Inhalt

LArbG München, Urteil v. 19.10.2022 – 10 Sa 121/22
Titel:

Keine tarifvertraglichen Zahlungsansprüche auf Vergütung nicht abgerufener Standby-Dienste bei einem Flugkapitän

Normenketten:
ArbGG § 69 Abs. 2
TVG § 1 Abs. 2
BGB § 126, § 126a, § 133, § 157
Leitsätze:
1. Protokollnotizen können als Auslegungshilfe gemeint sein, sie können aber auch als schuldrechtliche oder normative Tarifnorm vereinbart sein. Ob eine zwischen Tarifvertragsparteien geschlossene Vereinbarung Rechtsnormcharakter hat, hängt neben der Erfüllung des Schriftformerfordernisses davon ab, ob darin der Wille der Tarifvertragsparteien zur Normsetzung hinreichend deutlich zum Ausdruck kommt. Dies ist im Wege der Auslegung nach den allgemeinen Grundsätzen des bürgerlichen Rechts zu ermitteln.  (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es bei Tarifverträgen zu berücksichtigen. Wenn Zweifel hinsichtlich der Tarifauslegung bestehen, dann gebührt derjenigen der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt. (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Tarifauslegung, Auswirkungen des Flugverbots für Boing 737 Max 8, tarifvertragliche Zahlungsansprüche, Standby-Dienste, Flugkapitän, Typ Boeing 737, Schriftformerfordernis, Protokollnotiz, Rückwirkung
Vorinstanz:
ArbG München, Endurteil vom 02.02.2022 – 39 Ca 2189/21
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2022, 36615

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 02.02.2022, Az.: 39 Ca 2189/21 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über tarifvertragliche Zahlungsansprüche des Klägers auf Vergütung nicht abgerufener Standby-Dienste und auf Umsetzung einer linearen Gehaltserhöhung.
2
Der Kläger ist seit dem 03.01.2000 auf Grundlage des als Anlage B10 (Bl. 267 ff. d. A.) vorgelegten Arbeitsvertrages am Stationierungsort Z. tätig und zuletzt als Flugkapitän auf dem Muster B737-800 eingesetzt. Sein durchschnittliches Bruttomonatsgehalt beträgt derzeit als CP14 16.214,88 €.
3
Der Kläger ist Mitglied der Y e.V. Auf das Arbeitsverhältnis finden die zwischen der Y e. V. und der Beklagten abgeschlossenen Haustarifverträge, d. h. der Manteltarifvertrag Nr. 4 für das Cockpitpersonal (MTV Nr. 4, vorgelegt als Anlage K2, Bl. 15 ff. d. A.), und der Vergütungstarifvertrag Nr. 6 für das Cockpitpersonal (VTV Nr. 6, vorgelegt als Anlage K13, Bl. 316 ff. d. A.) Anwendung. Gemäß § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 werden nicht abgerufene Standby-Dienste wertmäßig mit jeweils zwei Mehrflugstunden in der ersten Stufe des jeweils gültigen VTV vergütet.
4
Die Beklagte ist ein Luftfahrtunternehmen mit etwa 2.400 Beschäftigten, dabei regelmäßig mehr als 1.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Bereich des fliegenden Personals.
5
Am 23.11.2017 verständigten sich die Beklagte und die Y e.V. auf eine Tarifvereinbarung (im Folgenden: Tarifvereinbarung 2017, vorgelegt als Anlage K1, Bl. 9 ff. d. A.). Die Y e. V. wollte mit dieser Vereinbarung eine Beschäftigungssicherung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Cockpitpersonals erreichen. In der Tarifvereinbarung 2017 heißt es auszugsweise:
„I. Betrieb von 39 Flugzeugen
1. Ab dem Sommerflugplan 2018 werden mindestens 35 Flugzeuge vom Typ Boeing 737 von der C. betrieben, wobei bis zu maximal 7 der 35 Flugzeuge im Wetlease an Dritte vermarktet werden. Ab dem Sommerflugplan 2019 werden, für die verbleibende Laufzeit dieser Vereinbarung (bis zum 31.12.2020), insgesamt mindestens 39 Flugzeuge vom Typ Boeing 737 von der C. betrieben, wobei bis zu maximal 7 der 39 Flugzeuge im Wetlease an Dritte vermarktet werden.
Zum Ausgleich von saisonalen Schwankungen gilt die Mindestanzahl von 35 Flugzeugen für folgende Zeiträume:
- 01.05.2018 bis 31.10.2018 Zum Ausgleich von saisonalen Schwankungen gilt die Mindestanzahl von 39 Flugzeugen für folgende Zeiträume:
- 01.05.2019 bis 31.10.2019 - 01.05.2020 bis 31.10.2020.
(…)
2. Der unter Ziffer 1 beschriebene Betrieb von mindestens 35 Flugzeugen in dem Jahr 2018 und 39 Flugzeugen ab dem Jahr 2019 samt den dort aufgeführten Regelungen betreffend der saisonalen Schwankungen sowie der Verfahren zum Phase-in/Phase-out stellt bindende Geschäftsgrundlage und somit die Voraussetzung für die nachfolgend aufgeführten Maßnahmen dar.
II. Vergütungstarifvertrag
1. Bei dem zum 01. Januar 2018 in Kraft tretenden Vergütungstarifvertrag Nr. 6 vom 28. September 2016 (nachfolgend: VTV Nr. 6) kommt die vereinbarte Vergütungserhöhung von 2,5% nicht zur Anwendung (…).
III. Manteltarifvertrag (…)
2. Der § 18 des MTV Nr. 4 wird ersatzlos gestrichen. Die Tarifvertragspartien sind sich jedoch einig, dass Dienstplanstabilität im Rahmen der bevorstehenden MTV Verhandlungen anzustreben ist und im Interesse beider Tarifparteien liegt.
3. Die zum 01. November 2016 im § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 eingeführte Bezahlung für nicht abgerufene Standby Dienste wird zum 31. Dezember 2017 ersatzlos gestrichen (…).
IV. Unterschreitung der Anzahl an Flugzeugen
1. Sobald der unter I. Ziffer 1 geregelte Betrieb der vereinbarten Mindestanzahl (35 Flugzeuge im Jahr 2018 und 39 Flugzeuge ab dem Jahr 2019) während der Laufzeit dieser Vereinbarung (bis zum 31.12.2020) unterschritten wird, leben die Regelungen zum Standby-Konzept und der Dienstplanstabilität, die unter III. Ziffer 2 und 3 dieser Tarifvereinbarung ausgesetzt wurden, mit sofortiger Wirkung wieder auf. Dies gilt unabhängig von anderslautenden Regelungen eines jeweils gültigen Manteltarifvertrages zum Standby-Konzept und der Dienstplanstabilität.
Darüber hinaus wird in diesem Falle rückwirkend zum 01. Januar des jeweiligen Vorjahres eine zusätzlich lineare Gehaltssteigerung von 2,5% vorgenommen. Klarstellend wird darauf hingewiesen, dass die vereinbarten Vergütungserhöhungen hiervon unberührt bleiben. Auf dieser Gehaltssteigerung basierend sind alle Beträge des VTV Nr. 6 (bspw. Gehaltstabellen, Mehrflugstundenvergütung, Trainerzulagen etc.) der Folgejahre nachzuberechnen.
2. Sofern im Falle der Einflottung eines anderen Flugzeugsmusters eine Reduzierung der Flugzeugflotte und damit eine Unterschreitung der unter I. Ziffer 1 festgestellten Mindestanzahl von Flugzeugen erfolgt, verpflichten sich die Parteien hinsichtlich einer Anpassung der Flugzeugflottengröße zu verhandeln. Ausgenommen von der Verhandlungsverpflichtung ist die Einführung einer Langstreckenoperation, sofern die C. sicherstellt, dass keine Personalüberdeckung und keine Verringerung des Personalbedarfs entstehen. Unterschreitet die C. die unter I. Ziffer 1 vereinbarte Mindestanzahl (35 Flugzeuge im Jahr 2018 und 39 Flugzeuge ab dem Jahr 2019) während der Laufzeit dieser Vereinbarung (bis zum 31.12.2020), obwohl die Tarifvertragsparteien keine Einigung erzielten, kommt die Regelung unter IV. Ziffer 1 zur Anwendung.
Die unter I. Ziffer 1 festgelegte Mindestanzahl der Flugzeuge kann bei höherer Gewalt unterschritten werden. Die Feststellung von höherer Gewalt und eine damit etwaige Reduzierung der unter I. geregelten Flottengröße bedürfen jedoch einer einvernehmlichen Feststellung zwischen den Tarifvertragsparteien.
