Titel:
Kinder- und Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, Hilfeart, geeignete, Online-Schule, Berufsschulpflicht, Kernbereich schulischen Handelns, Systemversagen der Schule, verneint, Beurteilungsspielraum des Jugendamts, Verdichtung des Beurteilungsspielraums, Hilfe in Teilbereich, Gutachten des Gesundheitsamts, Verwertbarkeit, Verfahrensbeteiligung, Mitwirkung am Hilfeplanverfahren, Verweigerung der Mitwirkung, Hilfeplan, fehlender, Unvereinbarkeit einer Teil-Hilfe mit den Grundsätzen der Eingliederungshilfe
Normenketten:
SGB VIII § 35a
SGB IX § 90
SGB IX § 112 Abs. 1
BayEUG Art. 39
BayEUG Art. 35 Abs. 2
SGB VIII § 10 Abs. 1 S. 1
SGB VIII § 36 Abs. 2
SGB VIII § 79 Abs. 1
SGB VIII § 80 Abs. 1
Schlagworte:
Kinder- und Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, Hilfeart, geeignete, Online-Schule, Berufsschulpflicht, Kernbereich schulischen Handelns, Systemversagen der Schule, verneint, Beurteilungsspielraum des Jugendamts, Verdichtung des Beurteilungsspielraums, Hilfe in Teilbereich, Gutachten des Gesundheitsamts, Verwertbarkeit, Verfahrensbeteiligung, Mitwirkung am Hilfeplanverfahren, Verweigerung der Mitwirkung, Hilfeplan, fehlender, Unvereinbarkeit einer Teil-Hilfe mit den Grundsätzen der Eingliederungshilfe
Fundstelle:
BeckRS 2022, 36355
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
1
Der am … 2006 geborene Kläger ist das Kind seiner allein erziehenden Mutter (im Folgenden: Kindsmutter). Die Parteien streiten um die Kostenübernahme durch den Beklagten für die Beschulung durch die Web-Individualschule B.
2
1. Für den Kläger liegen folgende ärztliche Diagnosen vor:
a) Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Dr. M. S. vom 9. Februar 2010:
- Anpassungsstörung mit emotionaler Symptomatik,
3
Es lägen Anpassungsreaktionen auf die destabilisierende familiäre Vorgeschichte vor. Eine hinreichend klare diagnostische Zuordnung der Hinweise auf eine Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung sei aufgrund der Überschneidung mit Anpassungseffekten aktuell nicht möglich. Der Kläger benötige ein verlässliches und strukturgebendes familiäres Umfeld.
b) Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. K. E. vom 12. Juni 2013:
- Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens.
4
Das Gutachten werde in Bezug auf die Frage nach der Notwendigkeit eines Schulbegleiters erstellt. Der Kläger weise einen IQ von 88 auf. Nachdem eine medikamentöse Einstellung auf Methylphenidat erfolgt sei, habe sich das Problemverhalten mit fast unerträglichen Situationen in Schule und Zuhause deutlich entspannt. Der Kläger zähle zum Personenkreis der Kinder- und Jugendlichen, für welche Maßnahmen nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII erforderlich seien. Eine Schulbegleitung werde zum jetzigen Zeitpunkt nicht für erforderlich gehalten, dies aufgrund der Entspannung der Situation durch die Medikation.
c) Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der L.-Krankenhaus GmbH S. vom 24. August 2016:
- Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens.
5
Aufgrund einer tagesklinischen Behandlung vom 21. März 2016 bis zum 24. August 2016 werde die Fortführung der medikamentösen Behandlung empfohlen, dies aufgrund der ausgeprägten Alltagsbeeinträchtigung durch die bestehende hyperkinetische Störung.
d) Dr. A. B.-L. vom 24. Januar 2020:
- ADHS mit ausgeprägter Verhaltensstörung.
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Diese Problematik mache eine regelhafte und sinnvolle Beschulung äußerst schwer. Eine Inobhutnahme solle zurückgestellt werden, bis die stationäre Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Würzburg durchgeführt worden sei.
e) Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Dr. M. S. vom 12. August 2020:
- einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung,
- Anpassungsstörung mit emotionaler Symptomatik,
- kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten.
7
Im Einzeltestverfahren WISC-V habe der Kläger ein Gesamtergebnis im durchschnittlichen Bereich (Gesamt-IQ 93) erreicht.
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2. Der Kläger besuchte zunächst eine Kindertagesstätte, aus welcher er am 31. Mai 2010 wegen seines problematischen Sozialverhaltens ausgeschlossen wurde. Anschließend besuchte er die schulvorbereitende Einrichtung (SVE) des Sonderpädagogischen Förderzentrums F.-L.-v.-E.-Schule H. Vom Schuljahr 2012/2013 bis zum 15. Februar 2018 war er Schüler dieser Schule. Vom 16. Februar 2018 bis zum Ende des Schuljahrs 2018/2019 besuchte er die C.-S.-S. S., eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Im Schuljahr 2019/2020 wurde er als Schüler des Sonderpädagogischen Förderzentrums mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung D.-S.-Schule P. geführt. Aufgrund verschiedener Verhaltensauffälligkeiten wurde der Kläger mehrfach aus den den entsprechenden Schulen angeschlossenen Tagesstätten ausgeschlossen. Eine Beschulung war aufgrund erheblicher Verhaltensprobleme mit Auseinandersetzungen und aggressiven Übergriffen einschließlich Fremdgefährdung zeitweise nur eingeschränkt, kaum oder nicht möglich. Entsprechende Pläne, dieser Problematik mit dem Einsatz einer Schulbegleitung zu begegnen, konnten nicht umgesetzt werden. Der Beklagte gewährte der Mutter des Klägers mehrfach Hilfe zur Erziehung in Form sozial-pädagogischer Familienhilfen, in Form einer Erziehungsbeistandschaft und in Form der Kostenübernahme für den Besuch einer heilpädagogischen Tagesstätte sowie in deren Rahmen in Form der Maßnahme „Back to School“. Anlässlich eines Hausbesuchs bei der Familie des Klägers stellte die sozialpädagogische Familienhilfe fest, dass der Kläger bei Abwesenheit seiner Mutter und deren Partner in seinem Zimmer eingeschlossen war.
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3. Aus einem Bericht des Förderzentrums P. vom 11. Oktober 2019 ergibt sich, dass sich der Kläger im Moment kaum bis gar nicht beschulbar zeige und täglich aus dem Unterricht entweiche. Er sei nur körperlich zu begrenzen. Gemäß einem Gespräch zwischen dem Förderzentrum P. und dem Beklagten werde der Kläger zunehmend fremdgefährdend. Er wolle nicht mehr in die Schule und in die HPT gehen, sondern lieber in seinem Zimmer spielen. Die Kindsmutter habe zugegeben, den Kläger einzusperren, wenn sie selbst das Haus verlasse. In der Folge kam es zu verschiedenen problematischen Vorfällen und Verhaltensweisen in der Schule.
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Gemäß einem Aktenvermerk vom 14. Oktober 2019 hielt das Jugendamt des Beklagten die Bewertung fest, der Kläger zeige sich als Systemsprenger, der kaum mehr führbar sei. Eine stationäre Unterbringung erscheine unumgänglich, auch gegen den Willen der Kindsmutter.
11
Aufgrund seines Verhaltens wurde der Kläger mit Schreiben vom 15. Oktober 2019 für die Zeit vom 16. Oktober bis zum 22. Oktober 2019 vom Unterricht ausgeschlossen.
12
Gemäß eines von der HPT eingeforderten Gesprächs unter Beteiligung des Beklagten, der Schule und der Kindsmutter vom 23. Oktober 2019 habe sich die Kindsmutter für den Kläger einen Schulbegleiter gewünscht. Dies werde jedoch von allen Fachkräften nicht für zielführend gehalten, da hierdurch beim Kläger keine Entwicklung erwirkt werden könne. Die Kindsmutter wolle eine Heimbeschulung für den Kläger erreichen und habe den Schulbesuch des Klägers verweigert. Man habe sich auf eine Minimalbeschulung geeinigt.
13
Aus Kontakten zwischen dem Beklagten und der HPT P. vom 15. November 2019 und 12. Dezember 2019 ergibt sich ein lediglich sporadischer Schulbesuch durch den Kläger sowie von ihm hervorgerufene Fremdgefährdungen.
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Unter dem 16. Januar 2020 rief der Beklagte gemäß § 8a SGB VIII das Amtsgericht - Familiengericht - H. an mit der Begründung, die Familie sei nicht in der Lage, die multidimensionalen Problemlagen und elterlichen Verantwortungsbereiche im Sinne des Klägers zu regeln. Eine vom Beklagten empfohlene stationäre Unterbringung lehne die Kindsmutter ab. Der Beklagte werte die Situation als Kindeswohlgefährdung.
15
Mit Bescheid vom 13. Februar 2020 übernahm der Beklagte für den Kläger ab dem 27. Januar 2020 im Rahmen der Jugendhilfe die Kosten der teilstationären Betreuung im Rahmen der Maßnahme „Back to School“. Dem lag die Erkenntnis zugrunde, eine Betreuung des Klägers in der HPT sei nicht mehr möglich, da der Schutz sowie die positive Entwicklung der anderen Kinder durch das Verhalten des Klägers zu sehr beeinträchtigt worden sei.
16
Mit Bescheid vom 24. März 2020 stellte der Beklagte die Hilfe zur Erziehung in Form der Maßnahme „Back to School“ mit Ablauf des 22. Februar 2020 ein. Grund hierfür war die Aufnahme des Klägers am 24. Februar 2020 in die stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie W. Mit Schreiben vom 3. April 2020 ließ die Kindsmutter dem Amtsgericht H. mitteilen, dass sich der Kläger aufgrund der Schließung der Klinik wegen der Corona-Pandemie wieder zu Hause befinde.
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Aufgrund einer Anfrage teilte die Kindsmutter dem Beklagten unter dem 24. Juni 2020 mit, seit der Entlassung aus der Klinik habe sie, die Kindsmutter, den für den Kläger angepassten Lernstoff besorgt.
18
Mit Schreiben vom 2. Juli 2020 teilte der Beklagte dem Amtsgericht H. mit, dass der Kläger seit der Entlassung aus der Klinik Ende März 2020 zu Hause sei. Die Schule sei hierüber nicht informiert worden und sei davon ausgegangen, dass der Kläger sich weiter in der Klinik befinde.
