfertigen könnten. Dass S. in …liegt, hat das Gericht dem Verfahren ohnehin zugrunde gelegt.
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3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Bei der Prüfung eines Abschiebungsverbotes aus humanitären Gründen im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG ist ein „sehr hohes Niveau“ anzulegen und eine „besondere Ausnahmesituation“ erforderlich. Nur in „ganz außergewöhnlichen Fällen“, nämlich wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung mit Bild auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung „zwingend“ sind, liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vor (BVerwG, B. v. 22.09.2020 - 1 B 39.20 - juris; BVerwG, U.v. 04.07.2019 - 1 C 45.18 - juris; BVerwG, B. v. 08.08.2018 - 1 B 25.18 - juris; BayVGH, U. v. 12.12.2019 - 8 B 19.31004 - juris; BayVGH, B. v. 28.07.2022 - 23 ZB 22.30547).
57
Dies ist der Fall, wenn der Schutzsuchende seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält oder sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre psychische oder physische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist bereits dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können, wobei zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten auch Tätigkeiten zählen, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison, ausgeübt werden können, selbst wenn diese Bereiche der so genannten „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ angehören (BVerwG, B. v. 19.01.2022 - 1 B 83.21 - juris; BayVGH, B. v. 28.07.2022 - 23 ZB 22.30547). Maßstab für die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit, das heißt bei einer auf absehbare Zeit ausgerichteten Zukunftsprognose muss aufgrund einer sorgfältigen Würdigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls mehr für als gegen die Annahme sprechen, der Betreffende werde bei seiner Rückkehr einer Behandlung im oben dargelegten Sinne ausgesetzt sein (BVerwG, U.v. 04.07.2019 - 1 C 33/18 - juris, BayVGH, B. v. 28.07.2022 - 23 ZB 22.30547).
58
Gemessen daran ist beim Kläger ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht festzustellen. Bei einer realitätsnahen Rückkehrprognose ist davon auszugehen, dass der Kläger nicht alleine abgeschoben oder „zurückkehren“ wird, sondern zusammen mit seiner Mutter, deren Asylverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. Weiter in die Rückkehrprognose einzubeziehen ist der Vater des Klägers, der zwar mit diesem und der Kindsmutter nicht in häuslicher Gemeinschaft lebt, jedoch regelmäßig Umgang mit dem Kläger ausübt und dessen Asylverfahren ebenfalls rechtskräftig abgeschlossen ist; ihm wurde - wie auch dem Kläger und seiner Mutter - die Abschiebung nach Äthiopien angedroht. Auf die neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die bei Vorliegen einer in familiären Gemeinschaft lebenden Kernfamilie im Regelfall auch dann - bei realitätsnäher Betrachtung - von einer Rückkehr im Familienverband ausgeht, wenn z.B. einem Familienmitglied ein Schutzstatus zuerkannt worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 04.07.2019 - 1 C 45.18 - juris), kommt es in der vorliegenden Sache nicht an, nachdem hier weder dem Kläger noch einem seiner Elternteile ein Schutzstatus o.ä. zugesprochen wurde.