(…)
VII. Inkrafttreten und Vertragsdauer Diese Tarifvereinbarung tritt mit Unterzeichnung in Kraft und endet automatisch, ohne dass es einer Kündigung bedarf, am 31.Dezember 2020. Diese Tarifvereinbarung entfaltet keine Nachwirkung hinsichtlich der Ziffern I.,IV., V. und VI. Gem. II. Ziffer 3 und III. Ziffer 1 entfalten der Vergütungstarifvertrag und der Manteltarifvertrag weiterhin Nachwirkung. Sollte es während der Laufzeit dieser Vereinbarung zur Überschreitung der in I. vereinbarten Mindestanzahl von Flugzeugen kommen, dann entfalten zudem die in IV. Ziffer 1, zweiter Absatz genannten Regelungen zum Vergütungstarifvertrag weiter Nachwirkung.“
6
Bei Anwendung der linearen Gehaltserhöhung von 2,5% für den Zeitraum Januar 2018 bis einschließlich Dezember 2021 hätte der Kläger ein um insgesamt 19.831,91 € brutto höheres Gesamtgehalt bezogen. Bei einer Vergütung der nicht abgerufenen Standby-Dienste mit jeweils zwei Mehrflugstunden gemäß § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 für den Zeitraum Januar 2018 bis Dezember 2021 würde der Kläger weitere 26.081,64 € brutto erhalten.
7
Die europäische Luftfahrtbehörde EASA sperrte am 12.03.2019 den europäischen Luftraum für Maschinen des Typs Boeing 737 MAX 8 und MAX 9, später folgte ein „weltweites Flugverbot“. Erst am 21.01.2021 hat die europäische Luftfahrtbehörde EASA den europäischen Luftraum für Maschinen des Typs Boeing 737 MAX 8 und MAX 9 wieder geöffnet. Der Flugzeughersteller Boeing lieferte vier bestellte Flugzeuge des Typs Boeing 737 MAX 8 nicht planmäßig im März, April und Mai 2019 an die Beklagte aus. Drei bis dahin geleaste ältere Maschinen des Typs Boeing 737 wurden im Laufe des Jahres 2019 an den Leasinggeber zurückgegeben. Die Beklagte hatte von April bis Oktober 2019 lediglich 36 Flugzeuge im Einsatz. Zwischen den Tarifvertragsparteien bestand Uneinigkeit, ob insoweit ein Fall höherer Gewalt vorlag.
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Mit Schreiben vom 25.06.2019 informierte die Y e.V. ihre Mitglieder darüber, dass die zugesagte Flottengröße unterschritten worden war und dass die daraus etwaig resultierenden Ansprüche nicht sicher waren.
9
Am 17.07.2019/09.08.2019 unterzeichneten die Tarifvertragsparteien eine Protokollnotiz zur Tarifvereinbarung 2017 (vorgelegt als Anlage B6, Bl. 123 ff. d. A.), wonach die Regelung unter IV. Ziffer 1 der Tarifvereinbarung 2017 bis zum 31. August 2019 außer Kraft gesetzt wurde, da kein Einvernehmen hinsichtlich des Vorliegens höherer Gewalt bestand. In dieser Zeit sollte der Versuch unternommen werden, gemeinsam zu einer Lösung zu gelangen.
10
Nachdem bis zum 31.08.2019 kein Einvernehmen über das Vorliegen höherer Gewalt erzielt wurde, informierte die Y e. V. ihre Mitglieder am 16.08.2019 und 04.09.2019 über die bisher nicht erfolgte Einigung (vorgelegt als Anlagen B11 und B12, Bl. 271 ff. d. A.). Mit Schreiben vom 06.09.2019 (vorgelegt als Anlage B7, Bl. 124 ff. d. A.) informierte zunächst die Geschäftsleitung Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darüber, dass die Flottengröße allein wegen höherer Gewalt unterschritten worden sei. Darauf reagierte die Y mit einem „offenen Brief“ vom 10.09.2019 (vorgelegt als Anlage B8, Bl. 127 ff. d. A.), in dem sie der Auffassung der Beklagten widersprach.
11
Am 20.11.2019 wurde ein neuer T arifvertrag (im Folgenden T arifvertrag 2019, vorgelegt als Anlage B2, Bl. 97 ff. d. A.) geschlossen, in dem die Tarifvertragsparteien unter Abschnitt D. Vereinbarungen zur Tarifvereinbarung vom 23 November 2017 folgendes vereinbarten: „Ziffer IV. „Unterschreitung der Anzahl an Flugzeugen“ wird gestrichen.“. In Abschnitt H. Schlussbestimmungen des Tarifvertrages regelten die Tarifvertragsparteien, das unter anderem die unter Abschnitt D. getroffene Regelung rückwirkend entfällt, sofern ein Beschluss zur Aufnahme der Langstrecke bei der C. nicht bis zum 31.03.2020 gefasst werden sollte. Mit einer Protokollnotiz zum Tarifvertrag 2019 vom 13.03.2020 (vorgelegt als Anlage B3, Bl. 116 d. A.) stellten die Parteien fest, dass sie sich vor dem Hintergrund der unter Abschnitt D. des Tarifvertrags 2019 getroffenen Regelung einig sind, dass keine Ansprüche von Cockpitmitarbeitern für die Zeit ab dem 01.01.2018 wegen einer rückwirkenden Erhöhung der Entgelttabellen aus dem Tarifvertrag 2017 wegen Unterschreitung der Flottengröße bestehen. Diese Regelung sollte jedoch rückwirkend entfallen, sofern der Beschluss über die Etablierung einer Langstrecke bei der C. nicht bis zum 31.03.2020 beschlossen sein sollte. Aufgrund der weltweiten Corona Pandemie und der damit einhergehenden Auswirkungen auf den Flugverkehr verständigten sich die Tarifvertragsparteien am 31.03.2020 auf eine Verlängerung der Frist zur Etablierung einer Langstrecke bis zum 31.07.2020 (Anlage B4, Bl. 117 ff. d. A.). Im Juni 2020 teilte die Beklagte der Y e. V. mit, dass die Vorbereitungen für eine Langstrecke eingestellt werden.
12
Am 17.12.2020 informierte die Y e. V. ihre Mitglieder darüber, dass die sich aus der Tarifvereinbarung 2017 ergebenden Ansprüche geltend gemacht werden müssten, da der Arbeitgeber es abgelehnt habe, die tarifvertraglich vereinbarten Ausschlussfristen für diese zu verlängern (Anlage K12, Bl. 315 d. A.).
13
Am 23.12.2020 beantragte die Beklagte beim Arbeitsgericht E. die Verurteilung der Y e. V. dahingehend, ihr gegenüber zu erklären, dass spätestens seit dem 11.03.2019 ein Fall von höherer Gewalt im Sinne des Tarifvertrages 2017 vorlag (vgl. Anlage B9, Bl. 129 ff. d. A.).
14
Am 05.03.2021 schlossen die Tarifvertragsparteien eine „Protokollnotiz zur Tarifvereinbarung vom 23.11.2017“ mit folgendem Inhalt (vorgelegt als Anlage B1, Bl. 66 d. A.):
„Im Rahmen der Mediation zum Abschluss des Gesamtpakets 2021 haben die Parteien Folgendes vereinbart:
Die Parteien vereinbaren, dass keine Ansprüche der Arbeitnehmer für die Zeit ab dem 01.01.2018 wegen der Unterschreitung der Flottengröße aus dem TV 2017 bestehen. “
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Nach dieser Verständigung wurde die beim Arbeitsgericht E. am Main eingereichte Klage zurückgenommen.
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Der Kläger war vor dem Arbeitsgericht der Auffassung, dass ihm sowohl Nachzahlungen aufgrund der linearen Gehaltserhöhung von 2,5% sowie die Vergütung der nicht abgerufenen Standby-Dienste zustünden. Diese Ansprüche seien entstanden und auch nicht wegen höherer Gewalt entfallen, da die Flottengröße nicht wegen höherer Gewalt unterschritten worden sei. Die Protokollnotiz vom 05.03.2021 stehe den geltend gemachten Ansprüchen nicht entgegen. Dies ergebe sich zum einen daraus, dass sie sittenwidrig sei, da sie unter dem Druck zustande gekommen sei, dass weitere 100 Personen entlassen werden sollten, wenn die Y e.V. dem Gesamtpaket nicht zustimme. Zudem stelle die Protokollnotiz ein Fall unzulässiger echter Rückwirkung dar, da sie in bereits entstandene Ansprüche aufgrund eines abgeschlossenen Sachverhalts eingreife. Der Kläger hätte daher darauf vertrauen dürfen, dass seine Ansprüche erfüllt würden. Darüber sei in der Betriebsöffentlichkeit auch nicht gestritten worden. Die als Anlage B1 vorgelegte Protokollnotiz vom 05.03.2021 enthalte hinsichtlich der Unterschrift des ehemaligen Geschäftsführers der Beklagten, Herrn F., ein Faksimile. Es handele sich dabei nicht um eine Originalunterschrift und die Protokollnotiz sei insofern nicht formwirksam, da sie nicht von beiden Vertragsparteien im Original unterzeichnet worden sei. Der Personalleiter Herr G., der die Protokollnotiz für die Beklagte ebenfalls unterzeichnet hat, sei nicht allein zeichnungsbefugt.
17
Der Kläger beantragte vor dem Arbeitsgericht zuletzt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, 33.606,27 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die vereinbarten Vergütungserhöhungen für das Kalenderjahr 2018 und der darauffolgenden Kalenderjahre basierend auf der um 2,5% erhöhten Vergütung für das Jahr 2017 gemäß Ziffer 4 IV UA 2 der Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 zu berechnen sind.
18
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
19
Die Beklagte war der Auffassung, dass die Zusage einer Mindestflottengröße tariflich nicht regelbar sei und die Tarifvereinbarung 2017 daher insoweit unwirksam. Darüber hinaus läge auch ein Fall höherer Gewalt vor und die Ansprüche des Klägers seien deswegen ausgeschlossen. Die Unterschreitung der ursprünglich zugesagten 39 Flugzeuge sei aufgrund der Sperrung des europäischen Luftraums für Maschinen des Typs Boeing 737 MAX 8 und MAX 9 und der Nichtauslieferung der bestellten Maschinen nicht erreicht worden. Es sei auch nicht möglich gewesen, als Ersatz andere Flugzeuge am Markt kurzfristig zu beschaffen. Darüber hinaus schließe die am 05.03.2021 zwischen den Tarifvertragsparteien geschlossene „Protokollnotiz zur Tarifvereinbarung vom 23.11.2017“ etwaige Ansprüche des Klägers wirksam aus. Ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers liege nicht vor, da die Beklagte und die Y e. V. bis zum Abschluss dieser Protokollnotiz über das Vorliegen von höherer Gewalt auch unternehmensöffentlich eine Diskussion geführt hätten und der Kläger von der Y e. V. sowie auch durch die Beklagte entsprechend informiert worden sei. Die Protokollnotiz vom 05.03.2021 sei Teil eines Gesamtpakets und könne daher nicht nur isoliert betrachtet werden. Herr G. sei zwar nicht als Prokurist, aber als Personalleiter allein zeichnungsbefugt im Hinblick auf die Protokollerklärung vom 05.03.2021.
20
In der mündlichen Verhandlung am 26.01.2022 teilte der Klägervertreter mit, er habe von der Y e.V. erfahren, dass die Protokollnotiz vom 05.03.2021 mit ortsabwesenden Personen derart geschlossen worden sei, dass für diese eine computergenerierte Unterschrift eingefügt worden sei. Diese Aussage beziehe sich lediglich auf die Unterschrift des ehemaligen Geschäftsführers der Beklagten, Herr F.. Die Beklagtenvertreterin erklärte dazu, dass bei der Personalabteilung der Beklagten ein Original der Protokollnotiz vom 05.03.2021 vorläge, das eigenhändig sowohl vom Personalleiter der Beklagten, Herrn G., als auch von dem ehemaligen Geschäftsführer unterzeichnet worden sei.
21
Das Arbeitsgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Es hat ausgeführt, es könne vorliegend dahinstehen, ob die in der Tarifvereinbarung 2017 vorgenommene Verknüpfung der Gewährung von Leistungen an die Angehörigen des Cockpitpersonals der Beklagten mit dem Erreichen bzw. Unterschreiten einer Mindestflottengröße von 39 Flugzeugen des Typs Boeing 737 ab dem 01.05.2019 rechtlich zulässig sei oder einen ungerechtfertigten Eingriff in den Kernbereich der unternehmerischen Betätigungsfreiheit der Beklagten darstelle. Ebenso bedürfe es keiner Entscheidung, ob hinsichtlich der Entscheidung der europäischen Luftfahrtbehörde EASA, den europäischen Luftraum für Maschinen des Typs Boeing 737 MAX 8 und MAX 9 zu sperren, ein Fall höherer Gewalt im Sinne der Tarifvereinbarung 2017 vorliege. Die Klage habe jedenfalls deshalb keinen Erfolg, weil die Tarifvertragsparteien mit der Protokollnotiz vom 05.03.2021 vereinbart hätten, dass keine Ansprüche der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für die Zeit ab dem 01.01.2018 wegen Unterschreitung der Flottengröße aus der Tarifvereinbarung 2017 bestehen. Die Auslegung ergebe, dass es sich bei der Protokollnotiz um eine tarifliche Inhaltsnorm im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG handele. Die Protokollnotiz sei auch formwirksam geschlossen worden. Für die Beurteilung, ob das Schriftformerfordernis nach § 1 Abs. 2 TVG erfüllt sei, gelte § 126 BGB. Die Urkunde müsse daher von den Tarifvertragsparteien bzw. deren Vertretern eigenhändig unterzeichnet werden. Der Aussteller der Urkunde müsse diese eigenhändig unterzeichnen. Dies sei allein dadurch gewahrt, dass der Personalleiter Herr G. die Protokollerklärung vom 05.03.2021 eigenhändig unterzeichnet habe. Die Unterschrift von Herrn G. sei mit dem Zusatz „Personalleiter“ versehen. Es sei allen Beteiligten hinreichend bekannt gewesen, dass Herr G. der Personalleiter der Beklagten sei. Die Beklagte habe auch vorgetragen, dass er in dieser Funktion allein vertretungsberechtigt bzw. zeichnungsbefugt gewesen sei. Ein substantiiertes Bestreiten seitens des Klägers liege diesbezüglich nicht vor, die bloße allgemeine Aussage, Herr G. sei nicht allein zeichnungsbefugt im Schriftsatz vom 31.12.2021 genüge hierfür nicht. Die Y e.V. als Tarifvertragspartei habe hier aufgrund der Stellung von Herrn G. auch davon ausgehen können, dass dieser für die Beklagten befugt gewesen sei, Tarifverträge abzuschließen. Dafür, dass diese Annahme bei der Y e.V. bestand, spreche auch der Vortrag des Klägervertreters in der mündlichen Verhandlung, dass die Y e.V. ihm gegenüber geäußert habe, dass die Protokollerklärung hinsichtlich der Unterschrift des ehemaligen Geschäftsführers, Herrn F., dadurch erfolgt sei, dass diese computergestützt eingefügt worden sei. Dadurch werde deutlich, dass die Y e.V. hinsichtlich der Wirksamkeit der Protokollnotiz nicht davon ausgegangen sei, dass neben der eigenhändigen Unterschrift von Herrn G. noch eine weitere eigenhändige Unterschrift seitens der Beklagten erforderlich sei. Die Unterzeichnung mit dem Zusatz „ppa.“ ändert daran nichts, da seine Stellung als Personalleiter allen Beteiligten hinreichend bekannt gewesen sei. Einer Aufklärung der zwischen den Beteiligten streitigen Tatsachenbehauptung, ob auch eine Fassung der Protokollnotiz vom 05.03.2021 vorliege, auf der neben Herrn G. auch Herr F. eigenhändig unterzeichnet hat, habe es daher nicht bedurft. Die Protokollnotiz sei auch nicht wegen Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot unwirksam. Die Protokollnotiz vom 05.03.2021 greife bereits nicht im Wege einer echten Rückwirkung in entstandene Tarifansprüche des normunterworfenen Cockpitpersonals der Beklagten ein. Die entsprechenden Ansprüche im Zusammenhang mit der Tarifvereinbarung 2017 seien nicht schon mit der erstmaligen Unterschreitung der Mindestanzahl von 39 Flugzeugen des Typs Boeing 737 am 01.05.2019 entstanden, sondern hätten unter dem Vorbehalt gestanden, dass die Tarifvertragsparteien keinen Fall der höheren Gewalt als Ursache hierfür feststellen. Abgesehen davon habe der Kläger wie auch das übrige normunterworfene Cockpitpersonal zu keinem Zeitpunkt darauf vertrauen können, dass es nicht noch zu einer Feststellung des Vorliegens höherer Gewalt durch die Tarifvertragsparteien komme oder die Tarifvereinbarung 2017 inhaltlich modifiziert werden würde. Dies ergebe sich daraus, dass die Beklagte und die Y e. V. durchgehend Verhandlungen über die Frage geführt hätten, welche Folgen das Unterschreiten der vereinbarten Flottengröße haben sollte. Ein Vertrauenstatbestand habe sich auch nicht durch das Ende der Laufzeit der Tarifvereinbarung 2017 am 31.12.2020 ergeben, da in IV. Ziffer 2 Tarifvereinbarung 2017 keine Frist für die dort geforderte Feststellung beinhaltet gewesen sei.
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Hinsichtlich des gesamten erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien sowie der Begründung des Arbeitsgerichts wird auf das Urteil vom 02.02.2022 (Bl. 527 ff. d. A.) Bezug genommen.
23
Der Kläger hat gegen das ihm am 11.02.2022 zugestellte Urteil am 09.03.2022 Berufung eingelegt und diese am 11.04.2022 begründet. Die Beklagte hat am 13.06.2022 innerhalb verlängerter Frist erwidert.
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Der Kläger verfolgt mit seiner Berufung den Anspruch auf die Gewährung der Tariflohnerhöhungen ab dem Jahre 2018 einschließlich der nicht in Anspruch genommenen StandbyDienste in zeitlich reduziertem Umfang (rückwirkende lineare Gehaltserhöhung von 01.01.2019 bis 31.12.2021, Standby-Dienste vom 01.04.2019 bis 31.03.2021) weiter. Er macht im Wesentlichen geltend, er habe nach Ablauf des maßgeblichen Tarifvertrags TV 2017 und der in diesem implementierten Fristen, nicht mehr mit einer Beseitigung der Ansprüche, insbesondere konkret in Form der Protokollnotiz vom 05.03.2021 rechnen müssen. Maßgeblich sei, dass die Unterschreitung der Mindestflottengröße ab dem 01.04.2019 entgegen der Vereinbarung aus I. Ziff. 1 des TV 2017 als auflösende Bedingung für den Verzicht auf die Standby-Vergütung mit sofortiger Wirkung sowie als aufschiebende Bedingung für den originär durch den TV 2017 definierten Anspruch hinsichtlich der rückwirkenden linearen Gehaltserhöhung entstanden sei. Damit sei der Anspruch des Klägers mit dem Bedingungseintritt am 01.04.2019 auf die rückwirkende Gehaltserhöhung ex tunc sowie für die Zukunft dem Grunde nach entstanden. Der Wortlaut der Regelung betreffend die Standby-Vergütung lasse auf eine intendierte ex-nunc-Wirkung schließen, sodass die Ansprüche für nicht abgerufene Standby-Dienste erst ab dem 01.04.2019 hätten entstehen können. Die Tarifvertragsparteien hätten sodann gemäß IV. Ziff. 2 TV 2017 mögliche und abschließende Handlungsoptionen vereinbart, die im Falle der Unterschreitung der Flottengröße zur Anwendung kommen sollten. Die 1. Variante habe eine Konsensuallösung vorgesehen, die 2. Variante einen von den Tarifvertragsparteien übereinstimmend festgestellten Fall der höheren Gewalt. Beide tarifvertraglichen Handlungsoptionen seien nicht erfüllt, insbesondere nicht die Feststellung der höheren Gewalt. Die Ansprüche seien somit grundsätzlich wirksam entstanden und fällig geworden und bei der am 05.03.2021 unterzeichneten Protokollnotiz handle es sich um den Versuch einer echten Rückwirkung, die grundsätzlich unzulässig sei. Der Kläger habe von der Entstehung seiner Ansprüche unmittelbar nach deren Eintritt im Juni 2019 Kenntnis erlangt. Er habe nach September 2019 zu keinem Zeitpunkt damit rechnen müssen, dass die Tarifvertragsparteien eine übereinstimmende Erklärung hinsichtlich eines Vorliegens höherer Gewalt treffen würden, da dies mangels irgendeiner derartigen Mitteilung oder im folgenden Verlauf von den Tarifvertragsparteien bestehenden gelebten Verhandlungen erkennbar gewesen wäre. Insbesondere habe es keine Information darüber gegeben, dass Verhandlungen außerhalb des Rahmens des TV 2017 stattfinden würden, namentlich im Rahmen der Mediation. Vielmehr habe die Y ihre Mitglieder zur Geltendmachung ihrer bestehenden Ansprüche aufgefordert. Die bei Vorliegen einer echten Rückwirkung erforderliche Interessenabwägung gehe zugunsten des Klägers aus.
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Des Weiteren sei der Vortrag des Klägers entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts betreffend das substantiierte bestreiten der Unwirksamkeit aufgrund Vertretungsmangel der Protokollnotiz hinreichend konkretisiert. Der Personalleiter Herr G. sei ausweislich des Handelsregisters (Anlage BK 3, Bl. 612 f d. A.) nicht alleinvertretungsberechtigt. Eine alleinige Gesamtprokura des Herrn G. werde bestritten. Damit sei der Vortrag dahingehend sehr wohl erheblich, ob eine wirksame Unterzeichnung, die dem Schriftformerfordernis des TVG genüge, durch den damaligen Geschäftsführer, Herrn F. erfolgt sei. Wobei letzteres zuletzt (vgl. Protokoll vom 21.09.2022) nicht mehr gerügt werde.
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Der Kläger beantragt,
Das am 02.02.2022 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts München 39 Ca 2189/21, Az.: 10 Sa 115/22 aufzuheben und
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 28.584,27 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
2. festzustellen, dass die vereinbarte Vergütungserhöhung für das Kalenderjahr 2018 und der darauffolgenden Kalenderjahre basierend auf der um 2,5% erhöhten Vergütung für das Jahr 2017 gemäß Ziffer 4 IV UA 2 der Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 zu berechnen sind.
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Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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Die Beklagte verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts als im Ergebnis überzeugend und bezieht sich auf ihren erstinstanzlichen Vortrag. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die von ihm begehrten Zahlungen. Eine Gehaltssteigerung um 2,5% im Jahr 2018, 2019, 2020 und 2021 sei nicht durchzuführen gewesen. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Vergütung für nicht abgerufene Standby-Dienste.
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Sie ist der Ansicht, die Klausel, aus der der Kläger seine Ansprüche herleite, sei unwirksam. Die Zusage einer Mindestflottengröße sei nicht tariflich regelbar. Ausgehend von § 1 TVG könne ein Tarifvertrag schuldrechtlich die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien zum Gegenstand haben und darüber hinaus mit normativer Wirkung den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen. Im vorliegenden Fall könne es sich bei der Zusage einer Mindestflottengröße daher nur um eine schuldrechtliche Verpflichtung der Beklagten gegenüber der Y - und gerade nicht gegenüber den Angehörigen des Cockpitpersonals - handeln. Die zugesagte Mindestflottengröße entfalte insbesondere keine Wirkung gegenüber dem Kläger. Aber auch eine entsprechende schuldrechtliche Verpflichtung gegenüber der Y sei unwirksam. Insoweit sei zu beachten, dass das Grundgesetz den Kernbereich der Tarifautonomie in Art. 9 Abs. 3 GG, aber auch der Unternehmensautonomie als Teil der Berufsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 GG regele. Deshalb dürfe weder die Unternehmensautonomie noch die Tarifautonomie so ausgeübt werden, dass die jeweils andere leerlaufe. Vielmehr seien die Grundrechte so miteinander in Einklang zu bringen, dass beide jeweils bestmöglich wirksam werden. Die Rechtsprechung akzeptiere, dass der Bereich des tariflich Regelbaren weit zu fassen sei. Die Unternehmensautonomie sei aber sicherlich dann unzureichend beachtet, wenn ihr die Tarifautonomie keinerlei tariffreien Betätigungsbereich lassen würde. Deshalb könne der Tarifautonomie nicht entnommen werden, dass sämtliche unternehmerische Entscheidungen tarifvertraglich geregelt werden können. Für den vorliegenden Fall bedeute dies, dass die unternehmerische Entscheidung, mit wie vielen Flugzeugen die Beklagte ihr Unternehmen betreibt, nicht tariflich regelbar sei, denn dies würde unzulässig in den Kernbereich ihrer Berufsfreiheit eingreifen und sie beispielsweise im Falle eines Totalschadens einer Maschine zu Investitionen zwingen, die sie möglicherweise nicht tätigen könne. Es müsse der Beklagten aber freistehen, ihre Flotte auf einen anderen Flugzeugtyp umzustellen oder eine weitere Flotte bestehend aus Flugzeugen eines anderen Typs aufzubauen. Der weitergehende Einsatz der Piloten auf anderen Flugzeugtypen müsse dann über entsprechende Type Ratings sichergestellt werden. All das sei nach der Tarifvereinbarung aber ausgeschlossen, indem eine Flotte bestehend aus 39 Flugzeugen des Typs Boeing 737 vorgegeben werde. Die Beklagte sei hierdurch in ihrer unternehmerischen Freiheit in unzulässigem Maße eingeschränkt und könne nur in engen Grenzen auf Marktentwicklungen und veränderte Umstände reagieren. Eine entsprechende Umgestaltung ihrer Betriebsorganisation sei ihr verboten. Von den tarifvertraglichen Regelungen würde ein erheblicher Druck ausgehen, der die Entscheidungsfindung auf Seiten der Beklagten maßgeblich beeinflussen könne. Allein der Kläger mache Vergütungsansprüche in Höhe von über 20.000,00 € brutto geltend und dem Cockpitpersonal der Beklagten gehörten im Jahr 2018 rund 550 Piloten an. Durch diese enorme finanzielle Belastung sei die unternehmerische Entscheidung der Beklagten faktisch aufgehoben.