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Mit Arztbrief vom 12. August 2020 vertrat der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Dr. M. S. die Auffassung, in Anbetracht der komplexen Problematik und der nach wie vor nicht gegebenen Beschulbarkeit sei eine stationäre Wiederaufnahme in die Kinder- und Jugendpsychiatrie Würzburg dringend indiziert, um eine Beschulung sukzessive anzubahnen. Nach deren Beendigung werde ein Schulbegleiter erforderlich sein, um im heimischen Setting den Schulbesuch zu ermöglichen.
20
Zum Schuljahr 2020/2021 wurde der Kläger an der A.-D.-Mittelschule H. (im Folgenden: Mittelschule H.*) angemeldet.
21
Mit drei Schriftsätzen vom 24. August 2020 beantragte die Kindsmutter beim Beklagten die Gewährung einer sozialpädagogischen Familienhilfe, die Bewilligung von Eingliederungshilfe in Form eines Schulbegleiters für den Kläger sowie die Bewilligung von Eingliederungshilfe in Form der Kostentragung für den Besuch der Web-Individualschule/F. Schule Ba. für den Kläger. Verschiedene Einladungen des Beklagten zu einem gemeinsamen Gespräch zur Feststellung der entsprechenden Hilfebedarfe lehnte die Kindsmutter mit Schreiben vom 6. September 2020, vom 14. September 2020 und vom 30. September 2020 ab.
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Mit Schreiben vom 15. September 2020 teilte die Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie W. der Kindsmutter mit, zwar habe Dr. M. S. am 12. August 2020 eine Aufnahme in die Klinik empfohlen, um sukzessive eine Beschulung des Klägers anzubahnen; die Kindsmutter und die Klinik hätten jedoch keine gemeinsamen Ziele für die Begründung einer stationären Behandlung in der Klinik finden können. Eine Aufnahme sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht indiziert.
23
Unter dem 18. September 2020 beantragte die Kindsmutter für den Kläger Eingliederungshilfe in Form einer Autismusspezifischen Förderung durch die Autismus-Ambulanz der Stadtmission N. Am 4. Oktober 2020 beantragte die Kindsmutter beim Bezirk Unterfranken für den Kläger Eingliederungshilfe in Form der Kostentragung für den Besuch der Web-Individualschule B. oder der H. Online Schule Bo. Der Bezirk U. leitete diesen Antrag mit Schreiben vom 8. Oktober 2020 an den Beklagten weiter.
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Mit Beweisbeschluss vom 6. Oktober 2020 erhob das Amtsgericht - Familiengericht - H. Beweis durch Einholung eines familienpsychologischen Sachverständigengutachtens darüber, ob ein Verbleib des Klägers im Haushalt der Kindsmutter dessen Wohl gefährde und gegebenenfalls welche Erziehungshilfen aus sachverständiger Sicht erforderlich und ausreichend seien, um eine Herausnahme des Klägers aus dem mütterlichen Haushalt zu vermeiden. Mit der Erstattung des Gutachtens wurde die Gutachterin G.-S. beauftragt.
25
Im Rahmen eines vom Staatlichen Schulamt im Landkreis Haßberge initiierten Gesprächs am 8. Oktober 2020 unter Beteiligung des Leiters der Mittelschule H. und des Jugendamts des Beklagten zur Klärung der schulischen Perspektive machte das Staatliche Schulamt der Kindsmutter deutlich, die genannten Online-Schulen seien keine in Bayern anerkannten Schulen, so dass dort die Schulpflicht nicht absolviert werden könne. Demgegenüber stellte das Staatliche Schulamt die Möglichkeit in den Raum, durch den Mobilen Sonderpädagogischen Dienst (MSD) abzuklären, in welchem Maß der Kläger beschulbar sei und anhand dessen eine ganz individuell auf den Kläger abgestimmte Beschulungsform auszuarbeiten. Allerdings könne der Kläger nicht jeden Tag von zu Hause beschult werden. Die Kindsmutter forderte die Bewilligung eines Schulbegleiters, ohne einen entsprechenden Schulbesuch des Klägers in Aussicht zu stellen.
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Am 16. Oktober 2020 kam es zu einem Gespräch zwischen der Kindsmutter und Vertretern des Beklagten, jedoch ohne den Kläger.
27
Mit Bescheid vom 28. Oktober 2020 gewährte der Beklagte dem Kläger Eingliederungshilfe in Form einer Autismusspezifischen Therapie.
28
Mit Schreiben vom 17. Dezember 2020 lehnte die Kindsmutter den Vorschlag des Jugendamts, eine Erziehungsbeistandschaft einzurichten, ab.
29
Aus einem Zwischenbericht der Mittelschule H. vom Dezember 2020 ergibt sich die Betreuung des Klägers seit dem 26. Oktober 2020 telefonisch und per Zoom Call in den Fächern Mathematik und Deutsch. Gleiches ergibt sich aus einem Zwischenbericht vom Februar 2021, in welchem zusätzlich das Ziel angegeben ist, den Kläger langsam an den Präsenzunterricht heranzuführen. Hierfür sei eine Schulbegleitung für zwei bis drei Unterrichtsstunden pro Schultag erforderlich.
30
Unter dem 9. März 2021 teilte die Gutachterin G.-S. dem Amtsgericht H. mit, die Kindsmutter sei nicht bereit, sich den anstehenden Untersuchungen für das Sachverständigengutachten zu unterziehen.
31
Im Rahmen einer Feststellung des Bedarfs für den Kläger am 26. März 2021 wurde festgestellt, dass der Kläger aktuell zu Hause beschult werde und hierbei die Mittelschule H. und das Förderzentrum H. eng miteinander arbeiteten, um den Kläger bestmöglich und individuell zu fördern. Nach den Osterferien solle der Kläger wieder an einen Unterricht im Schulgebäude herangeführt werden. Hierfür solle der Kläger für vier Unterrichtsstunden pro Tag eine Schulbegleitung erhalten. Er solle zunächst an mindestens drei Tagen pro Woche in der Schule sein. Grundziel der Maßnahme sei die dauerhafte Beschulung in der Klassengemeinschaft.
32
Am 28. Juni 2021 teilte die Mittelschule H. dem Beklagten mit, es habe bislang keine passende Fachkraft als Schulbegleitung gefunden werden können. Eine mögliche Fachkraft habe die Übernahme abgelehnt. Man habe die Stelle nun offiziell ausgeschrieben. Der Kläger werde momentan im Home-Schooling beschult.
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Am 22. August 2021 beantragte die Kindsmutter für den Kläger Eingliederungshilfe in Form der Kostentragung für den Besuch der Web-Individualschule B. Diesen Antrag leitete der Bezirk Unterfranken am 25. August 2021 an den Beklagten weiter.
34
Mit Schreiben vom 31. August 2021 teilte die Kindsmutter dem Beklagten mit, der Kläger benötige einen Schulabschluss, die Web-Individualschule sei die einzige Möglichkeit, wo er diesen erreichen könne.
35
Auf der Grundlage eines Kontakts mit dem Kläger zusammen mit der Kindsmutter und deren Lebensgefährten im Rahmen eines Therapietermins und unter Verwendung von Diagnose- bzw. Entwicklungsberichten führte die Sachverständige G.-S. unter dem 15. September 2021 aus, aus fachpsychologischer Sicht sei eine Einzelbetreuung durch vertraute Personen einer Fremdbetreuung in der Gruppe mit wechselnden Bezugspersonen vorzuziehen, soweit die betreuenden Personen psychisch und mental dazu in der Lage seien, auf die spezifische Störungslage einzugehen. Allerdings liege dieser Einschätzung lediglich eine punktuelle Exploration zugrunde, da der Sachverständigen kein erweiterter Untersuchungsrahmen, wie z.B. ein Hausbesuch von Seiten der Kindsmutter ermöglicht worden sei. Die Konfliktlage zwischen der Kindsmutter und dem Jugendamt des Beklagten wertete die Sachverständige als einen Kommunikations- und Interaktionskonflikt. Die Gutachterin schlug ein von ihr moderiertes Gespräch zur Lösungsfindung vor. Dieses kam nicht zustande, da sich die Parteien nicht über den Ort des Gesprächs einigen konnten. Dies teilte die Gutachterin dem Amtsgericht H. unter dem 12. November 2021 mit und berichtete von einem Telefonat mit dem Leiter der Mittelschule H., welcher bedauert habe, dass das ausgearbeitete Konzept zur individualisierten Präsenzbeschulung des Klägers aufgrund eines fehlenden Schulbegleiters nicht habe durchgeführt werden können. Man habe eine Präsenzbeschulung angedacht, die in einem gesonderten Raum außerhalb des Klassenverbands per Videoübertragung des Live-Unterrichts erfolgen könne. Hierzu sei die Anwesenheit eines Schulbegleiters notwendig.
36
Mit Schreiben vom 28. Januar 2022 nahm das Gesundheitsamt H. im Rahmen einer Überprüfung der Schulfähigkeit gegenüber der Mittelschule H. dahingehend Stellung, aus amtsärztlicher Sicht sei unter Berücksichtigung aller vorliegenden Befunde und Untersuchungen festzustellen, dass für den Kläger die Beschulbarkeit unter den gegenwärtigen Umständen nicht gegeben sei. Der Kläger benötige umgehend einen Schulbegleiter oder eine für ihn extra zugeteilte pädagogische Lehrkraft. Da dies seitens Schule und Jugendamt offensichtlich nicht umsetzbar sei, werde das sofortige und dauerhafte Aussetzen der Schulpflicht empfohlen. Da dies den Kläger in seiner weiteren Entwicklung erheblich und an der Teilhabe einschränken würde, werde zeitgleich die Genehmigung einer Beschulung über die Web-Individualschule empfohlen.
37
Mit Stellungnahme vom 9. Februar 2022 an das Amtsgericht H. führte die Gutachterin G.-S. aus, zusammenfassend werde entsprechend der amtsärztlichen Empfehlung vom 28. Januar 2022 aus psychologischer Sicht aufgrund des Mangels an notwendigen Maßnahmen zur störungsadäquaten Beschulung in Präsenz eine digitale Form des Unterrichts empfohlen, wie sie im Rahmen der „Web I. Schule“ gegeben sei.
