Titel:
Dublin-Verfahren (Spanien)
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a
Dublin III-VO Art. 13 Abs. 1, Art. 17 Abs. 1
GG Art. 6
EMRK Art. 8
GRCh Art. 7
Leitsatz:
Besteht die Gefahr, dass durch eine Überstellung im Rahmen eines Dublin-Verfahrens ein im Familienverband lebendes Kleinkind von einem seiner Elternteile mindestens für die Dauer eines nationalen Verfahrens voraussichtlich getrennt würde, ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verpflichtet, von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO Gebrauch zu machen. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Verpflichtung zum Selbsteintritt, Familienvater, Kind und traditionelle Ehefrau im nationalen Verfahren, Grundrecht auf Achtung der Familieneinheit, traditionelle Eheschließung, Familienverband, Selbsteintritt, Kindeswohl, Achtung des Familienlebens
Fundstelle:
BeckRS 2022, 36365
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. Mai 2022 (* … …*) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig im Rahmen des sogenannten „Dublin-Verfahrens“.
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1. Der Kläger, ein nach eigenen Angaben am … … 1988 in Logouale/Elfenbeinküste geborener ivorischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 22. Januar 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 22. Januar 2022 schriftlich Kenntnis erlangte.
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Am 31. März 2022 stellte er einen förmlichen Asylantrag, zu dessen Zuständigkeit und Zulässigkeit er am 31. März 2022 und 13. April 2022 angehört wurde. Dabei gab er an, sein Heimatland Ende 2019 verlassen und über Mali, Senegal, Mauretanien, Marokko, Spanien und Frankreich nach Deutschland eingereist zu sein. Vom 30. Oktober 2022 bis 18./19. Januar 2022 habe er sich in Spanien aufgehalten. Er wolle in Deutschland zusammen mit seiner traditionellen Ehefrau, Frau … …, die er 2018 in der Elfenbeinküste in Man traditionell geheiratet habe, und dem gemeinsamen am 17. März 2022 in Schweinfurt geborenen Sohn … … leben.
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Frau … …, eine nach eigenen Angaben am 1. März 2000 geborene ivorische Staatsangehörige, reiste nach eigenen Angaben am 12. Februar 2022 über Mali, Senegal, Mauretanien, Marokko, Spanien und Frankreich nach Deutschland ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt am 12. Februar 2022 durch behördliche Mitteilung der Bundespolizeiinspektion … schriftlich Kenntnis erlangte. Sie legte eine Fahrkarte für eine Flixbusfahrt von Barcelona nach … vom 11. Februar 2022 vor. Eine Eurodac-Treffersuche vom 18. Februar 2022 blieb ohne Ergebnis. Am 31. März 2022 stellte sie einen förmlichen Asylantrag. über den noch nicht entschieden ist.
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Nachdem eine EURODAC-Abfrage vom 22. Januar 2022 ergeben hatte, dass der Kläger am 9. Dezember 2021 in Spanien erkennungsdienstlich behandelt worden war, richtete das Bundesamt am 17. März 2022 ein Aufnahmegesuch an Spanien. Mit Schreiben vom 23. März 2022 erklärten die spanischen Behörden ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags nach Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO.
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Für Frau … … wurde kein Aufnahmegesuch gestellt.
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2. Mit Bescheid vom 24. Mai 2022, dem Kläger am 2. Juni 2022 persönlich ausgehändigt, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorlägen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 21 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4).
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Spanien sei aufgrund der illegalen Einreise gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig. Die traditionelle Eheschließung sei im Dublinverfahren unbeachtlich. Da keine zivilrechtlich wirksame Ehe bestehe, sei Frau … … keine Familienangehörige i.S.d. Art. 2 g) Dublin III-VO. Nachweise für die Vaterschaft seien nicht erbracht worden. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid Bezug genommen.
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3. Am 3. Juni 2022 erhob der Kläger dagegen Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg.
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Zur Begründung trug er unter Vorlage einer beurkundeten Vaterschaftsanerkennung und gemeinsamen Sorgeerklärung jeweils vom 12. Mai 2022 vor, bei seiner traditionellen Ehefrau und dem gemeinsamen Sohn, mit denen er zusammen in der ANKER-Einrichtung … lebe, bleiben zu wollen. Er wolle sich um seinen Sohn kümmern und seiner traditionellen Ehefrau zur Seite stehen.
- 1.
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Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 2. Juni 2022 wird aufgehoben.
- 2.
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Die Beklagte wird verpflichtet, ein Asylverfahren nach nationalem Recht durchzuführen.
- 3.
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Hilfsweise wird die Beklagte verpflichtet, festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Spanien vorliegt.
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Die Beklagte beantragt,
13
Zur Begründung bezieht sie sich auf den angegriffenen Bescheid.
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Der Rechtstreit wurde mit Beschluss vom 7. Juni 2022 auf die Einzelrichterin übertragen.
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Mit Beschluss vom 22. Juni 2022 ordnete das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage an (W 2 S 22.50237).