30
Hinzu komme, dass der Tarifvertrag nicht nur vorgebe, dass die entsprechenden Flugzeuge bei der Beklagten vorhanden seien, sondern auch, dass diese betrieben werden müssten und damit auch das entsprechende Personal vorgehalten sein müsse. Zudem gebe IV. des Tarifvertrags vom 23. November 2017 auch vor, dass maximal 7 der 39 Flugzeuge im Wetlease an Dritte vermarket werden können und dass es sich um Flugzeuge des Typs Boeing 737 handeln müsse. Die Beklagte werde dadurch noch weiter in ihrer unternehmerischen Freiheit beschränkt. Sie könnte die Mehrbelastung durch die geforderte Gehaltssteigerung auch nicht selbstständig abwehren, wenn sie Flugzeuge eines anderen Typs als Boeing 737 betreibe und sei vielmehr nach IV. Ziffer 2 des Tarifvertrags vom 23. November 2017 zur Verhandlung mit der Y verpflichtet und von einer Einigung abhängig, um die Gehaltssteigerung nach IV. Ziffer 1 des Tarifvertrages zu vermeiden. Im Gegensatz zu dem Fall, in dem durch Tarifvertrag ordentliche Kündigungen untersagt werden, mithin lediglich Einfluss auf die Folgen der unternehmerischen Entscheidung genommen wird, lenkten die hier einschlägigen Bestimmungen unmittelbar die unternehmerische Entscheidung selbst. Es handele sich um derart detaillierte Vorgaben, dass sie weit über den Zweck der Beschäftigungssicherung hinausgingen und unmittelbar in den Bereich der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit eingriffen. Dieser Eingriff in ihre Grundrechtspositionen aus Art. 12 GG berühre die unternehmerischen Spielräume wesentlich und beschränke die Grundrechte der Beklagten unverhältnismäßig.
31
Ebenso liege der Fall vorliegend: Aus Gründen, die die Beklagte nicht ansatzweise zu vertreten hatte, habe sie die zugesagte Mindestflottengröße nicht einhalten können, was zu einer zwangsläufigen Unterschreitung der zugesagten Mindestflottengröße geführt habe, ohne dass dies nachteilige Auswirkungen für die Beschäftigten der Beklagten hatte. Es sei daher gar nicht nachvollziehbar, aus welchem Grund der Y das vereinbarte „Druckmittel“ zustehen sollte, um die - ohnehin durch die Nichtnutzbarkeit der vier bestellten Maschinen bereits in eine finanziell angespannte Lage geratene Beklagte - weiteren Zwängen auszusetzen. Die Beklagte habe die fehlende Lufttüchtigkeit („Flugverbot“) der Maschinen des Typs Boeing 737 MAX 8 und MAX 9 weder vorhersehen noch einplanen können. Daher sei bereits die schuldrechtliche Verpflichtung unwirksam und in entsprechender Anwendung des Rechtsgedankens des § 344 BGB damit auch die zugesagte Vergütungserhöhung von der ein erheblicher Druck ausgehe.
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Ferner sei zu beachten, dass der eigentlich von den Tarifvertragsparteien verfolgte und tariflich regelbare Zweck der Beschäftigungssicherung auch ohne eine Einschränkung der Berufsfreiheit der Beklagten erfüllt werden konnte und erfüllt worden sei. Infolge der Unterschreitung der Mindestflottengröße habe es keine betriebsbedingten Kündigungen gegeben. Die Beklagte habe ihre Belegschaftsstärke konstant gehalten und weiterhin auf eine Flottengröße von 39 Flugzeugen geplant, was sich erst durch die Corona-Pandemie geändert habe. Unabhängig von der Flottengröße ab April 2019 hätten alle Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz behalten und seien vertragsgemäß beschäftigt und vergütet worden.
33
Selbst wenn man davon ausginge, dass die schuldrechtliche Verpflichtung gegenüber der Y wirksam wäre, stelle sich als zweites die Frage, ob diese schuldrechtliche Verpflichtung bzw. ein Verstoß hiergegen auf der Tatbestandsseite die Erhöhung der Vergütung des Cockpitpersonals auf der Rechtsfolgenseite überhaupt auslösen könne, was zu verneinen sei. Ein Anspruch aus dieser Regelung könne allenfalls von der Y geltend gemacht werden.
34
Darüber hinaus sei zu beachten, dass die Rechtsfolge in dem Fall der hier vorliegenden „höheren Gewalt“ nicht eintreten sollte und auch deshalb der Kläger keine Ansprüche aus einer rückwirkenden Vergütungserhöhung habe. Es komme nicht darauf an, ob von den Tarifvertragsparteien festgestellt worden ist, dass höhere Gewalt vorliegt. Insoweit sei zu beachten, dass der Tarifvertrag selbst nicht regle, was unter höherer Gewalt zu verstehen sei. Es handele sich auch um keinen feststehenden arbeitsrechtlichen Begriff. Besonders problematisch sei, dass es nach dem Wortlaut des Tarifvertrages auch nicht auf das objektive Vorliegen oder Nichtvorliegen von höherer Gewalt ankommen, sondern die übereinstimmende Feststellung der Tarifvertragsparteien maßgeblich sein solle. Dies berge ein erhebliches Missbrauchsrisiko und könne so nicht gewollt sein. Vielmehr müsse es - gerichtlich überprüfbar - auf das tatsächliche Vorliegen höherer Gewalt ankommen. Höhere Gewalt liege nach der allgemeinen zivilrechtlichen Definition im vorliegenden Fall vor.
35
Die Beklagte habe nichts unternehmen können, um das Flugverbot für die bestellten Maschinen abzuwenden und die bestellten Flugzeuge planmäßig in Betrieb zu nehmen. Sie habe vier Maschinen des Typs Boeing 737 MAX 8 beim Flugzeughersteller Boeing rechtzeitig mit zwei Jahren Vorlaufzeit bestellt und die Flottengröße entsprechend geplant. Im Vorfeld habe nichts darauf hingewiesen, dass es möglicherweise an der Lufttüchtigkeit dieser Flugzeuge fehlen könnte und es behördliche Verbote geben könnte, die die Beklagte an der Nutzung der bestellten Maschinen hindern könnte. Einen derartigen Fall habe es auch in der Fluggeschichte noch nie gegeben. Die Beklagte treffe insoweit keinerlei Verschulden. Auch bei äußerster, noch zu erwartender Sorgfalt habe das Unterschreiten der Flottengröße nicht verhindert werden können. Für einen Übergangszeitraum von mehreren Wochen habe die Beklagte eine größere Anzahl Flugzeuge bereitgehalten, als es ihrer tarifvertraglichen Verpflichtung entsprach. Ein längerfristiges Bereithalten der größeren Flugzeugzahl könne von der Beklagten nicht verlangt werden. Im Tarifvertrag ist das Flugzeugmodell Boeing 737 vorgegeben. Für die Flugzeugmodelle Boeing 737 MAX 8 und Boeing 737 MAX 9 hätten zumindest bis Ende des Jahres 2020 weiterhin Flugverbote bestanden. Einen vergleichbaren Fall einer fehlenden Lufttüchtigkeit habe es noch nie gegeben.
36
Die Y habe sich zunächst geweigert, das Vorliegen höherer Gewalt festzustellen und versucht, die Beklagte in die Zahlungsverpflichtung zu drängen. Die Parteien hätten lange und ausgiebig darüber gestritten, ob höhere Gewalt vorliege und zum Gegenstand des am 23. Dezember 2020 eingeleiteten Rechtsstreits vor dem Arbeitsgericht E. gemacht. Die Einigung der Parteien, die dann außerhalb des gerichtlichen Verfahrens gefunden wurde, müsse insoweit berücksichtigt werden. Final seien die Tarifvertragsparteien also übereinstimmend davon ausgegangen, dass höhere Gewalt vorliegt. Jedenfalls sollten den Piloten keine Ansprüche wegen der Unterschreitung der zugesagten Flottengröße zustehen.