38
Hierzu nahm der Beklagte unter dem 24. Februar 2022 dahingehend Stellung, das Gesundheitsamt habe sich in seiner Stellungnahme ausnahmslos auf Fakten aus ausgewählten Schreiben der Kindsmutter sowie auf Aussagen des Klägers sowie der Kindsmutter und deren Partner bezogen. Eine persönliche Rücksprache mit dem Jugendamt des Beklagten sei nicht erfolgt, ebenso habe auch kein direkter Austausch mit Schule oder Schulamt stattgefunden. Das laufende familiengerichtliche Verfahren sei offensichtlich nicht bekannt gewesen. Daher könne mit der Meinungsbildung des Gesundheitsamts und der Gutachterin nicht mitgegangen werden. Die Beschulung im Rahmen der Web-Individualschule werde nicht als geeignete Beschulungsform für den Kläger angesehen.
39
Nach entsprechender Anhörung vom 28. Oktober 2021 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 18. November 2021 den Antrag auf Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe in Form von Kostenübernahme der Web-I.-schule bzw. F. Fern Schule für den Kläger in der Fassung vom 24. August 2020, 4. Oktober 2020 und 23. August 2021 ab. Dies wurde damit begründet, eine Online-Beschulung könne schon dann keine geeignete Maßnahme der Eingliederungshilfe darstellen, wenn die betreffende Person noch der Schulpflicht unterliege und keine Befreiung von der Schulpflicht gegeben sei. Unabhängig von der Erfüllung der Schulpflicht sei der Besuch der Web-Individualschule für den Kläger nicht die geeignete Maßnahme und damit nicht zielführend. Der Kläger benötige vielmehr eine außerhäusliche stationäre Maßnahme, um klare Strukturen und einen sehr engmaschigen Rahmen zu erhalten.
40
Im Rahmen einer mündlichen Verhandlung des Amtsgerichts H. am 24. März 2022 regte das Amtsgericht an, das Verfahren einzustellen. Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten stellte das Amtsgericht H. mit Beschluss vom 29. März 2022 das Verfahren ein. Die ursprünglichen Bedenken einer Kindeswohlgefährdung hätten im Laufe des Verfahrens ausgeräumt werden können, seitens des Gerichts könne keine Kindeswohlgefährdung durch die Kindsmutter gesehen werden.
41
II. Am 17. Dezember 2021 ließ der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erheben und in der mündlichen Verhandlung beantragen,
unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 18. November 2021 den Beklagten zu verpflichten, dem Antrag auf Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe in Form von Kostenübernahme der Web-I.-schule B. für den Kläger stattzugeben,
hilfsweise unter Aufhebung des Bescheids vom 18. November 2021 den Beklagten zu verpflichten, unter Berücksichtigung der Auffassung des Gerichts den Antrag auf Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe in Form von Kostenübernahme der Web-Individualschule B. für den Kläger neu zu verbescheiden.
42
Zugleich wurde die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Zur Begründung ließ der Kläger die Stellungnahme des Gesundheitsamts H. vom 28. Januar 2022 vorlegen. Dem Gesundheitsamt hätten alle relevanten Unterlagen und Informationen vorgelegen. Eine Präsenzbeschulung des Klägers wäre nur mit Hilfe eines Schulbegleiters möglich, ein geeigneter Schulbegleiter habe aber nicht gefunden werden können. Auch die Gutachterin im Familiengerichtsverfahren habe die Web-Individualschule als geeignetste Möglichkeit für die Beschulung des Klägers dargestellt. Dessen Wohl entspräche eine Beschulung zu Hause am besten.
43
Der Beklagte beantragte,
44
Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kläger zähle nach den Feststellungen des Sozialdienstes des Beklagten zum Personenkreis des § 35a SGB VIII. Eine Teilhabebeeinträchtigung, die kausal mit der abweichenden seelischen Gesundheit zusammenhänge, liege vor. Die beantragte Beschulung durch die Web-I.-schule B. sei jedoch aus Sicht des Beklagten für den Kläger keine geeignete Maßnahme der Eingliederungshilfe. Eine Online-Beschulung könne schon dann keine geeignete Maßnahme der Eingliederungshilfe darstellen, wenn die betreffende Person noch der Schulpflicht unterliege und keine Befreiung von der Schulpflicht gegeben sei. In Bezug auf das Schreiben des Gesundheitsamts H.t vom 28. Januar 2022 werde darauf verwiesen, dass der Beklagte mit Bescheid vom 1. April 2021 dem Kläger Eingliederungshilfe in Form einer Schulbegleitung bewilligt habe; diese Hilfe habe jedoch nicht in Anspruch genommen werden können. Der Beklagte sei aktiv auf der Suche nach einem Schulbegleiter gewesen, es habe aber aufgrund der sehr ausgeprägten Verhaltensauffälligkeiten des Klägers keine Person gefunden werden können, die sich ein Zusammenarbeiten in Form der Schulbegleitung mit dem Kläger hätte vorstellen können. Dies zeige noch einmal mehr seinen hohen Bedarf an Unterstützung und Förderung. Im Übrigen könne die Stellungnahme des Gesundheitsamts H. nicht als objektiv betrachtet werden, weil sie sich allein auf die Aussagen der Familie sowie auch von der Familie auserwählte Schriftstücke stütze. Ein Austausch bzw. eine Rücksprache mit Schulamt und Jugendamt sei nicht erfolgt.
45
Unabhängig von der Erfüllung der Schulpflicht sei eine Beschulung im Rahmen der Web-I.-schule oder Flex-Fernschule nicht die geeignete Maßnahme für den Kläger und daher nicht zielführend. Es sei nicht zu erwarten, dass durch die Beschulung über die Web-Individualschule die bestehende seelische Beeinträchtigung und die daraus resultierende Teilhabebeeinträchtigung abgemildert werde. Vielmehr scheine durch die Isolation in der Fernschule das Leben und die Teilhabe in der Gemeinschaft noch mehr gefährdet. Zudem stelle sich die Frage nach den Perspektiven des Klägers hinsichtlich Ausbildung und Beruf. Der Beklagte erachte eine ganzheitliche, die ganze Persönlichkeit betreffende Förderung und Unterstützung des Klägers für notwendig.
46
Aufgrund entsprechender Anfragen des Gerichts nahmen das Gesundheitsamt H. unter dem 13. Mai 2022 und das Staatliche Schulamt im Landkreis Haßberge unter dem 19. Mai 2022 im Einzelnen Stellung.
47
Ein vom Gericht angesetzter Termin zur Erörterung der Streitsache mit den Parteien wurde aufgrund der fehlenden Bereitschaft der Kindsmutter, hieran teilzunehmen, wieder aufgehoben.
48
Mit Beschluss vom 30. Juni 2022 bewilligte das Gericht dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Bevollmächtigten.
49
Im Übrigen wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 22. September 2022, auf das weitere schriftsätzliche Vorbringen der Parteien sowie auf den Inhalt der einschlägigen Verwaltungsakten des Beklagten, welche Gegenstand des Verfahrens waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
50
Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist das Begehren des Klägers, ihm unter Aufhebung der dem entgegenstehenden Entscheidung vom 18. November 2021 Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in Form der Kostenübernahme für die Beschulung durch die Web-I.-schule B. zu gewähren. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung klarstellen lassen, dass sich sein Begehren ausschließlich auf diese Schule bezieht. Hilfsweise begehrt der Kläger, den Beklagten unter Aufhebung des dem entgegenstehenden Bescheids vom 18. November 2021 zu verpflichten, über den Antrag auf Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für die Beschulung durch die Web-Individualschule B. neu zu entscheiden.
51
Die zulässige Klage ist in ihrem Hauptantrag und in ihrem Hilfsantrag unbegründet.
52
I. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für die Beschulung durch die Web-Individualschule B. im für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (Schüber-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 113 Rn. 57) nicht zu.
53
Dies ergibt sich aus Folgendem:
54
1. Gemäß § 35a Abs. 1 Satz 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022), zuletzt geändert durch Art. 12 Gesetz vom 24. Juni 2022 (BGBl. I S. 959) - SGB VIII - haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn (1.) ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (seelische Behinderung) und (2.) daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Teilhabebeeinträchtigung). Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne dieser Vorschrift sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).
55
Gemäß § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Abs. 1 eine fachärztliche oder jugendpsychotherapeutische Stellungnahme einzuholen, die die in § 35a Abs. 1a Satz 2 bis Satz 3 SGB VIII genannten Voraussetzungen zu erfüllen hat. Demgegenüber ist die Feststellung der Teilhabebeeinträchtigung nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII Aufgabe des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe, da hierbei sozialpädagogische Fachlichkeit erforderlich ist (von Boetticher/Meysen in Frankfurter Kommentar, SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 35a Rn. 35).
56
Liegen diese Tatbestandsvoraussetzungen vor, ist darüber zu entscheiden, welche Hilfeart die geeignete ist.
57
Auf der Grundlage der oben dargestellten Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII richten sich Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie Art und Form der Leistungen gemäß § 35a Abs. 3 SGB VIII u.a. nach § 90 und nach den Kapiteln 3 bis 6 des Teils 2 des Neunten Buches, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden und sich aus diesem Buch nichts anderes ergibt.
58
Die Leistung soll den Leistungsberechtigten nach § 90 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234), zuletzt geändert durch Art. 13 Gesetz vom 24. Juni 2022 (BGBl I S. 959) - SGB IX - eine individuelle Lebensführung ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft fördern; nach Satz 2 der Vorschrift soll die Leistung die Leistungsberechtigten befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können. Nach § 90 Abs. 4 SGB IX ist es besondere Aufgabe der Teilhabe an Bildung, Leistungsberechtigten eine ihren Fähigkeiten und Leistungen entsprechende Schulbildung und schulische und hochschulische Aus- und Weiterbildung für einen Beruf zur Förderung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen.
59
Leistungen zur Teilhabe an Bildung umfassen nach § 112 Abs. 1 Satz 1 SGB IX u.a. Hilfen zu einer Schulbildung, insbesondere im Rahmen der all-gemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu, wobei die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht unberührt bleiben.
