Titel:
Keine Aufenthaltserlaubnis für nigerianische Asylbewerberin trotz Aufenthaltsrechts sui generis aus Art. 20 AEUV
Normenketten:
AEUV Art. 20
AufenthG § 10, § 28
AufenthV § 39
Leitsätze:
1. Unter einem gesetzlichen Anspruch iSv § 10 Abs. 3 S. 3 AufenthG versteht man einen strikten Rechtsanspruch, der sich unmittelbar aus dem Gesetz ergeben muss und bei dem alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen der Anspruchsnorm erfüllt sein müssen. Es genügt insoweit nicht, wenn sich ein Anspruch lediglich aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null oder aufgrund einer gesetzlichen Soll-Regelung ergibt (BVerwG BeckRS 2016, 41159). (Rn. 12) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Ein aus Art. 20 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht sui generis wird einem Ausländer lediglich deklaratorisch bescheinigt; es handelt sich insoweit um keine Aufenthaltserlaubnis nach nationalem Recht, sondern um eine Bescheinigung eigener Art, die die Anwendung von § 39 S. 1 Nr. 1 AufenthV ausschließt (vgl. BVerwG BeckRS 2018, 18382). (Rn. 14) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht ist gegenüber einer nationalen Aufenthaltsregelung nachrangig und kommt nur dann in Betracht, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des Familiennachzugs nach nationalem Recht nicht erfüllt. Dieses Nachrangverhältnis würde beseitigt, wenn durch Anwendung von § 39 S. 1 Nr. 2 AufenthV der unionsrechtliche Anspruch Grundlage für die Einholung der nationalen Aufenthaltserlaubnis im Inland und so in der Sache in einen nationalen Rechtsanspruch umgewandelt würde (OVG Koblenz BeckRS 2021, 809). (Rn. 15) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. § 39 S. 1 Nr. 5 AufenthV setzt voraus, dass die Abschiebung des Ausländers aus anderen Gründen als denjenigen, die den Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stützen sollen, ausgesetzt ist (VGH München BeckRS 2020, 14546). (Rn. 16) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Prozesskostenhilfe, Aufenthaltsrecht „sui generis“, kein nationaler Aufenthaltstitel, Anwendbarkeit des § 39 AufenthV (verneint), nigerianische Staatsangehörige, minderjähriges Kind, Aufenthaltsrecht sui generis, Unionsrecht, nationaler Aufenthaltstitel, Familiennachzug, Titelerteilungssperre
Fundstelle:
BeckRS 2022, 36778
Tenor
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Gründe
1
Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der Personensorge für ihr minderjähriges Kind, das die deutsche Staatsangehörigkeit hat.
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Die Klägerin ist nigerianische Staatsangehörige. Ihr Asylverfahren ist unanfechtbar abgeschlossen. Nach Abschluss des Asylverfahrens wurde sie zunächst geduldet, da sie Mutter eines Kindes mit deutscher Staatsangehörigkeit wurde.
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Am 21. Oktober 2020 bescheinigte die Beklagte der Klägerin ein sog. Aufenthaltsrecht sui generis aufgrund von Art. 20 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) im Hinblick auf das von der Beklagten bejahte besondere Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Klägerin und ihrem Sohn. Ein zu diesem Zeitpunkt beim Verwaltungsgericht Bayreuth anhängiges Klageverfahren (B 6 K 19.564) wurde daraufhin eingestellt, nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt hatten. Der Klägerin wurde ein elektronischer Aufenthaltstitel mit Gültigkeit bis 18. Juni 2023 ausgestellt.
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Mit Schreiben vom 20.08.2021 beantragte die Klägerbevollmächtigte bei der Beklagten die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG.
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Mit Bescheid vom 01.12.2021 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Der Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis stehe die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 AufenthG entgegen. Ein strikter Rechtsanspruch auf einen Aufenthaltstitel, welcher die Titelerteilungssperre gemäß § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG überwinde, liege nicht vor, weil die Klägerin nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist sei. Von dem Visumerfordernis sei die Klägerin auch nicht gemäß § 39 AufenthV befreit. Insbesondere sei § 39 Satz 1 Nr. 2 AufenthV nicht einschlägig. Diese Vorschrift betreffe Ausländer, welche ursprünglich vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit gewesen und während ihres rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet dann titelpflichtig geworden seien. Die Klägerin sei jedoch bereits seit dem Beginn ihres Aufenthalts titelpflichtig.
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Hiergegen erhob die Klägerin am 3. Januar 2022 Klage mit folgenden Anträgen:
1. Der Bescheid der Beklagten vom 1. Dezember 2021 (Az.: …*), zugestellt am 3. Dezember 2021, wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zu erteilen.
3. Der Klägerin wird für vorstehende Anträge Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der Unterzeichnenden bewilligt.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin könne den begehrten Aufenthaltstitel gemäß § 39 Satz 1 Nr. 2 AufenthV im Inland einholen. Denn sie sei wegen des ihr bescheinigten unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts sui generis vom Erfordernis des Besitzes eines Aufenthaltstitels befreit. Sie sei zudem bereits unmittelbar nach ihrer Einreise ins Bundesgebiet vom Titelerfordernis befreit gewesen, da sie um Asyl nachgesucht und eine Aufenthaltsgestattung erhalten habe. Die Klägerin könne sich darüber hinaus auch auf § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV berufen, weil die der Klägerin erteilte Aufenthaltserlaubnis über das Bestehen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts eine Aufenthaltserlaubnis im Sinne der vorgenannten Vorschrift sei.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung verweist sie auf die Gründe des angegriffenen Bescheids.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
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Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, weil die Rechtsverfolgung keine hinreichende Erfolgsaussicht i.S.d. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO hat.