37
Schließlich sei die Anspruchsgrundlage für die Forderungen zwischenzeitig mehrmals, endgültig aber jedenfalls mit der „Protokollnotiz zur Tarifvereinbarung vom 23.11.2017“, abgeschlossen am 5. März 2021, aufgehoben worden. Die Tarifvertragsparteien seien sich darüber einig geworden, dass kein Mitarbeiter des Cockpitpersonals rückwirkende Ansprüche auf eine Vergütungserhöhung wegen Unterschreitung der zugesagten Mindestflottengröße oder auf die Vergütung von nicht abgerufenen Standby-Diensten haben solle. Diese rückwirkende Beseitigung der Anspruchsgrundlage für die Klageforderung sei auch zulässig. Der Kläger könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, da die Ansprüche von Anfang an umstritten gewesen seien und in der Betriebsöffentlichkeit über das Bestehen etwaiger Ansprüche diskutiert und die widerstreitenden Rechtsauffassungen von der Y und der Beklagten laufend in die Belegschaft kommuniziert worden seien. Der Streit habe sodann in dem bereits benannten Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht E. gegipfelt und sei durch die Vereinbarung vom 5. März 2021 beendet worden. Der Kläger habe also zu keinem Zeitpunkt davon ausgehen können, dass er eine rückwirkende Vergütungserhöhung auf Grundlage der Ziffer IV. der Tarifvereinbarung vom 23. November 2017 erhalten werde. Nicht nachvollziehbar sei, wenn der Kläger behaupte, die Thematik der höheren Gewalt habe er bereits im September 2019 ad acta gelegt. Es stelle sich dann die Frage, warum er die vorliegende Klage erst rund 1,5 Jahre später erhoben habe. Selbst wenn es so gewesen sein sollte, dass der Kläger im September 2019 davon ausgegangen sei, dass er Ansprüche gegen die Beklagte habe, so sei dieser Irrtum nicht auf schutzwürdigen Vertrauen begründet. Wenn ihm bekannt gewesen sei, dass über die Thematik gestritten wurde und hierzu keine Lösung gefunden werde, habe sich diese Unsicherheit manifestiert. Nur weil über einen Streit nicht mehr gesprochen werde, könne nicht angenommen werden, die Angelegenheit sei im Sinne der Piloten geklärt worden.
38
Soweit der Kläger sich darauf berufe, die Protokollnotiz vom 05.03.2021 sei in Ermangelung der Einhaltung des Schriftformerfordernisses unwirksam, so verkenne der Kläger weiterhin den Unterschied zwischen Vertretungsmacht einerseits und Schriftform andererseits. Aus der Berufungsbegründung ergeben sich keine weitergehenden Argumente. Insbesondere komme es nicht auf die Reichweite der Herrn G. erteilten Prokura an. Herr G. sei schon allein kraft seiner Stellung als Personalleiter befugt gewesen, die Beklagten in arbeitsrechtlichen Themen zu vertreten. Dazu habe offenkundig auch der Abschluss eines Tarifvertrages gehört. Im Übrigen sei noch darauf zu verweisen, dass in der Personalabteilung der Beklagten eine von beiden Tarifvertragsparteien ausgefertigte Fassung der Protokollnotiz vom 05.03.2021 vorliege, die auf Seiten der Beklagten sowohl vom seinerzeitigen Personalleiter, Herrn G., als auch vom seinerzeitigen Geschäftsführer, Herrn F., im Original unterzeichnet sei.
39
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufung wird auf die Schriftsätze vom 11.04.2022 (Bl. 577 ff. d. A.), vom 13.06.2022 (Bl. 683 ff. d. A.) nebst Anlagen sowie auf das Sitzungsprotokoll vom 21.09.2022 (Bl. 721 ff. d. A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

40
Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
I.
41
Die Berufung ist zulässig. Sie ist nach § 64 Abs. 2 ArbGG statthaft sowie frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520 ZPO).
II.
42
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht und mit zutreffender Begründung die Klage abgewiesen. Es hat zutreffend entschieden, dass der Kläger aufgrund der Protokollnotiz vom 05.03.2021 keinen Anspruch auf Gewährung einer 2,5%igen zusätzlichen linearen Gehaltssteigerung für die Zeit ab dem 01.01.2018 aus der Regelung des IV. Nr. 1 Abs. 2 der Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 und auch keinen Anspruch auf Vergütung für nicht abgerufene Standby-Dienste im Zeitraum ab April 2019 gemäß § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 hat. Zur Vermeidung von Wiederholungen schließt sich die Kammer ausdrücklich den zutreffenden Gründen des Ersturteils an und folgt diesen (§ 69 Abs. 2 ArbGG).
43
Das LAG Düsseldorf hat in seiner in einem Parallelfall getroffenen Entscheidung vom 26.08.2021, 8 Sa 505/20 (Revision anhängig beim BAG 5 AZR 27/22, Verhandlungstermin 30.11.2022) unter Heranziehung der einschlägigen Rechtsprechung des BAG überzeugend ausgeführt, dass die Auslegung der Protokollnotiz vom 05.03.2021 ergibt, dass damit die streitgegenständlichen Ansprüche gegenstandslos geworden sind und dass der Wirksamkeit dieser Vereinbarung keine unzulässige Rückwirkung zum Nachteil der normunterworfenen Arbeitnehmer entgegensteht. Die Kammer folgt in vollem Umfang der zitierten Entscheidung, sowie der Entscheidung des LAG München vom 27.04.2022, 5 Sa 739/21 (Revision anhängig beim BAG, 5 AZR 209/22). Hiernach gilt folgendes:1. Die Protokollnotiz vom 05.03.2021 hat Rechtsnormqualität und hat die in Ziff. IV. Nr. 1 Abs. 2 der Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 getroffenen Regelungen zum Wegfall gebracht.
44
1.1 Zunächst ist im Rahmen der Auslegung der von den Tarifvertragsparteien vereinbarten Protokollnotiz zu einem Tarifvertrag zu ermitteln, welcher Charakter der Abrede zukommen soll. Protokollnotizen können als Auslegungshilfe gemeint sein, sie können aber auch als schuldrechtliche oder normative Tarifnorm vereinbart sein. Ob eine zwischen Tarifvertragsparteien geschlossene Vereinbarung Rechtsnormcharakter hat, hängt neben der Erfüllung des Schriftformerfordernisses (§ 1 Abs. 2 TVG I.V.m. §§ 126, 126a BGB) davon ab, ob darin der Wille der Tarifvertragsparteien zur Normsetzung hinreichend deutlich zum Ausdruck kommt. Dies ist im Wege der Auslegung nach den allgemeinen Grundsätzen des bürgerlichen Rechts (§§ 133, 157 BGB) zu ermitteln (LAG Düsseldorf 26.08.2021, 8 Sa 505/20; BAG 16.05.2013, 6 AZR 836/11, ZTR 2013, 506, Rd. 17; BAG 26.09.2012, 4 AZR 689/10, juris, Rd. 27, BAG, 02.2020, 4 AZR 48/19, NZA 2020, 1121, Rdz. 31).
45
Steht danach fest, dass die in Rede stehende Protokollnotiz normativen Charakter hat, finden die generell bei der Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags auch für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln Anwendung. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an die Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (st. Rspr. vgl. BAG 13.7.2021, 3 AZR 363/20, Rn. 23; BAG 21.1.2020, 3 AZR 73/19, Rn. 27, jeweils m.w.N).
46
1.2. Nach diesen Grundsätzen besitzt die Protokollnotiz vom 05.03.2021 Rechtsnormqualität. Ihrem Wortlaut nach haben die Tarifvertragsparteien eine „Vereinbarung“ getroffen, sodass eine bloße Auslegungshilfe nicht gewollt sein kann. Weiterhin betrifft die Protokollnotiz unmittelbar das Schicksal von Ansprüchen „der Arbeitnehmer“, was mit einer rein schuldrechtlichen Abrede zwischen den Tarifvertragsparteien ohne weitere Außenwirkung nicht in Einklang zu bringen ist. Unter Berücksichtigung des Empfängerhorizonts der Beklagten verbietet sich jede andere Einschätzung, ging es dieser doch um eine rechtssichere Klärung der Auswirkungen des Unterschreitens der Flottengröße ab März 2019, was nach den bestehenden Tarifregelungen zu normativen Ansprüchen der Arbeitnehmer auf die Vergütung von Standby-Diensten und die Gewährung einer 2,5%igen Entgelterhöhung geführt hätte.