60
Daraus folgt jedoch nicht ohne weiteres ein Anspruch des Hilfesuchenden auf die begehrte Hilfemaßnahme, denn gemäß § 35a Abs. 2 SGB VIII wird die Hilfe nach dem Bedarf im Einzelfall geleistet. Das erfordert eine Entscheidung darüber, welche konkrete Hilfemaßnahme im Hinblick auf die festgestellte Teilhabebeeinträchtigung notwendig und geeignet ist. Diesbezüglich kommt dem Träger der Jugendhilfe ein verwaltungsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Denn nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Maßnahme einem kooperativen, sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung der Fachkräfte des Jugendamts und des betroffenen Hilfeempfängers, der nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern vielmehr eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation beinhaltet, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich in diesem Fall darauf, dass allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden, keine sachfremden Erwägungen in die Entscheidung eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist daher nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (BVerwG, U.v. 24.6.1999 - 5 C 24.98 - BVerwGE 109, 155 ff.; BayVGH, B.v. 28.6.2016 - 12 ZB 15.1641 - juris Rn. 26; U.v. 24.6.2009 - 12 B 09.602 - juris Rn. 26).
61
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe kommt eine Verpflichtung des Trägers der Jugendhilfe zur Gewährung einer bestimmten Hilfeleistung grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn sich der Beurteilungsspielraum der Behörde dahingehend verdichtet, dass nur eine einzige Maßnahme, nämlich die vom Hilfesuchenden begehrte, als notwendig und geeignet anzusehen ist.
62
Grundsätzlich zielt die Eingliederungshilfe darauf ab, den Hilfebedarf in seiner Gesamtheit zu decken und deshalb alle von einer Teilhabebeeinträchtigung betroffenen Lebensbereiche in den Blick zu nehmen. Hilfeleistungen sind demnach so auszuwählen und aufeinander abzustimmen, dass sie den gesamten Bedarf soweit wie möglich erfassen. Denn aus dem sozialhilferechtlichen Bedarfsdeckungsgrundsatz, der im Bereich der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe in § 35a Abs. 2 SGB VIII verankert ist, folgt, dass grundsätzlich der gesamte im konkreten Einzelfall anzuerkennende Hilfebedarf seelisch behinderter Kinder oder Jugendlicher abzudecken ist (BVerwG, U.v. 19.10.2011 - BVerwG 5 C 6.11 - juris Rn. 12; U.v. 18.10.2012 - 5 C 21/11 - juris Rn. 25). Allerdings kann der Regelung des § 35a SGB VIII nicht entnommen werden, dass dies zwingend der Fall sein muss. Denn der Systematik und dem Sinn und Zweck der Vorschrift ist zu entnehmen, dass Eingliederungshilfen auch darauf ausgerichtet sein dürfen, einen Teilbedarf zu decken. Denn wenn Teilhabebeeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen einen Hilfebedarf erzeugen, der nur durch verschiedene, auf den jeweiligen Bereich zugeschnittene Leistungen abgedeckt werden kann und muss, kann es geboten sein, verschiedene Hilfeleistungen zu kombinieren oder durch mehrere Einzelleistungen den Gesamtbedarf des Hilfebedürftigen abzudecken. In diesem Fall kann es, wenn nicht sogleich der Gesamtbedarf gedeckt werden kann, erforderlich sein, Hilfeleistungen zumindest und zunächst für diejenigen Teilbereiche zu erbringen, in denen dies möglich ist. Steht etwa eine bestimmte Hilfeleistung tatsächlich zeitweilig nicht zur Verfügung oder wird eine bestimmte Hilfe vom Hilfeempfänger oder dessen Personensorgeberechtigten (zeitweise) nicht angenommen, kann es gleichwohl geboten sein, die Hilfen zu gewähren, die den in anderen Teilbereichen bestehenden Bedarf abdecken (BVerwG, U.v. 18.10.2012 - 5 C 21/11 - juris Rn. 23 bis 24 und 26).
63
Etwas anderes kann - mit Blick auf Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe - nur dann anzunehmen sein, wenn die Gewährung der Hilfe für einen Teilbereich die Erreichung des Eingliederungsziels in anderen von der Teilhabebeeinträchtigung betroffenen Lebensbereichen erschweren oder vereiteln würde, es also zu Friktionen zwischen Hilfemaßnahmen käme (BVerwG, a.a.O., Rn. 27; vgl. zur gesamten Problematik auch BayVGH, B.v. 5.2.2018 - 12 C 17.2563 - juris Rn. 20 bis 25 m.w.N.).
64
2. Im vorliegenden Fall besteht kein Streit um die Frage, ob die seelische Gesundheit des Klägers mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweicht, auch wenn hierzu keine aktuelle Stellungnahme nach § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB vorliegt, sondern lediglich diejenige des Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. K. E. vom 12. Juni 2013.
65
Zudem ist zwischen den Parteien auch die Frage nicht streitig, ob die Teilhabe des Klägers am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Eine derartige Beeinträchtigung sieht der Beklagte in den Bereichen schulische Integration und soziale Integration. Dies ergibt sich aus dem angegriffenen Bescheid vom 18. November 2021, in welchem der Beklagte die Auffassung vertritt, es werde eine ganzheitliche, die ganze Persönlichkeit betreffende Förderung und Unterstützung für notwendig erachtet.
66
Streitig ist zwischen den Parteien jedoch die Frage, welche Hilfeart für den Kläger die geeignete ist. Während der Kläger die Auffassung vertritt, ein Besuch der Web-Individualschule B. sei die einzig mögliche und geeignete Hilfe, um einen Schulabschluss zu erlangen, vertritt der Beklagte die Auffassung, die vom Kläger begehrte Hilfe sei ungeeignet, da dieser im Rahmen einer die ganze Persönlichkeit betreffenden Förderung eine außerhäusliche stationäre Maßnahme benötige.
67
In diesem Rahmen gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die vom Kläger begehrte Maßnahme einer Beschulung durch die Web-Individualschule B. nicht die einzige zur Verfügung stehende geeignete und notwendige Maßnahme zur Deckung des Teilbedarfs schulische Integration ist und der Kläger deshalb keinen entsprechenden Anspruch auf Bewilligung dieser Maßnahme hat.
68
a) Dies ergibt sich allerdings nicht daraus, dass die von der Beklagtenseite vorgeschlagene vollstationäre Unterbringung einschließlich einer entsprechenden Beschulung eine geeignete und erforderliche Alternative bilden würde mit der Folge, dass schon deshalb die vom Kläger begehrte Online-Beschulung nicht die einzige geeignete und erforderliche Hilfemaßnahme wäre.
69
Offen bleiben kann im vorliegenden Fall, ob eine vollstationäre Unterbringung tatsächlich fachlich geeignet wäre. Um dies sachgerecht beurteilen zu können, wäre gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SGB VIII die Aufstellung eines Hilfeplans zusammen mit der personensorgeberechtigten Kindsmutter und dem Kläger erforderlich gewesen, dies im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte. Ein solcher Hilfeplan liegt nicht vor. Unerheblich ist es im vorliegenden Fall, ob der Beklagte aufgrund einer möglicherweise mangelhaften Mitwirkungsbereitschaft der Kindsmutter und des Klägers (Kunkel/Kepert in LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 36 Rn. 1 und Rn. 12; Schönecker/Meysen in Frankfurter Kommentar, SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 36 Rn. 55) zu Recht auf die Aufstellung eines Hilfeplans für eine vollstationäre Unterbringung des Klägers verzichtet hat, denn eine solche Hilfe ist schon deshalb für den Kläger nicht geeignet, weil sie von diesem abgelehnt wird (vgl. Stellungnahme der Kindsmutter vom 11.11.2021 zum Anhörungsschreiben des Beklagten vom 28.10.2021). Denn Eingliederungshilfe kann nur auf Antrag des Hilfesuchenden und nicht gegen dessen Willen gewährt werden.
70
b) Dem Kläger kann die begehrte Hilfe auch nicht mit dem Argument verwehrt werden, sie sei deshalb nicht geeignet, weil sie nicht den gesamten Hilfebedarf abdecke. Wie oben ausgeführt, darf Eingliederungshilfe auch darauf ausgerichtet sein, einen Teilbedarf zu decken, wenn nicht zugleich der Gesamtbedarf gedeckt werden kann (BVerwG, U.v. 18.10.2012 - 5 C 21/11 - juris Rn. 23 bis 24 und 26).
71
c) Ist es, wie oben ausgeführt, zulässig und möglicherweise geboten, lediglich den - derzeit erreichbaren - Teilbedarf eines nicht vollumfänglich erreichbaren Gesamtbedarfs zu decken, kann sich der Kläger dennoch nicht darauf berufen, die von ihm begehrte Online-Beschulung sei die einzig geeignete, erforderliche mögliche Hilfe im Teilbereich schulische Bildung, weshalb er auf die Bewilligung von deren Kostentragung einen Anspruch habe. Der Kläger beruft sich in diesem Zusammenhang auf die entsprechenden Gutachten des Staatlichen Gesundheitsamts im Landkreis Haßberge und der vom Amtsgericht - Familiengericht - H. beauftragten Gutachterin, dies allerdings ohne Erfolg.
72
aa) Die Amtsärztin des Staatlichen Gesundheitsamts im Landkreis Haßberge hat mit Schreiben vom 28. Januar 2022 ausgeführt, für den Kläger sei die Beschulbarkeit unter den gegenwärtigen Umständen nicht gegeben. Sie hält für dessen Beschulung eine Schulbegleitung oder eine extra für ihn zugeteilte pädagogische Fachkraft für erforderlich. Unter der Annahme, dass (im Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens) weder Schule noch Jugendamt dieses Erfordernis faktisch umsetzen können, empfiehlt sie das sofortige und dauerhafte Aussetzen der Schulpflicht und zugleich die Genehmigung einer Beschulung über die Web-Individualschule, um den Kläger nicht in seiner weiteren Entwicklung erheblich und in der Teilhabe einzuschränken, um ihm die Chance eines Schulabschlusses zu ermöglichen.