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Die Klägerin wird im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit unterliegen. Denn der begehrten Aufenthaltserlaubnis steht die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen; eine Ausnahme gemäß § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG liegt nicht vor. Unter einem gesetzlichen Anspruch i.S.d. letztgenannten Norm ist ein strikter Rechtsanspruch zu verstehen, der sich unmittelbar aus dem Gesetz ergeben muss und bei dem alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen der Anspruchsnorm erfüllt sein müssen. Es genügt insofern nicht, wenn sich ein Anspruch lediglich aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null oder aufgrund einer gesetzlichen „Soll“-Regelung ergibt (BVerwG, U.v. 17.12.2015 - 1 C 31/14 - NVwZ 2016, 458 Rn. 20 f.; Dienelt in Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 10 AufenthG Rn. 12 ff.).
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Die Klägerin hat keinen strikten Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im vorgenannte Sinne. Denn sie ist nicht mit dem erforderlichen Visum i.S.v. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG eingereist und kann den begehrten Aufenthaltstitel auch nicht gemäß § 39 Satz 1 AufenthV im Inland einholen:
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Die Klägerin kann sich nicht auf § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV berufen, da sie nicht im Besitz einer nationalen Aufenthaltserlaubnis i.S. dieser Vorschrift ist. Das aus Art. 20 AEUV abgeleitete unionsrechtliche Aufenthaltsrecht sui generis wird dem Ausländer deklaratorisch bescheinigt. Hierbei handelt es sich um keine Aufenthaltserlaubnis nach nationalem Recht mit den sich aus dem AufenthG ergebenden Beschränkungen und Verfestigungsmöglichkeiten, sondern um eine Bescheinigung eigener Art (BVerwG, U.v. 12.07.2018 - 1 C16/17 - NVwZ 2019, 486/490 Rn. 36; Samel in Bergmann/Dienelt, AuslR, § 4 AufenthG Rn. 65). Zu § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthG hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich festgestellt, dass das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht sui generis kein nationaler Rechtsanspruch i.S. dieser Vorschrift ist (BVerwG, a.a.O. Rn. 31). Nichts anderes kann für die Auslegung des Begriffs „Aufenthaltserlaubnis“ in § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV gelten.
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Die Klägerin kann sich auch nicht auf § 39 Satz 1 Nr. 2 AufenthV berufen. Die Kammer schließt sich den überzeugenden Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (B.v. 13.1.2021 - 7 D 11208/20.OVG - BeckRS 2021, 809 Rn. 19 ff. unter Ablehnung von VG Düsseldorf, B.v. 17.6.2020 - 7 L 402/20 - BeckRS 2020, 13753) an. Dafür sind folgende Erwägungen maßgeblich: § 39 Satz 1 Nr. 2 AufenthV hat Personen im Blick, die ursprünglich vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit waren und dann während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet titelpflichtig wurden. Die Verordnungsbegründung nennt hierfür beispielhaft Personen, die zunächst als Familienangehörige eines Unionsbürgers, der zwischenzeitlich sein Freizügigkeitsrecht verloren hat, nicht titelpflichtig waren (vgl. BR-Drs. 731/04 S. 182). Mit dieser vom Verordnungsgeber in den Blick genommen Personengruppe ist die Klägerin nicht vergleichbar. Vielmehr liegt bei der Klägerin, die das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht frühestens mit der Geburt ihres Sohnes im Bundesgebiet erwerben konnte, gerade die umgekehrte Konstellation vor (vgl. OVG RhPf, B.v. 13.1.2021 - 7 D 11208/20.OVG - BeckRS 2021, 809 Rn. 21). Darüber hinaus spricht für diese Auslegung, dass das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht sui generis nachrangig zu nationalen Aufenthaltsregelungen ist und nur dann in Betracht kommt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des Familiennachzugs nach nationalem Recht nicht erfüllt. Diese Subsidiarität des eigenständigen unionsrechtlichen Anspruchs würde beseitigt, wenn durch Anwendung des § 39 Satz 1 Nr. 2 AufenthV der unionsrechtliche Anspruch gerade Grundlage für die Einholung der nationalen Aufenthaltserlaubnis im Inland und so in der Sache in einen nationalen Rechtsanspruch umgewandelt würde (OVG RhPf, B.v. 13.1.2021 - 7 D 11208.20.OVG - BeckRS 2021, 809 Rn. 23, 25).
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Schließlich kann sich die Klägerin auch nicht auf § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV berufen. Die Klägerin war zum Zeitpunkt des Antrags auf Aufenthaltserlaubnis nicht geduldet, sondern hielt sich aufgrund des ihr von der Beklagten bescheinigten unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts sui generis im Bundesgebiet auf. Aber selbst dann, wenn man auf die der Klägerin in der Vergangenheit erteilte Duldung abstellte, ergäbe sich dadurch kein anderes Ergebnis. Denn § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV setzt voraus, dass die Abschiebung des Ausländers aus anderen Gründen als denjenigen, die den Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stützen sollen, ausgesetzt ist (BayVGH, B.v. 4.5.2020 - 10 ZB 20.666 - BeckRS 2020, 14546 Rn. 10). Die Abschiebung der Klägerin war jedoch gerade wegen der Beziehung zu ihrem deutschen Sohn ausgesetzt, welche auch Grundlage der begehrten Aufenthaltserlaubnis ist.