47
Die Regelung vom 05.03.2021 bedingt die im vorliegenden Verfahren streitgegenständlichen Ansprüche vollständig ab. Dieser übereinstimmende Wille der Tarifvertragsparteien kommt unter Berücksichtigung des Wortlauts, der Entstehungsgeschichte und des Normzwecks der Protokollnotiz hinreichend deutlich zum Ausdruck. Die Tarifvertragsparteien reagierten mit ihrer Formulierung auf den Inhalt der Tarifvereinbarung vom 23.11.2017, die an das Unterschreiten einer Mindestanzahl von Flugzeugen des Typs Boeing 737 das Entstehen bzw. Wiederaufleben finanzieller tarifvertraglicher Ansprüche knüpfte. Keiner dieser Ansprüche sollte bestehen, ansonsten wäre eine inhaltliche Differenzierung geboten gewesen. Deshalb kann auch keine Rolle spielen, dass der Anspruch auf die Vergütung nicht abgerufener Standby-Dienste im MTV Nr. 4 geregelt war und die Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 lediglich eine Sperre (III. Nr. 3) und eine „Sperre der Sperre“ (IV. Nr. 1 Abs. 1) enthielt. Dass die Tarifvertragsparteien sich nicht an den Begrifflichkeiten der Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 orientierten und etwa explizit das Vorliegen „höherer Gewalt“ feststellten, ändert nichts, weil mit der gewählten Formulierung gleichfalls klargestellt wird, dass alle mit dem Unterschreiten der Flottengröße zusammenhängenden Ansprüche nicht bestehen und es gerade nicht darauf ankommen sollte, ob das behördlich verordnete Grounding der Boeing 737 MAX 8 ein Fall höherer Gewalt war oder nicht (LAG Düsseldorf 26.08.2021, 8 Sa 505/20).
48
1.3. Auch das Schriftformerfordernis des § 1 Abs. 2 TVG ist gewahrt. Zwischen den Parteien ist zuletzt unstreitig, dass die Protokollnotiz aufseiten der Beklagten vom damaligen Geschäftsführer F. und dem damaligen Personalleiter im Original unterschrieben wurde, die gemeinsam vertretungsbefugt waren. Der Kläger hat entgegenstehenden früheren Vortrag ausdrücklich nicht aufrechterhalten (vgl. Protokoll vom 21.09.2022).
49
2. Die Protokollnotiz vom 05.03.2021 ist nicht wegen Verstoßes gegen das Rückwir kungsverbot unwirksam.
50
2.1. Das Arbeitsgericht hat unter Anwendung der einschlägigen Rechtsprechung bereits zutreffend festgestellt, dass tarifvertragliche Regelungen den immanenten Vorbehalt ihrer nachträglichen Abänderung durch Tarifvertrag in sich tragen. Ein jüngerer Tarifvertrag löst grundsätzlich einen älteren ab. Die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zur rückwirkenden Änderung tarifvertraglicher Regelungen ist allerdings durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes der Normunterworfenen begrenzt; es gelten insoweit die gleichen Regelungen wie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Rückwirkung von Gesetzen (BAG, Urteil vom 20.06.2018, 7 AZR 737/16. Rd. 23, Juris).
51
Zu unterscheiden ist danach zwischen echter und unechter Rückwirkung. Eine Rechtsnorm entfaltet echte Rückwirkung, wenn sie in einen abgeschlossenen Sachverhalt - insbesondere einen bereits entstandenen, nicht notwendig fälligen Tarifanspruch - nachträglich eingreift. Um eine unechte Rückwirkung handelt es sich demgegenüber, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet. Das ist der Fall, wenn belastende Rechtsfolgen erst nach ihrem Inkrafttreten eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits,,ins Werk gesetzten“ Sachverhalt ausgelöst werden (sog. „tatbestandliche Rückanknüpfung“) (BAG a.a.O., Rd. 24, Juris).
52
Unechte Rückwirkung ist grundsätzlich zulässig. Der zu beachtende Vertrauensschutz geht nicht so weit, den normunterworfenen Personenkreis vor Enttäuschungen zu bewahren. Die bloße allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde künftig unverändert fortbestehen, ist nicht schutzwürdig. Vielmehr müssen besondere Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten. Einer echten Rückwirkung hingegen sind durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes enge Grenzen gesetzt. Die Grundlage für schützenswertes Vertrauen besteht nur dann nicht mehr, wenn und sobald die Normunterworfenen mit einer Änderung des Tarifvertrags rechnen mussten. Dies bedingt, dass bereits vor der Entstehung des Tarifanspruchs hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Tarifvertragsparteien den - zukünftigen - Anspruch zuungunsten der Arbeitnehmer ändern werden. Dabei hat der Wegfall des Vertrauensschutzes nicht zur Voraussetzung, dass der einzelne Tarifunterworfene positive Kenntnis von den maßgeblichen Umständen hat. Entscheidend und ausreichend ist die Kenntnis der betroffenen Kreise (Grundsätze der ständigen Rechtsprechung: LAG Düsseldorf 26.08.2021, 8 Sa 505/20; BAG 20.06.2018, 7 AZR 737/16, Rn. 24 ff.; BAG, 06.12.2017, 10 AZR 575/16, Rn. 36 ff.; jeweils m.w.N.).
53
2.2 Aus der Anwendung dieser Grundsätze, denen sich die Kammer anschließt, ergibt sich, dass die Protokollnotiz vom 05.03.2021 nicht im Wege einer echten Rückwirkung in entstandene Tarifansprüche des normunterworfenen Cockpitpersonals der Beklagten eingreift. Die Ansprüche auf Vergütung nicht abgerufener Standby-Dienste und die Gewährung einer 2,5%igen Entgelterhöhung aus bzw. im Zusammenhang mit der Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 waren nicht schon mit der erstmaligen Unterschreitung der Mindestanzahl von 39 Flugzeugen des Typs Boeing 737 am 01.05.2019 (Beginn des Sommerflugplans) entstanden, sondern standen unter dem Vorbehalt, dass die Tarifvertragsparteien keinen Fall der höheren Gewalt als Ursache hierfür feststellten. Auch der Kläger geht hier von eine aufschiebenden bzw. auflösenden Bedingung aus. Sähe man das anders, führte IV. Nr. 2 Abs. 2 der Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 trotz der „Erlaubnis“ des Unterschreiten der Mindestflotte unter bestimmten Voraussetzungen dazu, dass für einen Zwischenzeitraum zunächst ein Anspruch auf die in Rede stehenden finanziellen Leistungen begründet würde, dieser jedoch bei übereinstimmender Feststellung des Vorliegens höherer Gewalt mit Rückwirkung wieder entfallen würde - mit den oben skizzierten rechtlichen Problemen des Schutzes des Vertrauens der normunterworfenen Arbeitnehmer. Bei Licht betrachtet könnte die Beklagte niemals ihrer Leistungspflicht entgehen, weil der Zeitpunkt der übereinstimmenden Feststellung der Tarifvertragsparteien zum Vorliegen höherer Gewalt zwingend später als das Ereignis datiert, das den Feststellungsbedarf erst auslöst. So gesehen war ab dem behördlich verordneten Einsatzverbot der Boeing 737 MAX 8 ein in der Entwicklung befindlicher Sachverhalt gegeben, der erst mit einer endgültigen Entscheidung beider Tarifvertragsparteien wegen des Vorliegens höherer Gewalt seinen Abschluss fand. Eine solche gab es vor dem 05.03.2021 indes nicht (LAG Düsseldorf 26.08.2021, 8 Sa 505/20). Für die Feststellung des Vorliegens „höherer Gewalt“ war auch keine Frist vorgesehen.
54
Die Protokollnotiz enthält weder vom Wortlaut, noch in ihrem Gesamtzusammenhang einen Hinweis darauf, dass allein das Vorliegen höherer Gewalt nach objektiven Kriterien maßgebend sein sollte. Hätten die Tarifvertragsparteien das gewollt, ergäbe IV. Nr. 2 Abs. 2 Satz 2 der Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 keinen Sinn. Die Regelung spricht vielmehr dafür, dass im Falle einer von beiden Seiten nicht beeinflussbaren, nicht vorhergesehenen Situation Gespräche und Verhandlungen stattfinden sollten, um eine adäquate Lösung zu erreichen. Es spricht aber auch viel dafür, dass für den Fall höherer Gewalt, nicht einer der Tarifparteien eine Blockademöglichkeit für notwendige Anpassungen zufallen sollte. Auch und gerade weil keine Konfliktlösungsklausel aufgenommen wurde, spricht demnach viel dafür, dass eine fehlende Zustimmung ggf. im Klagewege erzwungen werden kann, wenn die entsprechenden Umstände der höheren Gewalt vorliegen. Das LAG Düsseldorf (26.08.2021, 8 Sa 505/20) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass als solche nach allgemeiner Definition ein Ereignis verstanden wird, dass auch durch äußerste, billigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht vorausgesehen bzw. verhindert werden konnte (BAG 07.11.2002, 2 AZR 297/01, NZA 2003, 963, Rn. 85) und dass die eingetretene Situation des verhängten Flugverbots der Boeing 737 MAX 8, die im November 2017 noch nicht bekannt waren und nicht aus der Sphäre der Beklagten stammten, wohl diese Voraussetzung erfüllt.