59
Vorliegend ist es sowohl der Mutter des Klägers als auch dem Vater möglich, in Äthiopien eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, mit der der Lebensunterhalt auch für den Kläger gesichert werden kann. Der Kläger ist zwar noch ein Kleinkind, doch hat er das erste Lebensjahr bereits vollendet. Es ist nicht ersichtlich, dass das Alter des Klägers der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit entgegenstünde. Nach der Auskunftslage ist selbst im Falle von alleinstehenden Frauen nicht anzunehmen, dass diese nicht in der Lage wären, den Lebensunterhalt für sich und ein minderjähriges Kind zu sichern. Erwerbsmöglichkeiten bestehen grundsätzlich auch für Personen ohne abgeschlossene Schulbildung (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stuttgart vom 13.07.2017 - Gz. …*). Für die Mutter des Klägers kommt hinzu, dass diese mit dem Abschluss der 12. Klasse eines Gymnasiums nicht nur über eine sehr ordentliche Schulbildung verfügt, sondern auf ihre Erfahrungen zurückgreifen kann, die sie anlässlich früherer Erwerbstätigkeit gesammelt hat. Sie hat sowohl bei ihrem Vater im Lebensmittel(groß)handel mitgeholfen als auch einen eigenen kleinen Musikladen betrieben (vgl. Gz. …, Bl. 23, 44, 165/166). Einen geschäftstüchtigen, mindestens sehr engagierten Eindruck hat die Mutter des Klägers auch im hiesigen Verfahren hinterlassen, sie hat in Deutschland etwa verschiedene (Putz-)Tätigkeiten ausgeübt und Praktika absolviert, in denen sie einen fleißigen Eindruck hinterlassen hat und auch in der mündlichen Verhandlung hat sie ihre Bereitschaft bekräftigt, wieder etwas arbeiten zu wollen (vgl. S. 3 des Protokolls, s. ferner etwa Bl. 138 ff., 163 ff., 176 ff., 198 ff., 254 ff., 322, 332, 470 ff., 587 f., 592, 610, 702 f. der für die Mutter des Klägers geführten Ausländerakte). In sprachlicher Hinsicht hat sich die Mutter des Klägers bisher ebenfalls durchaus engagiert gezeigt, hat in Bezug auf die deutsche Sprache das Niveau B1 erreicht (vgl. Bl. 612 der für die Mutter des Klägers geführten Ausländerakte). Dass bei der Mutter des Klägers in nächster Zeit womöglich erneut ein Myom entfernt werden muss, spricht nicht gegen die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in Äthiopien. Sie hat davon berichtet, bereits früher wegen eines Myoms für fünf Tage im Krankenhaus gewesen zu sein (S. 7 des Protokolls). Nach den in das Verfahren eingeführten Erläuterungen einer Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe ist im Falle der operativen Entfernung eines Myoms in der Regel nur ein kurzer Krankenhausaufenthalt von zwei bis drei Tagen erforderlich. Soweit schriftsätzlich einmal eine schmerzhafte Erkrankung der Hals- und Lendenwirbelsäule der Mutter des Klägers ins Spiel gebracht worden war, hat sich dieser Befund in der mündlichen Verhandlung nicht bestätigt, sondern es sei vielmehr der Vater des Klägers, der Probleme mit dem Rücken habe (vgl. S. 6/7 des Protokolls). Es tue ihm weh, wenn er sich bücke und wieder geradestehe; Krankengymnastik habe nichts gebracht. Der Vater des Klägers könne keine schweren Sachen schleppen oder etwas Schweres körperlich arbeiten. Unabhängig davon, dass eine Erkrankung des Vaters des Klägers nicht durch aussagekräftige Unterlagen belegt wurde - überdies auch nicht schon bereits im eigenen Asylverfahren des Vaters thematisiert worden war -, ist nicht ersichtlich, dass der Vater des Klägers nicht in der Lage wäre, durch eigene Arbeitstätigkeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und zum Unterhalt des Klägers beizutragen. Er hat die Schule bis zur 10. Klasse besucht und verfügt damit über eine solide Schulbildung (vgl. Gz. …, Bl. 58 und Bl. 146). Gegen diesen Befund kann nicht mit Erfolg eingewandt werden, dass der Vater des Klägers in Äthiopien - worauf mit der Klage zu Recht hingewiesen worden war - (noch) keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sei; er sei quasi „von der Schule weg aus dem Land“ ausgereist (vgl. S. 2 des Schriftsatzes vom 15.02.2022). Denn andererseits werden dem in Äthiopien aufgewachsenen Vater des Klägers, der wie bereits ausgeführt nahe Ad. Ab.großgeworden ist und dort die Schule besucht hat, die landestypischen Gepflogenheiten durchaus bekannt sein, so dass er sich prognostisch wird auf dem Arbeitsmarkt etablieren können.
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In Sachen Kinderbetreuung können sich die Mutter und der Vater des Klägers gegenseitig ergänzen und unterstützen, so wie dies auch bereits in Deutschland der Fall ist, selbst wenn sie - wie hier in Deutschland - keine gemeinsame Wohnung/kein gemeinsames Zimmer haben und dies - was dem vorliegenden Verfahren zugrunde gelegt wird - auch in Äthiopien so fortführen werden (vgl. S. 8/9 des Beschlusses vom 22.11.2022). Eine Niederlassung des Vaters des Klägers in räumlicher Nähe zum Kläger und seiner Mutter (wenn auch mit separater Unterkunft) ist prognostisch zu erwarten, damit - wie auch in Deutschland - der Vater den Umgang mit dem Kläger ausüben kann. Solches erscheint vorliegend nicht zuletzt deshalb auch realistischereise umsetzbar, nachdem beide Elternteile einen Bezug zu Ad. Ab.und Umgebung haben, wohingegen der Bezug zu den ferner gelegeneren Herkunftsgebieten der Großelternteile des Klägers abgerissen sein soll bzw. für das vorliegende Verfahren insbesondere als wahr unterstellt wird, dass die beiden Schwestern des Vaters des Klägers nicht mehr in Äthiopien leben und der Verbleib der Mutter des Vaters des Klägers unbekannt ist (vgl. S. 9 des Beschlusses vom 22.11.2022).
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Mit zu berücksichtigten ist überdies, dass der Kläger (und seine beiden Elternteile) erhebliche Rückkehrhilfen beanspruchen können. Aus dem sog. REAG/GARP-Programm können bei freiwilliger Rückkehr die Reisekosten übernommen werden. Vor allem aber können Rückkehrer eine finanzielle Unterstützung für die Reise (sog. Reisebeihilfe) sowie eine einmalige finanzielle Starthilfe erhalten, nämlich 1.000,00 EUR für volljährige und 500,00 EUR für minderjährige Personen, pro Familie maximal 4.000,00 EUR.
62
Weiterhin können Rückkehrer nach Äthiopien auch Unterstützung aus dem Programm „StarthilfePlus“ beantragen, worauf das Bundesamt die Klägerseite ebenfalls bereits mit der Zuleitung des Bescheids vom 20.01.2022 hingewiesen hatte (Bl. 78 ff.). In dieser Beziehung erhalten Rückkehrer, die mit dem REAG/GARP-Programm ausreisen und eine Starthilfe bekommen, weitere finanzielle Unterstützung. Es handelt es sich um eine „2. Starthilfe“, die nach sechs bis acht Monaten eingreift. Schließlich können der Kläger bzw. dessen Eltern auf spezielle „Rückkehrvorbereitende Maßnahmen“ (RkVM) zurückgreifen. Diese bereiten Rückkehrer auf die Existenzgründung vor, es werden fachspezifische (Online-)Coachings und Workshops in verschiedenen Sprachen angeboten. Die Beratung soll vor allem die unternehmerische Kompetenz der Teilnehmer stärken, so dass sie auf eine Existenzgründung nach der Rückkehr in ihr Herkunftsland besser vorbereitet sind. Daneben können die Teilnehmer auch weitere individuelle Anliegen mit Blick auf ihre berufliche Reintegration einbringen. Die Teilnehmer werden von mehrsprachigen Trainern gecoacht und sozialpädagogisch begleitet. Nachdem die Mutter des Klägers bereits früher in Äthiopien selbständig tätig gewesen sein möchte, dürfte sich die fruchtbringende Inanspruchnahme dieses Programms gerade durch ihre Person anbieten.
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Aufgrund der damit bereits bestehenden Fülle an Rückkehrhilfen und der sich im hiesigen Verfahren darbietenden Konstellation bei Rückkehr kann zugunsten der Klägerseite unterstellt werden, dass über das JRS-Programm derzeit und auf absehbare Zeit keine Hilfen in Anspruch genommen werden können, auch nicht ersatzweise als Geldleistung (vgl. Beweisantrag 4 und Gegenvorstellung vom 07.12.2022). Einer dahingehenden Beweiserhebung bedarf es folglich nicht.
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Es liegt vielmehr auf der Hand, dass die genannten und verfügbaren Rückkehrhilfen und Leistungen aus den Programmen gerade in der Anfangszeit nach der Rückkehr und vor dem Hintergrund der humanitären Lage in Äthiopien und den teilweise noch anhaltenden Auswirkungen der Corona-Pandemie mit dazu beitragen, dass der Kläger mit seiner Mutter wie auch der Vater im Falle der Rückkehr in Äthiopien Fuß fassen kann. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich der Kläger nicht darauf berufen kann, dass die genannten Hilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten - wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr - im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U. v. 15.04.1997 - 9 C 38.96 - juris). Dementsprechend ist es dem Kläger (und seinen Eltern) möglich und zumutbar, gerade zur Überbrückung der ersten Zeit nach einer Rückkehr nach Äthiopien freiwillig Zurückkehrenden gewährter Hilfe in Anspruch zu nehmen.
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Daneben gibt es keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Versorgungslage in Äthiopien - auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen und Verschärfungen u.a. durch die Corona-Pandemie, Dürre-/Überschwemmungsereignisse, den Tigray-Konflikt und die Heuschreckenplage sowie jüngst des Russland-Ukraine-Kriegs - gegenwärtig außerhalb der Tigray-Region und angrenzender Gebiete des nördlichen Äthiopiens derart desolat wäre, dass dem Kläger der Hungertod oder schwerste Gesundheitsschäden in Folge von Mangelernährung drohten. Eine solche Zuspitzung der Situation ist bei Niederlassung des Klägers außerhalb des aktuellen Krisenherdes in Nordäthiopien nicht anzunehmen. Dabei ist nicht zuletzt zu würdigen, dass erhebliche Hilfsgelder - nicht zuletzt auch von Deutschland - bereitgestellt werden. Allerdings trifft es durchaus zu, dass der Konflikt im Tigray nicht ohne Auswirkungen auf die anderen Regionen in Äthiopien bleibt, so etwa durch Binnenfluchtbewegungen.
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Es gibt jedoch keine belastbaren Hinweise, dass sich die humanitäre Lage in den anderen Regionen in Äthiopien aktuell als derart prekär darstellen würde, dass bei einer Rückkehr des Klägers die anzulegende Gefahrenschwelle des § 60 Abs. 5 AufenthG oder des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. hierzu näher unten) erreicht würde. Insbesondere prognostiziert USAID auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse für Ad. Ab.und die angrenzenden oromischen, vor allem westlich und nördlich davon gelegenen Gebiete aktuell für Januar 2023 nur eine minimale Unsicherheit betreffend die Versorgungslage mit Lebensmitteln (vgl. USAID - Fact Sheet # 2 und #3 - Horn of Africa, Complex Emergency, 19.8.2022 und 21.9.2022 sowie Fact Sheet #1 (Fiscal Yerar (FY) 2023), 21.10.2022 mit Übersichtskarte „USG Response to the Complex Emergency und Übersicht „Ethiopia Assistance Overview“ v. September 2022).