73
Diesem Gutachten ist schon nicht zu entnehmen, dass eine Online-Beschulung durch die Web-Individualschule B. für den Kläger die einzige geeignete und erforderliche Teilhilfe im Bereich schulische Bildung wäre. Vielmehr geht die Gutachterin davon aus, dass für den Kläger eine Präsenzbeschulung mit der Unterstützung durch eine ausschließlich für ihn zur Verfügung stehende Schulbegleitung oder pädagogische Lehrkraft möglich wäre. Gemäß der Auskunft der Amtsärztin aufgrund einer entsprechenden gerichtlichen Nachfrage steht diesbezüglich nicht die Kompetenz der Wissensvermittlung im Vordergrund, sondern die Existenz einer vertrauten Bezugsperson. Zudem hat die Amtsärztin auf Nachfrage des Gerichts klargestellt, dass sie mit adäquater Betreuung eine Präsenzbeschulung für möglich hält. Demgegenüber beruht die Hypothese der Amtsärztin, eine Schulbegleitung oder eine pädagogische Lehrkraft stehe faktisch nicht zur Verfügung, allein auf der Auskunft der Kindsmutter, es habe keine geeignete Schulbegleitung gefunden werden können. Diese Auskunft bezieht sich auf den Zeitraum zwischen April 2021 und Juni 2021. Dass dies noch für den entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 22. September 2022 Gültigkeit hätte, hat weder die Klägerseite dargelegt noch ist dies für das Gericht anderweitig erkennbar. Im Übrigen wurde im genannten Zeitraum lediglich „auf dem freien Markt“ eine Person als Schulbegleitung gesucht; dass beispielsweise der Beklagte nicht dazu in der Lage wäre, eine für diese Aufgabe geeignete Person aus dem Personalbestand der im Jugendamt Mitarbeitenden zur Verfügung zu stellen, ist für das Gericht ebenfalls nicht ersichtlich.
74
Unabhängig davon, dass dem Gutachten vom 28. Januar 2020 nicht zu entnehmen ist, dass eine Online-Beschulung die einzige geeignete und erforderliche Teilhilfe im Bereich schulische Bildung ist, ist dieses Gutachten unzureichend erstellt worden und für das Gericht damit nicht verwertbar. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Gutachterin nicht alle zur Verfügung stehenden Materialien und Erkenntnismittel hinsichtlich des konkreten Falles berücksichtigt hat. Sie hat ihr Gutachten lediglich auf den Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 29. Januar 2021 hinsichtlich der Feststellungen des Grades der Behinderung, auf das Gutachten des Dr. M. S. vom 12. August 2020 (in ihrem Aktenvermerk vom 18.1.2021 fehlerhaft als Gutachten „Dres. O.F.-R.H.“ bezeichnet) und auf die Stellungnahme der Autismus-Ambulanz N. vom 14. April 2021 gestützt. Diese Unterlagen wurden ihr klägerseits vorgelegt. Für die Heranziehung weiterer Akten, insbesondere des Jugendamts des Beklagten, hat sie gemäß ihrem Schreiben an das Gericht vom 13. Mai 2022 keine Veranlassung gesehen. Zudem hat sie nicht den Kontakt zum Schulleiter der Mittelschule H. gesucht, um Auskünfte über die bisherigen dortigen Beschulungsbemühungen zu erhalten.
75
Weitere Grundlage für die Beurteilung war eine Untersuchung des Klägers. Die im Aktenvermerk vom 18. Januar 2022 festgehaltenen Ergebnisse der Untersuchung lassen jedoch nichts erkennen, was eine tragfähige Grundlage für die Beurteilung der Beschulbarkeit des Klägers bilden könnte. Demgegenüber fällt auf, dass der letzte Satz des Absatzes „Untersuchung“ im Aktenvermerk vom 18. Januar 2022 inhaltlich völlig und von der Wortwahl her im Wesentlichen identisch mit einer Passage des Schreibens der Autismus-Ambulanz vom 14. April 2021 ist. Damit ist nicht mehr erkennbar, welche Feststellungen auf eigenen Untersuchungen der Gutachterin beruhen.
76
Auf der Grundlage der Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts zur Verwertbarkeit von Gutachten in gerichtlichen Verfahren (BVerwG, U.v. 2.4.1969 - VI C 76.65 - Buchholz 232, § 139 BBG Nr. 9) ist das Gutachten unabhängig von seinem Inhalt für das Gericht damit nicht verwertbar.
77
bb) Die vom Amtsgericht - Familiengericht - H. beauftragte Gutachterin G.-S. hat insgesamt drei Stellungnahmen abgegeben.
78
In der Stellungnahme vom 15. Oktober 2021, basierend auf der Grundlage eines Gesprächs mit der Kindsmutter und der Therapeutin der Autismus-Ambulanz, auf der Grundlage im Einzelnen nicht benannter „Diagnose- bzw. Entwicklungsberichte“ und auf der Teilnahme an einer Therapieeinheit der Autismus-Ambulanz, kommt die Gutachterin zum Ergebnis, eine Einzelbetreuung durch vertraute Personen sei der Fremdbetreuung in der Gruppe mit wechselnden Bezugspersonen vorzuziehen.
79
In der Stellungnahme vom 12. November 2021 berichtet die Gutachterin von einem Gespräch mit dem Schulleiter der Mittelschule H.t, in welchem dieser bedauert habe, dass das ausgearbeitete Konzept zur individualisierten Präsenzbeschulung aufgrund eines fehlenden Schulbegleiters nicht habe durchgeführt werden können. Es sei eine Präsenzbeschulung in einem gesonderten Raum außerhalb des Klassenverbandes per Videoübertragung in Anwesenheit eines Schulbegleiters geplant.
80
In der abschließenden Stellungnahme vom 9. Februar 2022 hebt die Gutachterin auf das Gutachten des Staatlichen Gesundheitsamts vom 28. Januar 2022 ab und führt aus, eine Präsenz-Beschulung führe beim Kläger zu Reizüberflutung und sozialem Stress mit der Folge von motorischer Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten und Regulationsstörungen, was eine Fokussierung auf Lerninhalte nur schwer möglich mache. Ein gesichertes, vertrautes, reizarmes Umfeld sei unabdingbare Voraussetzung, um kognitive Inhalte aufzunehmen und verarbeiten zu können. „Aufgrund des Mangels an notwendigen Maßnahmen zur störungsadäquaten Beschulung in Präsenz“ wird eine digitale Form des Unterrichts empfohlen.
81
Dieser Stellungnahme ist inhaltlich nicht zu entnehmen, dass eine Online-Beschulung durch die Web-Individualschule die einzige geeignete und erforderliche Teilmaßnahme im Rahmen der schulischen Bildung wäre. Dies geht insbesondere daraus hervor, dass die Gutachterin die Online-Beschulung aufgrund des Mangels an notwendigen Alternativen empfiehlt. Im Zusammenhang mit dem von ihr in Bezug genommenen Gutachten des Staatlichen Gesundheitsamts und mit dem Gespräch mit dem Schulleiter der Mittelschule H. wird deutlich, dass ihre Empfehlung allein auf der Annahme beruht, eine Schulbegleitung stehe nicht zur Verfügung. Hiervon kann aber, wie oben ausgeführt, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht (mehr) ausgegangen werden. Zudem ist festzustellen, dass die oben dargestellte fehlende Brauchbarkeit des Gutachtens des Staatlichen Gesundheitsamts auch auf das Gutachten der Gutachterin G.-S. durchschlägt, da dieses sich maßgeblich auch hierauf bezieht.
82
Aus alledem ergibt sich, dass auch den Stellungnahmen der vom Amtsgericht - Familiengericht - H. bestellten Gutachterin entgegen der Meinung der Klägerseite nicht zu entnehmen ist, die Online-Beschulung durch die Web-Individualschule B. sei die einzige geeignete und erforderliche Hilfe, da dieses Gutachten keine derartige inhaltliche Aussage trifft und im Übrigen sich maßgeblich auf eine nicht brauchbare Unterlage stützt.
83
d) Demgegenüber hat die mündliche Verhandlung ergeben, dass in deren Zeitpunkt eine weitere Beschulungsmöglichkeit besteht, deren Geeignetheit die Klägerseite nicht in Frage gestellt hat, so dass eine Beschulung durch die Web-Individualschule B. schon allein deshalb nicht die einzige geeignete Eingliederungshilfemaßnahme sein kann.
84
Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung war der Kläger schulpflichtig. Gemäß Art. 35 Abs. 2 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl. 2000, 414), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Juli 2022 (GVBl. 2022, 308) dauert die Schulpflicht zwölf Jahre. Nach Abs. 3 der Vorschrift gliedert sie sich in die neunjährige (Art. 37 Abs. 3 Satz 1 BayEUG) Vollzeitschulpflicht und in die dreijährige Berufsschulpflicht nach Art. 39 BayEUG. Der Kläger hat mit Ablauf des Schuljahrs 2021/2022 neun Schulbesuchsjahre absolviert (vgl. Stellungnahme des Staatlichen Schulamts im Landkreis Haßberge vom 19.5.2022) und unterliegt damit ab dem 1. September 2022 der Berufsschulpflicht.
85
In der mündlichen Verhandlung hat die Bevollmächtigte des Klägers mitgeteilt, zwar sei ein Antrag auf Befreiung von der Berufsschulpflicht (wohl auf der Grundlage von Art. 39 Abs. 4 Nr. 3 BayEUG) gestellt worden, das K.-Schulwerk GmbH M. habe diesem Antrag aber bislang nicht stattgegeben. Hieraus ergibt sich, dass der Kläger derzeit berufsschulpflichtig ist. Dieser Schulpflicht kann der Kläger an der Web-Individualschule B. nicht erfüllen, da es sich nicht um eine Schule nach Art. 34 BayEUG handelt.
86
Grundsätzlich kann eine Beschulung mittels einer Online Schule, mit welcher die bestehende Schulpflicht nicht erfüllt werden kann, keine geeignete Eingliederungshilfemaßnahme darstellen, denn auf der Grundlage von § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII haben Leistungen zur Teilhabe an Bildung prinzipiell lediglich unterstützenden Charakter. Sie sind grundsätzlich weder auf die Finanzierung der Bildungsmaßnahme selbst noch auf die Gestaltung deren pädagogischen Kernbereichs ausgerichtet. Dies bedeutet, dass z.B. Schulgelder und Kursgebühren grundsätzlich nicht in das Leistungsspektrum des Rehabilitationsträgers fallen. Eine Ausnahme hiervon bilden lediglich die Fälle des Systemversagens, wenn z.B. einem Schüler der Besuch einer öffentlichen Schule aus objektiven Gründen oder aus schwerwiegenden subjektiven (persönlichen) Gründen nicht möglich oder zumutbar ist. Solange der Schulträger seinem Versorgungsauftrag nicht nachkommt, muss der Eingliederungshilfeträger dann die gleichberechtigte Teilhabe an Bildung durch vorläufige Finanzierung der Bildungsmaßnahme (z.B. Schulgeld für eine Privatschule) sicherstellen. Dies bedeutet, dass im Rahmen der Hilfe zu einer Schulbildung eine Leistungspflicht hinsichtlich der eigentlich dem Kernbereich der Schule zugewiesenen Maßnahmen beispielsweise dann besteht, wenn die Förderung in der Schule nicht ausreichend ist (BVerwG, B.v. 17.2.2015 - 5 B 61/14 - juris Rn. 4; VGH BW, B.v. 26.2.2020 - 12 S 3015/18 - juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 18.10.2016 - 12 CE 16.2064 - juris Rn. 5 m.w.N.; B.v. 5.2.2018 - 12 C 17.2563 - juris Rn. 44; OVG Sachsen-Anhalt, B.v. 8.10.2020 - 3 M 159/20 - juris Rn. 12; Zinsmeister in Dau/Düwell/Joussen/Luik, Beck-Online-Kommentar, SGB IX, 6. Aufl. 2022, § 112 Rn. 4 i.V.m. § 75 Rn. 7 und 8; Luthe in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, Stand: 13.11.2020, § 112 Rn. 30 f., Rn. 49; Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand: 6/2021, § 35a Rn. 48; Kepert/Dexheimer in LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 35a Rn. 56;). Das Jugendamt trifft damit eine Einstandspflicht als Ausfallsbürge (VG Schwerin, B.v. 13.11.2015 - 6 B 3377/15 SN - juris Rn. 31 m.w.N.).
87
Der Kernbereich der der Schule zugewiesenen pädagogischen Arbeit umfasst die dem Lehrer vorbehaltene Vermittlung von Lerninhalten in pädagogischer und didaktischer Hinsicht (Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand: 6/2021, § 35a, Rn. 48 m.w.N.).
88
Im vorliegenden Fall trifft die begehrte Maßnahme den Kernbereich schulischen Handelns, denn es geht darum, dass im Rahmen der Web-Individualschule B. die jeweiligen Lerninhalte individuell auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Klägers abgestimmt werden (BSG, U.v. 9.12.2016 - B 8 SO 8/15 R - juris Rn. 25; Kepert/Dexheimer in LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 35a Rn. 56). Damit ist vom Grundsatz her ein Anspruch gegen den Beklagten als Sozialleistungsträger ausgeschlossen.
89
Demgegenüber ist ein schulisches Systemversagen nicht erkennbar. Auch in dieser Hinsicht ist auf die Situation im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen. Diesbezüglich hat die Bevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, das K.-Schulwerk GmbH M. prüfe zunächst, in welcher Art und Weise der Kläger beschult werden könne. Hierfür werde eine gewisse Zeit benötigt und zunächst mit einer Online-Zuschaltung des Klägers von Zuhause zum Präsenzunterricht in der Schule gearbeitet, ohne dass dem Kläger hierfür dauerhaft eine Lehrkraft zur Verfügung stehe. Dies macht deutlich, dass für den Kläger derzeit eine Beschulung durch das K.-Schulwerk GmbH M. angeboten wird. Die angebotene Form einer Online-Zuschaltung zum Präsenzunterricht hat die Klägerseite nicht als ungeeignet in Frage gestellt. Gegenteiliges ist auch für das Gericht nicht erkennbar, dies insbesondere unter Beachtung der Vorläufigkeit dieser Maßnahme und anders als bei einer dauerhaften Beschulung durch die Web-Individualschule B. mit ihren wegen der Dauerhaftigkeit negativen Folgen im Bereich der sozialen Integration. Die Klägerbevollmächtigte hat weiter mitgeteilt, die zuständige Lehrkraft werde den Kläger baldmöglichst kennen lernen und zu Hause besuchen. Die Art und Weise der Beschulung müsse geprüft werden. Hieraus ergibt sich, dass das K.-Schulwerk GmbH M. über die derzeit durchgeführte vorläufige Beschulungsform hinaus eine alsbaldige anderweitige individualisierte Beschulungsform ins Auge fasst. Diesbezüglich ist für das Gericht auch nicht erkennbar, dass diese Prüfung zu dem Ergebnis gelangen müsste, eine wie auch immer geartete möglicherweise individualisierte Präsenz-Beschulung komme nicht in Betracht. Dies ergibt sich schon aus den noch im Schuljahr 2021/2022 ausgearbeiteten Konzepten der Mittelschule H. mit einem Präsenzunterricht in der Schule in einem gesonderten Raum mit Video-Übertragung bei Anwesenheit einer Schulbegleitung. Dies macht deutlich, dass derartige Konzepte denkbar und möglich sind. Es ist nicht erkennbar, dass ein derartiges Konzept - anders als im Bereich der Mittelschule - im Bereich der Berufsschule von vornherein nicht umsetzbar wäre. Zudem ist nicht erkennbar, dass die Persönlichkeitsstruktur des Klägers derart gestaltet sein könnte, dass von vornherein jegliche Person als Schulbegleitung scheitern müsste. Insbesondere die möglicherweise erforderliche körperliche Eingrenzung des Klägers zum Schutz der Schulbegleitung selbst und zum Schutz von Mitschülern vor körperlichen Angriffen des Klägers kann durch die Auswahl einer entsprechend körperlich konstituierten Person erfolgen, dies soweit erforderlich auch als Zweitkraft und Unterstützung bzw. zum Schutz einer weiteren Person mit den primären Aufgaben der Schulbegleitung. Denn der Einsatz zweier Personen als Schulbegleitung gleichzeitig ist nicht von vornherein ausgeschlossen. Weiterhin dürfen in diesem Zusammenhang möglicherweise nicht zielführende Verhaltensweisen der Kindsmutter (vgl. Stellungnahme des Staatlichen Schulamts im Landkreis Haßberge vom 19.5.2022, Seite 3: „Übergriffige Forderungen von Seiten der Familie, zum Beispiel an die betreffende Lehrkraft“) keine Beachtung finden.
90
Da demnach eine Beschulung im Rahmen des staatlichen Schulsystems zur Verfügung steht, vorläufig mittels Online-Übertragung des Präsenzunterrichts, und perspektifisch eine weitergehende Präsenzbeschulung unter Berücksichtigung der für eine Beschulung in der Mittelschule H. angedachten Konzepte sinnvoll erscheint, kann von staatlichem Schulversagen zumindest derzeit nicht gesprochen werden.
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Steht dem Kläger aber ein staatliches Bildungsangebot in Form der Beschulung durch eine Berufsschule zur Verfügung, so kann er auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 2 Satz 1 BayEUG nicht nur den Berufsschulabschluss erreichen, sondern unter den Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 BayEUG auch den mittleren Schulabschluss. Somit kann er nicht mit Erfolg geltend machen, ausschließlich aufgrund der Beschulung durch die Web-Individualschule B. könne er einen Schulabschluss erreichen.
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e) Aus alledem ergibt sich, dass dem Kläger im Rahmen des staatlichen Schulsystems und auf der Grundlage seiner Schulpflicht ein Bildungsangebot zur Verfügung steht, so dass die Kostentragung für die Beschulung durch die Web-Individualschule B. nicht die einzige geeignete und notwendige Eingliederungshilfemaßnahme zur Erlangung eines Schulabschlusses ist, dies ungeachtet der hier nicht entscheidungserheblichen Frage, ob die Beschulung durch die Web-Individualschule B. im Hinblick auf die inhaltliche Ausgestaltung des Angebots überhaupt eine geeignete Maßnahme darstellen kann, die darüber hinaus nicht andere Teil-Ziele der Eingliederungshilfe konterkariert.
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Auf dieser Grundlage ist die Klage in ihrem Hauptantrag abzuweisen.
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II. Der Kläger hat gegenüber dem Beklagten keinen Anspruch auf Aufhebung des angegriffenen Bescheides im Zusammenhang mit dessen Verpflichtung auf erneute Entscheidung über den Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für die Beschulung durch die Web-Individualschule B. Der angegriffene Bescheid erweist sich nicht als fehlerhaft.
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Wie oben ausgeführt, kommt dem Beklagten auf der Grundlage von § 35a SGB VIII im Hinblick auf die Frage, welche konkrete Hilfemaßnahme in Bezug auf die festgestellte Teilhabebeeinträchtigung notwendig und geeignet ist, ein verwaltungsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 114 Rn. 68 m.w.N.). Das Gericht hat sich auf die Nachprüfung zu beschränken, ob sich die administrative Beurteilung in den rechtlich gezogenen Grenzen hält (Schübel-Pfister, a.a.O., § 114 Rn. 78). Ist dies nicht der Fall, so hat die Klage grundsätzlich Erfolg; die Regeln des § 113 Abs. 5 VwGO zum Bescheidungsurteil sind entsprechend anwendbar (Schübel-Pfister, a.a.O., § 114 Rn. 77; OVG Lüneburg, B.v. 26.11.2021 - 10 ME 168/21 - juris Rn. 4; kritisch: Gallep in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 36 Rn. 66 i.V.m. § 27 Rn. 58 bis Rn. 61).
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Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs ist der angegriffene Bescheid nicht zu beanstanden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf erneute Entscheidung über seinen Antrag, dies deswegen, weil der Beklagte nicht gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat, insbesondere die Klägerseite hinreichend am Verfahren beteiligt hat, und weil er die beantragte Hilfe im Rahmen seines Beurteilungsspielraums als nicht geeignet ablehnen durfte, wobei er keine allgemeingültigen fachlichen Maßstäbe missachtet hat und keine sachfremden Erwägungen in seine Entscheidung hat einfließen lassen.
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1. Der Kläger kann nicht mit Erfolg geltend machen, der Beklagte habe ihn am Verfahren unzureichend beteiligt und sich nicht an die vorgegebenen Verfahrensvorschriften gehalten. Vielmehr durfte der Beklagte über die begehrte Hilfe schon nach einem Gespräch ohne Einbeziehung des Klägers allein mit der Kindsmutter und ohne Erstellung eines Hilfeplans entscheiden.
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a) Weicht - wie es im vorliegenden Fall zwischen den Parteien unstreitig ist - die seelische Gesundheit eines Kindes oder Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand ab und ist daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt (§ 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII), so ist bei der Auswahl der konkreten Eingliederungshilfemaßnahme § 36 SGB VIII zu beachten. Nach dessen Abs. 2 Satz 1 soll die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden. Nach § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII sollen diese als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe zusammen mit den Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält. Dies bedeutet, dass bei der Aufstellung des Hilfeplans der Hilfesuchende und der Personensorgeberechtigte aktiv und gleichberechtigt mitwirken. In einem solchen Hilfeplanverfahren wird u.a. die aktuelle Situation ermittelt, die die Hilfe möglicherweise nötig macht; es werden die Ziele der Hilfe festgelegt, darauf basierend die Art der Hilfe bestimmt und es werden konkrete Schritte zum Erreichen der Ziele besprochen und geplant. Einem solchen Verfahren ist eine dauernde inhaltliche Zusammenarbeit zwischen dem Hilfesuchenden sowie dessen Personensorgeberechtigten einerseits und den Mitarbeitenden des Trägers der Jugendhilfe andererseits immanent. Dem liegen die gesetzlichen Vorgaben in § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zugrunde, wonach der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten der Hilfe grundsätzlich nur dann trägt, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Dies beruht darauf, dass die Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach § 79 Abs. 1 SGB VIII für die Erfüllung ihrer Aufgaben die Gesamtverantwortung einschließlich der Planungsverantwortung haben, in deren Rahmen sie nach § 80 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 SGB VIII den Bedarf unter Berücksichtigung der Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der jungen Menschen und der Erziehungsberechtigten für einen mittelfristigen Zeitraum ermitteln und die zur Befriedigung des Bedarfs notwendigen Vorhaben rechtzeitig und ausreichend planen. All dies setzt eine inhaltliche Beteiligung des Hilfesuchenden in der Regel zwingend voraus.
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Im Rahmen der Beteiligung eines Hilfesuchenden kann von der Aufstellung eines Hilfeplans nur in einem Einzelfall abgesehen werden, der vom Vorliegen atypischer Umstände gekennzeichnet ist. Entscheidend ist hierbei, ob die Geeignetheit und die Notwendigkeit der Hilfe auch ohne schriftliche Fixierung in einem Hilfeplan festgestellt werden kann (Kunkel/Kepert in LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 36 Rn. 1 m.w.N.). Auch die Ablehnung einer Hilfe setzt eine vorherige Hilfeplanung ausnahmsweise dann nicht voraus, wenn anderweitig festgestellt werden kann, dass die Hilfevoraussetzungen nicht vorliegen. Allerdings ist die Anhörung der Beteiligten vor der Entscheidung zwingend (Schönecker/Meysen in Frankfurter Kommentar, SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 36 Rn. 55). Kann ohne eine Hilfeplanung inhaltlich sachgerecht weder über die Bewilligung noch über die Ablehnung der begehrten Hilfe entschieden werden und verweigert ein Hilfesuchender bzw. dessen Personensorgeberechtigter die Mitwirkung, aktiviert dies zunächst die Fachkraft, ihre fachlichen Kompetenzen zur Motivation des Hilfesuchenden einzusetzen (Schönecker/Meysen, a.a.O., § 36 Rn. 17). Sind der Personensorgeberechtigte und der Hilfesuchende aber dennoch nicht dazu bereit, sich auf ein derartiges Hilfeplanverfahren mit den diesbezüglichen Anforderungen einzulassen, kann ein Hilfeplanverfahren von vornherein seinen Zweck nicht erfüllen, so dass auch keine positive Entscheidung über die begehrte Hilfe ergehen kann (VG des Saarlandes, B.v. 19.7.2016 - 3 L 301/16 - juris Rn. 9). Damit entfällt bei einer vollständigen Weigerung, sich auf den Hilfeplanungsprozess einzulassen, der Hilfeanspruch (Schönecker/Meysen, a.a.O., § 36 Rn. 17; ThürOVG, B.v. 22.5.2018 - 3 EO 192/18 - juris Rn. 37 ff.; a.A.: Wapler in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 27 Rn. 61, wonach die partizipative Gestaltung des Verfahrens gemäß § 36 SGB VIII dem Schutz der Rechte des Personensorgeberechtigten und des Kindes oder des Jugendlichen dient, so dass es ein Widerspruch in sich wäre, deren Rechtsschutz mit Hinweis auf ihre unzureichende Mitwirkung im Verfahren zu verkürzen). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass es nicht dem gesetzlichen Auftrag des Jugendhilfeträgers entspricht, nur „Zahlstelle“ und nicht Leistungsträger zu sein. Letzteres setzt jedoch unter Achtung der familiären Autonomie einen kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozess voraus, der auf eine partnerschaftliche Hilfe abzielt (BVerwG, U.v. 18.10.2012 - 5 C 21/11 - juris Rn. 31). Dieser Gedanke ergibt sich auch aus § 36a Abs. 3 SGB VIII. Hiernach ist der Träger der Jugendhilfe im Fall einer vom Hilfesuchenden selbst beschafften Hilfe zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur im Ausnahmefall verpflichtet. Auch dem liegt der Gedanke zugrunde, dass der Träger der Jugendhilfe nicht zur „bloßen Zahlstelle“ für den Hilfesuchenden werden soll. Nur wenn der Personensorgeberechtigte bzw. der Hilfesuchende den Träger der Jugendhilfe von Anfang an in den Entscheidungsprozess über die ins Auge gefasste Hilfe einbezieht, kann dieser seine aus § 36a Abs. 1, § 79 Abs. 1 SGB VIII folgende Gesamtverantwortung für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben und die Planungsverantwortung nach § 80 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 SGB VIII wahrnehmen (BVerwG, U.v. 12.9.2013 - 5 C 35/12 - juris Rn. 39; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 21.6.2016 - 6 S 12.16 - Jamt 2016, 498).
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b) Im vorliegenden Fall hat der Beklagte vor der Ablehnung der begehrten Eingliederungshilfemaßnahme zu Recht den Kläger selbst nicht am Verfahren beteiligt und kein Hilfeplanverfahren durchgeführt, sondern lediglich ein Gespräch mit der Kindsmutter geführt. Denn der Kläger hat sich jeder Kontaktaufnahme mit dem Beklagten verweigert.
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aa) Die Kindsmutter beantragte am 24. August 2020 Eingliederungshilfe in Form eines Schulbegleiters und in Form der Kostenübernahme für die Web-I.-schule/F. Schule Ba. sowie Hilfe zur Erziehung in Form einer sozialpädagogischen Familienhilfe, am 18. September 2020 zusätzlich Eingliederungshilfe in Form einer Therapie durch die Autismus-Ambulanz N. e.V. Die Einladung des Beklagten an die Kindsmutter und an den Kläger vom 2. September 2020 zu einem Gespräch zur Feststellung des Hilfebedarfs lehnte die Kindsmutter am 6. September 2020 unter Berufung auf das Gutachten des Dr. M. S. vom 12. August 2020 ab. Mit Schreiben vom 10. September 2020 wie der Beklagte darauf hin, dass ein Gespräch zur Klärung des Bedarfs und der Ziele der Hilfe erforderlich sei. Dies lehnte die Kindsmutter mit Schreiben vom 14. September 2020 erneut ab mit dem Argument, ein Schulbegleiter stehe dem Kläger ohne weiteres Gespräch zu. Zudem müsse in einem Gespräch mit der Schule die Beschulbarkeit erörtert werden. Daraufhin erläuterte der Beklagte in einem Schreiben vom 22. September 2020 an den Bevollmächtigten des Klägers die Notwendigkeit eines Gesprächs und wies auf den Eindruck hin, die Kindsmutter und der Kläger vermittelten mit ihrem Verhalten, nicht an gegenseitiger Zusammenarbeit interessiert zu sein. Der Beklagte machte zudem darauf aufmerksam, dass eine Entscheidung über die Hilfeanträge ohne ein persönliches Gespräch nicht erfolgen könne. Eine weitere Einladung des Beklagten vom 28. September 2020 zu einem Gespräch über den Antrag auf Kostenübernahme für die Autismusspezifische Förderung lehnte die Kindesmutter mit der Begründung ab, der entsprechende Therapieplan sei ausreichend. Auf Einladung des Staatlichen Schulamts im Landkreis Haßberge kam es am 8. Oktober 2020 zu einem Gespräch über die Möglichkeiten der Präsenz-Beschulung, dies unter der Leitung der Vertreterin des Staatlichen Schulamts und ohne den Kläger selbst.
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Am 16. Oktober 2020 nahm die Kindsmutter ohne den Kläger an einem Gespräch im Jugendamt des Beklagten teil, bei welchem es um die Bedarfsfeststellung für die Anträge vom 24. August 2020 ging. In diesem Rahmen brachte die Kindsmutter den Plan ein, den Kläger an der Mittelschule H. zu belassen und über einen Stufenplan an den Präsenzunterricht heranzuführen. Der Beklagte stellte diesbezüglich die Bewilligung eines Schulbegleiters konkret in Aussicht. Demgegenüber forderte der Beklagte die Kindsmutter zur Rücknahme des Antrags auf Eingliederungshilfe in Form der Kostentragung für die Beschulung durch die Web-Individualschule auf mit dem Argument, dies stelle aufgrund der Schulpflicht des Klägers keine Option dar. Unter dem 19. Oktober 2020 lehnte der Bevollmächtigte des Klägers dieses Ansinnen schriftlich ab.
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Aus alledem ergibt sich, dass der Beklagte ohne konkrete Einbeziehung des Klägers selbst über die begehrte Hilfe entscheiden durfte, dies deshalb, weil sich der Kläger einer solchen Einbeziehung zur Gänze dauerhaft entzogen hat. Er wurde mehrfach mit ausführlichen entsprechenden Hinweisen auf seine Mitwirkungsobliegenheit zur Teilnahme an Hilfeplangesprächen aufgefordert. Mit dieser vollständigen Verweigerung hat der Kläger deutlich gemacht, er wolle die begehrte Hilfe ohne jegliche Gespräche erhalten. Damit hat er den Beklagten zur „reinen Zahlstelle“ degradiert und diesem angesonnen, allein nach des Klägers eigenen Vorstellungen Eingliederungshilfe zu gewähren. Demgegenüber kann ein Eingliederungshilfeprozess nicht eindimensional verlaufen, sondern setzt immer voraus, den pädagogischen Prozess mitzugestalten. Kommt der Kläger jedoch dieser Mitwirkungsobliegenheit nach, geht dies zu seinen Lasten (ThürOVG, B.v. 22.5.2018 - 3 EO 192/18 - juris Rn. 38). Damit durfte der Beklagte ohne Einbeziehung des Klägers über dessen Antrag entscheiden.
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bb) Weiterhin zu Recht hat der Beklagte ohne die Erstellung eines Hilfeplans und ohne das formelle Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte (§ 36 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SGB VIII) entschieden. Denn es konnte auch ohne die Einhaltung dieser formalen Vorgaben ordnungsgemäß festgestellt werden, dass die Voraussetzungen für die begehrte Hilfe mangels Geeignetheit nicht vorlagen. Dies ergibt sich daraus, dass die begehrte Hilfemaßnahme - wie oben (I., 2., d) ausgeführt - den Kern schulischen Handelns betrifft, der grundsätzlich gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII den Maßnahmen der Eingliederungshilfe entzogen und dem staatlichen schulischen Handeln vorbehalten ist. Eine Ausnahme gilt lediglich bei staatlichem Schulversagen.
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Ein solches staatliches Schulversagen war jedoch auch im Zeitpunkt der Entscheidung über den Hilfeantrag am 18. November 2021 nicht erkennbar. Bereits im Gespräch mit der Kindsmutter am 16. Oktober 2020 hat diese den mit der Mittelschule H. ausgearbeiteten Plan, den Kläger unter Einbeziehung einer Schulbegleitung stufenweise an den Präsenzunterricht heranzuführen, eingebracht. Gleiches wird im Zwischenbericht der Mittelschule H. vom Februar 2021 festgehalten und zugleich die aktuell durchgeführte Haus-Beschulung des Klägers dargestellt. Auch im Gespräch zwischen dem Schulleiter und Vertretern des Jugendamts am 26. März 2021 wurde diese Planung konkretisiert. Da bis zu diesem Zeitpunkt keine Person für die Übernahme der Schulbegleitung gefunden werden konnte, erfolgte noch Ende Juni 2021 ein „HomeSchooling“ (vgl. Aktenvermerk vom 28.6.2021). Dies macht deutlich, dass die Mittelschule H. für eine individuelle Beschulung des Klägers geplant und diese im tatsächlich möglichen Rahmen durchgeführt hat. Ein staatliches Schulversagen ist deshalb nicht erkennbar, so dass zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 18. November 2021 die Gewährung der Kostentragung für eine Beschulung durch die staatlich nicht anerkannte Web-Individualschule B. rechtlich nicht zulässig und die Hilfe deshalb ungeeignet war. Somit durfte der Beklagte auf die Erstellung eines Hilfeplans im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte verzichten, ohne dass dies einen Formfehler darstellen würde.
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2. Der Beklagte hat den Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Kostentragung für die Beschulung durch die Web I.-Schule B. auch inhaltlich zu Recht abgelehnt.
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a) Dies hat der Beklagte sachgerecht damit begründet, dass diese Hilfe ungeeignet ist. Die Ungeeignetheit ergibt sich aus den obigen Ausführungen zum staatlichen Vorrang im pädagogischen Kernbereich schulischen Handelns, ohne dass im konkreten Fall ein staatliches Schulversagen erkennbar gewesen wäre. Dies hat der Beklagte in seinem Bescheid vom 18. November 2021 entsprechend ausgeführt.
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b) Darüber hinaus und unabhängig hiervon hat der Beklagte die begehrte Hilfe zu Recht mit dem Argument abgelehnt, sie sei auch unabhängig von der Frage nach der Erfüllung der Schulpflicht nicht die geeignete Maßnahme und damit nicht zielführend. Er hat dies damit begründet, es sei eine außerhäusliche stationäre Maßnahme erforderlich, wie der Beklagte dies bei der Anrufung des Familiengerichts nach § 8a Abs. 2 SGB VIII eingebracht habe. Der Sache nach stellt der Beklagte damit seine Auffassung in den Raum, die Gewährung der begehrten Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für die Beschulung durch die Web-Individualschule trüge zur Kindeswohlgefährdung bei und sei damit ungeeignet. Unter Beachtung des dem Beklagten zustehenden Beurteilungsrahmens ist dies nicht zu beanstanden.
109
Für das Gericht nachvollziehbar und schlüssig stützt der Beklagte seine Haltung auf die von ihm gewonnene Erkenntnis, der Kläger benötige eine ganzheitliche, die ganze Persönlichkeit betreffende Förderung und Unterstützung, dies deshalb, weil nicht allein im Bereich der schulischen Bildung Eingliederungshilfebedarf bestand, sondern primär und zuallererst im sozialen Bereich; insofern manifestiert und konkretisiert sich dieser allgemein bestehende Eingliederungshilfebedarf auch im Bereich der schulischen Bildung.
110
Weiterhin ist es nachvollziehbar, dass ein dauerhafter häuslicher Aufenthalt des Klägers mit physischen Kontakten lediglich zu seinen engsten Familienangehörigen und zur Therapeutin im Rahmen der Therapiestunden bei der Autismus-Ambulanz N. zu einer dauerhaften Isolation führt und diese verfestigt. Demgegenüber ist die Eingliederungshilfe darauf ausgerichtet, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Dieses Ziel wird jedoch durch die Verfestigung der häuslichen Isolation auf der Grundlage einer dauerhaften Beschulung durch die Web-Individualschule B. konterkariert. Diesen Gedanken hat der Beklagte zu Recht seiner Beurteilung zugrunde gelegt.
111
Dem kann nicht die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Gewährung von Teilhilfen (U.v. 18.12.2012 - 5 C 21/11 - juris) entgegengehalten werden. Denn diese Rechtsprechung betrifft den Fall, dass die begehrte Teil-Hilfe (dort die Gewährung eines Schulbegleiters als Eingliederungshilfe im Bereich schulische Bildung) als solche als hilfreich und geeignet angesehen wurde, jedoch darum gestritten wurde, ob diese Teil-Hilfe auch isoliert oder lediglich zusammen mit weiteren Hilfen zur Abdeckung des Integrationsbedarfs auch auf anderem als dem schulischen Gebiet bewilligt werden durfte. Die dort begehrte Hilfe war damit als solche nicht kontraproduktiv zum Ziel der Eingliederungshilfe an sich.
112
Dies macht deutlich, dass eine einen Teil-Bedarf des Integrationsbedarfs betreffende Eingliederungshilfe, die an sich im konkreten Fall umfassend betrachtet den Zielen der Eingliederungshilfe widerspricht, auch dann keine geeignete Hilfe darstellen kann, wenn sie isoliert für sich gesehen zu einem Erfolg, nämlich konkret zur Erlangung eines Schulabschlusses, führen könnte. So liegt der Fall hier.
113
Anders wäre dies wohl zu beurteilen, wäre der Kläger anderweitig hinreichend in die Gesellschaft integriert, sei es zum Beispiel in sportlichen, kirchlichen oder musikalischen Lebensumfeld, sei es zum Beispiel im Rahmen eines größeren privaten Freundeskreises, und damit die Teil-Hilfe im Bereich schulische Bildung neben der Erlangung eines Schulabschlusses keine Verfestigung der sozialen Isolation zur Folge hätte. Ebenfalls anders wäre dies zu beurteilen, wenn die Teil-Hilfe im Bereich schulische Integration mit dem Ziel der Erlangung eines Schulabschlusses selbst zu Kontakten mit anderen Menschen und damit zu einer Integration in die Gesellschaft führen würde. Dies wäre zum Beispiel bei einer individuell ausgestalteten Präsenz-Beschulung der Fall.
114
Auch wenn die Beklagtenseite im angegriffenen Bescheid der begehrten, aber dem Integrationsgedanken der Eingliederungshilfe widersprechenden und somit ungeeigneten Teil-Hilfe im schulischen Bereich nicht eine zielführende Teil-Hilfe in eben diesem schulischen Bereich, sondern eine umfassende Hilfe als geeignet und notwendig entgegengesetzt hat, ist dies nicht zu beanstanden. Dies gilt auch unter Beachtung der Tatsache, dass diese vom Beklagten vorgeschlagene Eingliederungshilfe mangels entsprechender Antragstellung durch den Kläger derzeit nicht erreichbar ist. Denn zum einen macht der Beklagte hiermit in erster Linie die Ungeeignetheit der begehrten Teil-Hilfe deutlich und nicht die Alternativlosigkeit der von ihm vorgeschlagenen den Eingliederungshilfebedarf vollständig abdeckenden Hilfe; zum anderen kann die Benennung einer aus Sicht des Beklagten geeigneten und notwendigen, aber derzeit nicht erreichbaren Hilfe anstelle der vom Beklagten als ungeeignet bewerteten von der Klägerseite begehrten Teil-Hilfe nicht zur Folge haben, dass dies den Beurteilungsrahmen des Beklagten hinsichtlich der Ungeeignetheit der begehrten Teil-Hilfe überschreitet.
115
Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass das Amtsgericht - Familiengericht - H. in seiner mündlichen Verhandlung am 24. März 2022 auf der Grundlage der Ausführungen der Sachverständigen G.-S. die Auffassung vertreten hat, aufgrund der Beschulung durch die Web-Individualschule B. trete keine Kindeswohlgefährdung ein.
116
Diese Auffassung ist vorliegend aufgrund der oben dargestellten nur eingeschränkten Brauchbarkeit des Gutachtens der Gutachterin G.-S. sowie aufgrund der Außerachtlassung des Aspekts der sozialen Isolation und der daraus folgenden fehlenden Teilhabe des Klägers am Leben in der Gesellschaft nur eingeschränkt nachvollziehbar; maßgeblich ist allerdings der Umstand, dass der Prüfungsrahmen des Amtsgerichts - Familiengerichts - H. sich auf die Frage bezog, ob aufgrund der langen Schulabwesenheit des Klägers in Verbindung mit dem Plan einer Beschulung durch die Web-Individualschule B. eine Kindeswohlgefährdung eintreten könnte. Demgegenüber hatte der Beklagte im Streit um den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Eingliederungshilfe in Form der Kostentragung für die Beschulung durch die Web-Individualschule darüber zu entscheiden, ob dies eine geeignete und notwendige Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII darstellen kann. Beide Fragen sind völlig unabhängig voneinander zu beantworten und damit unproblematisch unterschiedlich beantwortbar.
117
All dies macht deutlich, dass der Beklagte bei der Beurteilung der begehrten Teil-Hilfe im Bereich schulische Bildung in Form der Kostentragung für die Beschulung durch die Web-Individualschule B. als ungeeignet die allgemein gültigen fachlichen Maßstäbe beachtet hat und keine sachfremden Erwägungen in die Entscheidung hat einfließen lassen, so dass er den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum eingehalten hat.
118
3. Deshalb hat die Klage in ihrem Hilfsantrag keinen Erfolg.
119
III. Damit war die Klage sowohl in ihrem Hauptantrag als auch in ihrem Hilfsantrag abzuweisen. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2 VwGO.