55
Dies kann aber in der vorliegenden Entscheidung dahinstehen, weil in jedem Falle die Tarifvertragsparteien nach Eintritt des Flugverbots und der daran anschließenden Unterschreitung der vereinbarten Mindestanzahl von Flugzeugen des Typs Boeing 737 Verhandlungen über die Folgen aufgenommen und die Regelung zunächst befristet ausgesetzt, dann aufschiebend bedingt gestrichen um zuletzt in der Protokollnotiz vom 05.03.2021 endgültig gestrichen haben. Da keine Frist für die einvernehmliche Feststellung „höherer Gewalt“ bestand, war daher offen, ob die Beklagte verpflichtet war, die Vergütung rückwirkend zum 01.01.2018 zum 2,5% zu erhöhen und ob die Regelungen des MTV Nr. 4 über die Bezahlung von Standby-Diensten oder die Entschädigung von Dienstplanänderungen wiederaufleben sollten. Daher liegt eine zulässige unechte Rückwirkung vor, die schutzwürdige Erwartungen der betroffenen Arbeitnehmer nicht beeinträchtigte (im Ergebnis auch LAG Düsseldorf, 08.2021, 8 Sa 505/20).
56
2.3 Das Arbeitsgericht ist weiterhin zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger wie auch das übrige normunterworfene Cockpitpersonal zu keinem Zeitpunkt darauf vertrauen durfte, dass es nicht noch zu einer Feststellung des Vorliegens höherer Gewalt durch die Tarifvertragsparteien kommen oder die Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 - mit denselben Folgen für die Existenz der hier streitgegenständlichen Ansprüche - inhaltlich modifiziert werden würde.
57
Die Beklagte und die Y e.V. führten durchgehend Verhandlungen über die Frage, welche Folgen das Unterschreiten der vereinbarten Flottengröße haben sollte. Ausweislich des Informationsschreibens der Y e.V. vom 25.06.2019 wurden diese bereits im April 2019 und damit unmittelbar nach Verhängung des Flugverbotes für die Boeing 737 MAX 8 aufgenommen. Gemäß den weiteren zur Akte gereichten Schreiben beider Tarifvertragsparteien an die Belegschaft dauerten die Verhandlungen den ganzen Sommer 2019 über an und mündeten in den Tarifvertrag vom 20.11.2019, der im Zusammenspiel mit der Protokollnotiz vom 13.03.2020 die Ansprüche der normunterworfenen Arbeitnehmer aus der Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 zumindest modifizierte. Auch nach dessen Nichtzustandekommen wegen der in der Coronapandemie erfolgten Weigerung der Beklagten und der H., die beabsichtigten Langstreckenoperationen zu etablieren, blieben die Tarifvertragsparteien im Gespräch und setzten sich eine interne Erklärungsfrist bis zum 31.12.2020. Als die Y e.V. eine Verlängerung dieser Frist um ein weiteres Jahr verweigerte und ihren Mitgliedern die Geltendmachung ihrer Ansprüche etwa auf Vergütung der Standby-Dienste in den Vorjahren und auf Gewährung der 2,5%igen Gehaltserhöhung ab dem 01.01.2018 nahelegte, reagierte die Beklagte noch vor dem 31.12.2020 mit der Klage beim Arbeitsgericht E. auf Abgabe einer Erklärung zum bzw. Feststellung des Vorliegens höherer Gewalt. Dieser Rechtsstreit dauerte an, bis die Beklagte infolge der Einigung vom 05.03.2021 und des Abschlusses der Protokollnotiz die Klage zurücknahm.
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Von den maßgeblichen Umständen und Entwicklungen besaßen der Kläger und generell die „betroffenen Kreise“ auch Kenntnis. Über den Verhandlungsverlauf im Jahre 2019 und die wechselseitigen Standpunkte wegen des Vorliegens höherer Gewalt wurden die normunterworfenen Mitarbeiter durch die Schreiben der Beklagten und der Y informiert, das Problem „lag auf dem Tisch“.
59
Ob dem Kläger bzw. den betroffenen Kreisen zwischen dem 12.03.2019 und dem 25.06.2019 explizit Mitteilung von den schwebenden Verhandlungen der Tarifvertragsparteien gemacht wurden, kann dahin stehen, weil jedenfalls der Umstand des Groundings der Boeing 737 MAX 8 allgemein und sogar öffentlich bekannt war und den normunterworfenen Mitarbeitern der Beklagten bei bloßer Lektüre der Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 klar sein musste, dass die Tarifvertragsparteien deshalb Gesprächsbedarf wegen des Vorliegens höherer Gewalt haben würden und insoweit eine entsprechende gemeinsame Feststellung im Raume stand. Dass sich die Feststellung zur höheren Gewalt mit der Ablehnung der Etablierung einer Langstrecke bei der Beklagten und damit der Nichtgeltung des Buchstaben D. des Tarifvertrages vom 20.11.2019 / der Protokollnotiz vom 13.03.2020 erledigt haben würde, konnte verständigerweise nicht angenommen werden, da sich die wirtschaftliche Situation der Beklagten durch die Coronapandemie offensichtlich weiter verschlechtert und nicht etwa verbessert hatte. Abgesehen davon lässt das Vorgehen der Y e.V. in der 2. Jahreshälfte 2020 darauf schließen, dass sie ihre Mitglieder über das mit der Beklagten getroffene Stillhalteabkommen (Verzicht auf den Lauf von Ausschlussfristen gegen Verlängerung der Frist für eine Feststellung zur höheren Gewalt bis zum 31.12.2020) informiert hatte, denn diese klagten in über 230 Fällen erst, als sie vom Fristablauf erfuhren und von der Y e.V. zur Klage aufgefordert wurden. Anhaltspunkte dafür, dass die betroffenen Kreise keine Kenntnis von der daraufhin anhängig gemachten Klage der Beklagten gegen die Y e.V. hatten, sind nicht ersichtlich. So oder so waren die Tarifvertragsparteien nicht gehindert, auch ohne Klageverfahren noch zu einer für die Beklagte positiven Einigung zu gelangen.
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Die normunterworfenen Arbeitnehmer konnten auch nicht deshalb auf ein Ausbleiben der Feststellung höherer Gewalt vertrauen, weil die Laufzeit der Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 am 31.12.2020 endete. Das Datum kann nach der Systematik der Regelungen keine starre zeitliche Grenze darstellen, da IV. Nr. 2 Abs. 2 Satz 2 keine Frist für die dort geforderte Feststellung beinhaltet und es den Tarifvertragsparteien auch bei einem etwa in der 2. Jahreshälfte 2020 liegendem Ereignis, welches zu einem Unterschreiten der Mindestflottengröße führte, möglich sein musste, über seine Charakterisierung als höhere Gewalt zu verhandeln und Einvernehmen herzustellen (LAG Düsseldorf 26.08.2021, 8 Sa 505/20).
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Insgesamt mussten die normunterworfenen Arbeitnehmer solange damit rechnen, dass eine Einigung zwischen den Tarifpartnern erzielt wird, als sie keine gesicherte Kenntnis vom Gegenteil erhalten haben.
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3. Deshalb kann auch dahinstehen, ob die in der Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 vorgenommene Verknüpfung der Gewährung der eingeklagten Leistungen an die (tarifgebundenen) Angehörigen des Cockpitpersonals der Beklagten mit dem Erreichen bzw. Unterschreiten einer Mindestflottengröße von 39 Flugzeugen des Typs Boeing 737 ab dem 01.05.2019 (dort I. Nr. 1, III. Nr. 3, IV. Nr. 1) rechtlich zulässig ist oder einen ungerechtfertigten Eingriff in den Kernbereich der unternehmerischen Betätigungsfreiheit der Beklagten darstellt. Ebenfalls keiner Erörterung bedarf es, ob das im März 2019 behördlich verordnete Grounding der Boeing 737 MAX 8 objektiv einen Fall „höherer Gewalt“ i.S. von IV. Nr. 2 Abs. 2 der Tarifvereinbarung vom 23.11.2017 bildet (LAG Düsseldorf 26.08.2021, 8 Sa 505/20).III.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 64 Abs. 6 ArbGG, 97 Abs. 1 ZPO.
IV.
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Dem Rechtsstreit kommt wegen der in Frage stehenden tariflichen Ansprüche und bislang nicht geklärter Rechtsfragen, die u.a. bereits im Verfahren 5 AZR 27/22 beim BAG anhängig sind, bis zu ihrer Entscheidung grundsätzliche Bedeutung zu, sodass die Revision zum Bundesarbeitsgericht gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen wird.