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Zu einer gewissen Entspannung der weltweiten Situation in Bezug auf die Nahrungsmittelsituation trägt auch der „Weizen-Deal“ bei, der den Export von Getreide u.a. aus der Ukraine ermöglicht. Auf dessen Grundlage konnte bereits eine erhebliche Menge an Gütern aus der Ukraine ausgeführt und für den Weltmarkt verfügbar gemacht werden; auch Äthiopien profitiert von den Exporten auf der Basis dieses „Deals“, sei es allgemein durch eine bessere Versorgung des Weltmarkts, aber eben auch durch gezielte Lieferungen für das Land (vgl. etwa https://www.n-tv.de/politik/Weitere-drei-Frachter-verlassen-Ukraine-article23508208.html; https://taz.de/Aethiopien-wartet-auf-Weizenlieferungen/!5873739/; https://www.reuters.com/article/ukraine-crisis-grains-un-idAFL1N3180QJ oder jüngst https://www.welt.de/politik/ausland/article242179943/Ukraine-Getreideabkommen-wird-120-Tage-verlaengert-Bundesregierung-finanziert-Transport.html und hierzu Beschluss des Gerichts vom 22.11.2022, in dem auf den Umstand hingewiesen wurde, dass die deutsche Bundesregierung Kostenübernahme für die Lieferung von Weizen nach Äthiopien angekündigt hat).
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Dass Äthiopien (weiterhin) auch auf die finanzielle Unterstützung anderer Staaten bzw. Organisationen bauen kann, wird anhand verschiedener eingeführter Quellen deutlich. So hat etwa Österreich weitere Hilfsgelder bereitgestellt (vgl. https://www.bmeia.gv.at/ministerium/presse/aktuelles/2022/10/8-millionen-euro-aus-auslandskatastrophenfonds-fuer-ostafrika-und-den-jemen/) und zahlenmäßig erhebliche Mittel werden von der EU sowie von USAID zur Verfügung gestellt (https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/eu-abgeordnete-draengen-auf-mehr-humanitaere-hilfe-fuer-horn-von-afrika; https://disasterphilanthropy.org/disasters/ethiopia-tigray-crisis - beispielsweise hat danach USAID am 27.07.2022 weitere 448 Mio. USD humanitäre Unterstützung für Äthiopien angekündigt).
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Soweit die Klägerseite die Behauptung aufgestellt hat, dass ein alleinstehender Rückkehrer derzeit in Ad. Ab.einen Betrag von mindestens 600,00 EUR monatlich für Unterkunft und Nahrung im überlebensnotwendigen Umfang aufbringen müsse und dieser Betrag sich bei einer Mutter mit Kind auf ca. 900,00 EUR erhöhe - mit der Gegenvorstellung vom 07.12.2022 wurde bezüglich der Wohnkosten auf ZIRF-Auskünfte verwiesen, ohne solche konkret zu benennen oder vorzulegen - sind die Ausführungen nach wie vor unsubstantiiert geblieben und befassen sich auch nicht mit den Ausführungen im Beschluss des Gerichts vom 22.11.2022. Es mag durchaus zutreffen, dass bei Ansetzung eines entsprechenden (Wohn-) Niveaus derartige Kosten in Ad. Ab.zu erwarten sind. Der Kläger bzw. dessen Eltern sind jedoch - sollte eine Niederlassung in Ad. Ab.erfolgen - auf die Inanspruchnahme von einfachen Wohngelegenheiten zu verweisen, gerade in der Anfangszeit nach der Rückkehr, ggf. auch in weniger attraktiven Lagen oder im Umland unter Inkaufnahme von längeren Wegen zur Arbeit. Ggf. kommt auch eine (temporäre) Niederlassung in einer anderen urbanen Region in Äthiopien in Betracht. Soweit es um die Kosten der Lebenshaltung geht, liegt ebenfalls auf der Hand, dass das Lohnniveau wie in vielen anderen Ländern unter anderem mit den sich darbietenden Lebenshaltungskosten korreliert. Es gibt indessen in den eingeführten Erkenntnismitteln keine Hinweise, dass etwa die arbeitende Wohnbevölkerung in Ad. Ab.und Umgebung nicht in der Lage wäre, die Miet- und sonstigen Lebenshaltungskosten aufzubringen, was beispielsweise an weitverbreiteter Obdachlosigkeit einerseits, mindestens deutlich steigender Schuldenquote bzw. abnehmender Vermögensquote und leerstehendem teurem Wohnraum andererseits ablesbar sein könnte. Auch die Klägerseite hat diesbezüglich keine Quellen benannt, die eine derartige drastische Entwicklung aufzeigen würden.
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Bei zusammenfassender Würdigung ist festzustellen, dass aufgrund der hier gegebenen Umstände des konkreten Einzelfalls des Klägers und seiner beiden Elternteile nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass der Kläger und seine Eltern trotz der insgesamt schwierigen humanitären Verhältnisse in Äthiopien nicht in der Lage sein werden, das notwendige Existenzminimum zu sichern. Dabei wird nicht übersehen, dass viele Menschen in Äthiopien auf Hilfe von dritter Seite angewiesen sind und das Land sich mit zahlreichen Problemen konfrontiert sieht (u.a. Arbeitslosigkeit, Nahrungsmittelknappheit, eingeschränkte Gesundheitsversorgung, fortbestehende ethnische Konflikte sowie der teilweise auf die angrenzenden Regionen übergreifende Tigray-Konflikt [wobei diesbezüglich zuletzt Tendenzen der Entspannung festzustellen sind, nachdem ein Waffenstillstand vereinbart wurde - vgl. hierzu die in der mündlichen Verhandlung eingeführten Quellen], Corona-Pandemie, Heuschreckenplage und nicht zuletzt die Folgen des Russland-Ukraine-Kriegs). Gleichwohl gibt es jedoch keine durchgreifenden Hinweise darauf, dass die Versorgungslage in Äthiopien gegenwärtig außerhalb der Tigray-Region und angrenzender Gebiete des nördlichen Äthiopiens derart desolat wäre, dass dem Kläger der Hungertod oder schwerste Gesundheitsschäden in Folge von Mangelernährung drohten (vgl. auch BayVGH, B.v. 28.7.2022 - 23 ZB 22.30547). Die im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzulegende (Gefahren-)Schwelle wird nach alledem nicht erreicht.
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4. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
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Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Fehlt eine politische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, kann ein Ausländer im Hinblick auf die (allgemeinen) Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach diesem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad muss eine Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 - 1 C 5.01 - juris). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage den baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 29.9.2011 - 10 C 24.10 - juris; BayVGH, U.v. 12.12.2019 - 8 B 19.31004 - juris; VG Würzburg, Gb.v. 11.5.2020 - 8 K 20.50114 - juris).
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Die allgemein unsichere oder wirtschaftlich schlechte Lage im Zielstaat infolge von Hungersnöten, Naturkatastrophen oder Epidemien - und damit auch infolge der Verbreitung des Coronavirus bzw. der Ausbreitung der Heuschrecken in Äthiopien - begründet derartige Gefahren allgemeiner Art nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, weil ihr die gesamte Bevölkerung oder eine ganze Bevölkerungsgruppe des betroffenen Landes (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß) ausgesetzt ist (vgl. Kluth/Heusch in: BeckOK AuslR, § 60 AufenthG, Rn. 38 ff.; VG Würzburg, U.v. 3.7.2020 - W 3 K 19.31666 - juris; VG Würzburg, B.v. 3.12.2020 - W 3 S 20.31209 - juris).
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Es ist für das Gericht aber nicht ersichtlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien einer Extremgefahr im vorstehenden Sinne, die die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung durchbrechen könnte, ausgesetzt wäre. Im Übrigen sind - wie oben ausgeführt - schon nicht die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK gegeben, da es sich vorliegend nicht um einen „ganz außergewöhnlichen Fall“ bzw. um eine „besondere Ausnahmesituation“ handelt. Daher ist eine „Extremgefahr“ im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG erst recht nicht gegeben.
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V. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.