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten im zugrundliegenden Verfahren sowie im Sofortverfahren W 2 K 21.50237 und den Inhalt der Behördenakte des Bundesamts zum Asylverfahren des Klägers sowie seiner traditionellen Ehefrau … …, welche dem Gericht in elektronischer Form vorliegen, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die mit Einverständnis der Parteien ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
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Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 2022 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO.
19
Aufgrund der durch Eurodac-Treffer vom 22. Januar 2022 nachgewiesenen erkennungsdienstlichen Behandlung des Klägers in Spanien war zwar gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO zunächst Spanien für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers zuständig. Die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO ist auch noch nicht abgelaufen. Jedoch kann sich die Beklagte nicht auf die Zuständigkeit Spaniens berufen.
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Denn der Kläger hat aufgrund der bestehenden, durch Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 7 GRCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Familieneinheit mit seinem am 17. März 2020 in … geborenen Sohn einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch die Beklagte nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO.
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Nach Art. 17 Abs. 1 Dublin Ill-VO kann jeder Mitgliedsstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in der Dublin Ill-VO festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Zwar ist anerkannt, dass die Mitgliedsstaaten bei der Ausübung dieses Selbsteintrittsrechts ein weit gefasstes Ermessen haben. Dieses Ermessen verdichtet sich aber dann zu einer Pflicht zum Selbsteintritt, wenn jede andere Entscheidung unvertretbar wäre, weil außergewöhnliche humanitäre, familiäre oder krankheitsbedingte Gründe vorliegen, die nach Maßgabe der Werteordnung der Grundrechte einen Selbsteintritt erfordern (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 - 13a B 15.50124 - juris; VG München, GB v. 29.2.2016 - M 12 K 15.50784 - juris). In Zusammenschau mit Art. 16 und 17 Abs. 2 Dublin III-VO handelt es sich hierbei vornehmlich um familiäre Gründe sowie weitere humanitäre Gründe wie Krankheit oder die Aussicht auf Erteilung einer Duldung (Vollrath in BeckOK MigR, Art. 17 Dublin III-VO Rn. 1).
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Solche zwingenden humanitären (familiären) Gründe liegen hier vor. Denn bei einer Überstellung des Klägers nach Spanien würde eine zeitlich nicht absehbare Trennung des Klägers von seinem am 17. März 2020 in … geborenen Sohn drohen, mit dem der Kläger - zusammen mit der mit ihm traditionell verheirateten Kindesmutter, mit der er gemeinsam das Sorgerecht ausübt - in familiärer Gemeinschaft lebt.
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Die Asylanträge des Sohnes des Klägers und der Kindesmutter prüft die Beklagte im nationalen Verfahren. Eine Rechtsgrundlage für ihre Aufnahme in Spanien ist nicht ersichtlich. Bei einem Vollzug der Abschiebungsanordnung nach Spanien würde Familieneinheit der Kernfamilie, bestehend aus Eltern und Kind, auseinandergerissen. Der Kläger befände sich in Spanien im Asylverfahren ohne die Möglichkeit der Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft mit seinem kleinen Sohn und der Kindesmutter, welche sich im Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland befänden.
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Eine solche Trennung von Vater und Sohn wäre mit dem von Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 7 GRCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Recht auf Wahrung der Familieneinheit unvereinbar.
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Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ist im Lichte der Grund- und Menschenrechte auszulegen und anzuwenden. Die grundsätzliche Wahrung der Familieneinheit ist ein ganz maßgebliches Ziel der Dublin III-VO. So sollen nach den Erwägungsgründen 13 und 14 der Dublin III-VO bei der Anwendung der Regelungen der Dublin III-VO das Wohl des Kindes und die Achtung des Familienlebens vorrangige Erwägungen der Mitgliedstaaten sein. Erwägungsgrund 15 der Dublin III-VO betont, dass mit der gemeinsamen Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedstaat insbesondere sichergestellt werden kann, dass die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden (VG München, U.v. 8.9.2022 - M 10 K 16.50556, M 10 K 20.50362, M 10 K 20.50363 - juris)
26
Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben besteht eine Verpflichtung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO Gebrauch zu machen, wenn durch eine Überstellung im Rahmen eines Dublin-Verfahren ein im Familienverband lebendes Kleinkind von einem seiner Elternteile mindestens für die Dauer eines nationalen Verfahrens voraussichtlich getrennt würde (VG Berlin, U.v. 5.1.2022 - 34 K 345/20 A - juris; vgl. auch VG Würzburg, GB v. 19.2.2021 - W 2 K 20.50296 - juris).
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Nach alledem ist vorliegend die Zuständigkeit Spaniens entfallen und ein Asylverfahren in nationaler Zuständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland durchzuführen.
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Aufgrund der Rechtswidrigkeit von Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides erweisen sich auch die übrigen Regelungen in Ziffern 2 bis 4 des angefochtenen Bescheides als rechtswidrig (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 - juris).
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Der angefochtene Bescheid war daher insgesamt aufzuheben.
30
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG.