Inhalt

VGH München, Beschluss v. 23.11.2022 – 15 ZB 22.30980
Titel:

Erfolgloser Antrag auf Zulassung der Berufung

Normenketten:
AsylG § 3e, § 4 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 3, § 78 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 S. 4
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Die von der Beklagten mit der Grundsatzrüge aufgeworfene Frage, „ob im gesamten Jemen im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG von einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit von Zivilpersonen infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts auszugehen ist“, war nicht substantiiert dargelegt worden. (Rn. 3 – 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Antrag auf Zulassung der Berufung der Beklagten, Asylbewerber aus dem Jemen, grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (nicht dargelegt), subsidiärer Schutz, Berufungszulassung, Asyl, Grundsatzrüge, Darlegungsanforderungen, Jemen, bewaffneter Konflikt, interner Schutz, Zumutbarkeit
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 11.08.2022 – M 17 K 22.30849
Fundstelle:
BeckRS 2022, 36304

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.

Gründe

I.
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Die Beklagte wendet sich im Berufungszulassungsverfahren gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 11. August 2022, mit dem sie unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheids vom 29. März 2022 verpflichtet wurde, dem Kläger - einem jemenitischen Staatsangehörigen - subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) zuzuerkennen. Das Verwaltungsgericht hat in den Entscheidungsgründen ausgeführt, dass dem Kläger aufgrund des Bürgerkriegs im Jemen als Zivilperson eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts und damit ein ernsthafter Schaden i.S. von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG drohe. Der Kläger müsse sich auch nicht auf einen internen Schutz nach §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3e AsylG / Art. 8 der RL 2011/95/EU verweisen lassen. Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakten und die Behördenakten Bezug genommen.
II.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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1. Der von der Beklagten ausschließlich geltend gemachte Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) ist hinsichtlich der von ihr als grundsätzlich eingestuften Frage,
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„ob im gesamten Jemen im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG von einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit von Zivilpersonen infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts auszugehen ist“,
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und der hierzu in der Antragsbegründung vorgebrachten Erwägungen nicht gemäß den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG substantiiert dargelegt worden.
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a) Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht. Zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit und der Entscheidungserheblichkeit muss hinreichend substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als nach den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zu entscheiden sein könnte (vgl. BayVGH, B.v. 8.12.2021 - 15 ZB 21.31689 - juris Rn. 4 m.w.N.; B.v. 16.3.2022 - 15 ZB 22.30278 - juris Rn. 17; B.v. 4.10.2022 - 15 ZB 22.30779 - juris Rn. 5). Eine Grundsatzrüge, die sich auf tatsächliche Verhältnisse stützt, erfordert überdies die Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen etwa im Hinblick auf hierzu vorliegende gegensätzliche Auskünfte oder abweichende Rechtsprechung einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind. Insoweit ist es Aufgabe des Rechtsmittelführers, durch die Benennung von bestimmten begründeten Informationen, Auskünften, Presseberichten oder sonstigen Erkenntnisquellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür darzulegen, dass nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Bewertungen in der Zulassungsschrift zutreffend sind, so dass es zur Klärung der sich insoweit stellenden Fragen der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf (BayVGH, B.v. 16.3.2022 a.a.O.; B.v. 4.10.2022 a.a.O.; SächsOVG, B.v. 15.9.2021 - 6 A 1078/19 A - juris Rn. 3 m.w.N.; OVG Bremen, B.v. 25.10.2011 - 1 LA 170/21 - juris Rn. 6).
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b) Es ist bereits nicht ersichtlich, dass in der Antragsbegründung unter Einschluss der dort in Bezug genommenen Erkenntnisquellen hinreichend substantiiert dargelegt wurde, dass nach der gebotenen G e s a m t s c h a u aller relevanten Gesichtspunkte in Abweichung von den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils des Verwaltungsgerichts nicht für den gesamten Jemen eine Gefahrenlage für alle Zivilpersonen i.S. von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG anzunehmen sein könnte (zur grundsätzlichen Möglichkeit der Bejahung einer Gefahrenlage i.S. von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ohne individuelle gefahrerhöhende Umstände in außergewöhnlichen Situationen, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 - 1 C 11.19 - NVwZ 2021, 327 = juris Rn. 21 m.w.N.; zu den hierbei anzuwendenden Maßstäben vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 a.a.O. juris Rn. 18 ff.; B.v. 13.12.2021 - 1 B 85.21 - juris Rn. 4; B.v. 13.1.2022 - 1 B 85.21 u.a. - juris; EuGH, U.v. 10.6.2021 - C-901/19 - NVwZ 2021, 1203 ff. m. Anm. Lehnert/Mantel; vgl. hierzu auch OVG Bremen, B.v. 25.10.2011 - 1 LA 170/21 - juris Rn. 17 f.; OVG SH, U.v. 12.10.2022 - 5 A 78/19.A - juris Rn. 29 ff.).
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Das Verwaltungsgericht hat eine Gefahrverdichtung für alle Zivilpersonen im vorgenannten Sinn für das gesamte Staatsgebiet des Jemen in den Entscheidungsgründen auf Basis einer Gesamtschau unter Berücksichtigung
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- der hohen Anzahl der Binnenflüchtlinge,
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- der desolaten medizinischen Lage,
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- der Behinderung der humanitären Hilfe (einschließlich der medizinischen Versorgung) durch die Konfliktparteien,
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- der Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, zivile Infrastruktur sowie (insbesondere bei Luftangriffen) zivile Objekte,
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- der Missachtung von medizinischen Einrichtungen bei der Kriegsführung,
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- der Verschlimmerung der Nahrungsmittelunsicherheit sowie der Mangelernährung durch Verminung (und damit Unbrauchbarmachung) landwirtschaftlicher Nutzflächen sowie
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- des Einsatzes von Hunger als Kriegswaffe
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ausführlich begründet.
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Dem hält die Beklagte in der Antragsbegründung im Schwerpunkt zu einseitig lediglich entgegen, dass sich aktive Kampfhandlungen mit unmittelbaren Opfern in der Zivilbevölkerung im Wesentlichen auf bestimmte Regionen begrenzten, während in anderen Regionen - maßgeblich in den beiden östlichen Provinzen Hadramawt und al-Mahra - weniger gefährliche Kampfhandlungen mit einer deutlich geringeren Anzahl unmittelbarer ziviler Kampfhandlungsopfer zu verzeichnen seien. Der durch das Verwaltungsgericht München herangezogene Bericht des österreichischen Bundesamts für Asyl- und Fremdenwesen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Jemen, 17.12.2021) werde - so die Antragsbegründung - zwar in Hinsicht auf die instabile Lage des Landes und die in Teilen dessen täglich stattfindenden Bombardierungen, Raketenangriffen und Kampfhandlungen am Boden zitiert, lasse jedoch die anschließende Eingrenzung der Konfliktregionen auf die Provinzen Abyan und Shabwa, sowie vereinzelt Aden und Taizz aus dem Blick. Diese Einschätzung finde - so die Antragsbegründung weiter - in einem Bericht des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung von humanitärer Angelegenheiten (Humanitarian Response Plan, März 2021, S. 11) Bestätigung, wenn dort von wiederkehrender Gewalt in den Gouvernements Aden, Abyan und Taizz berichtet werde, die in den Grenzregionen von Al Jawf, Marib und Sanaa sowie entlang der durch die Gouvernements Al Hodeidah, Hajjah, Ad Dali, Al Bayda, Sadah und Taizz verlaufenden Frontlinien eskaliert seien. In einigen Gouvernements (Al Jawf, Al Bayda and Marib) hätten eskalierende Feindseligkeiten zu einem Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung geführt. Insofern setze sich auch eine Anfragebeantwortung zu Jemen (Sicherheitslage; Gebietskontrolle der Regierungskräfte und der Huthi-Milizen vom 4. Oktober 2021 des Austrian Center for Country of Origin & Asylum Research and Documentation) differenziert und unter Hinzuziehung von Kartenmaterial mit dem Verlauf der Frontlinien und den damit in Zusammenhang stehenden Gefährdungspotenzial für Zivilpersonen in den einzelnen Regionen auseinander. Ferner seien die vom Verwaltungsgericht herangezogenen Quellen zum Beleg eines Anstiegs der zivilen Opferzahlen regional differenziert zu betrachten, was weitere Erkenntnisquellen belegten. Aus Berichten, wonach es in einigen Gouvernements des Jemen zu beträchtlichen zivilen Opfern gekommen sei, könne - so die Antragsbegründung resümierend - insoweit nicht gefolgert werden, dass Zivilisten „im gesamten Staatsgebiet des Jemen“ eine im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG tatbestandsmäßige Gefahr drohe; dem quantitativen Ausmaß der zivilen Opfer komme eine zu berücksichtigende Indizwirkung zu. Die Auswertung der den Jemen betreffenden und am 2. Februar 2022 im Internet abgerufenen Datensätze des „The Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED)“ für den Zeitraum 1. Februar 2021 bis 31. Januar 2022 belegten, dass der im Jemen herrschende Konflikt regional stark unterschiedlich ausgeprägt sei. Manche Regionen seien von dem Konflikt faktisch nicht oder nur in sehr geringem Maß betroffen. Für das Gouvernement Hadramawt seien in dem genannten Zeitraum insgesamt 23 Todesopfer (inkl. Kämpfer) ausgewiesen, von denen fünf Zivilisten gewesen seien. Das östlich daran angrenzende Gouvernement al-Mahra weise im Betrachtungszeitraum zwei konfliktbedingte Todesopfer auf, zu denen keine Zivilisten gehört hätten. Im Betrachtungszeitraum habe dort keine Gewalt gegen Zivilisten stattgefunden. Die Provinz Hadramawt könne über den Flughafen in Saiyn direkt - also ohne Durchquerung einer Frontlinie und damit gefahrlos - erreicht werden und erfülle auch im Übrigen die Voraussetzungen des internen Schutzes gem. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG. Gleiches gelte für das östlich angrenzende Gouvernement al-Mahra. Nach der im Frühjahr 2022 erfolgten Wiederaufnahme des internationalen Luftverkehrs am Flughafen in Sanaa gelte dies möglicherweise auch für weitere Landesteile, die ohne Durchquerung einer aktiven Frontlinie erreicht werden könnten.
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Diese schwerpunktmäßig auf Kampfhandlungen und auf unmittelbar aus Kampfhandlungen resultierenden Opfern in der Zivilbevölkerung verkürzt die bei der Rechtsanwendung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG gebotene und auch vom Verwaltungsgericht bei der Rechtsanwendung praktizierte Gesamtbetrachtung. Aussagen zur medizinischen Versorgung in den nach Bewertung des Bundesamts weniger von Kampfhandlungen betroffenen Gebieten oder zur Möglichkeit, dort ein Obdach zu erhalten, finden sich in der Antragsbegründung nicht. Die Befassung mit der Ernährungssituation in diesen Gebieten beschränkt sich in der Antragsbegründung im Wesentlichen auf die Darstellung der im Internet abrufbaren Klassifizierung der Ernährungssituation nach der „Integrated Food Security Phase Classification (IPC)“ mit Stand März 2022 („Yemen: Food Security & Nutrition Snapshot“), wonach viele Bezirke Hadramawts hinsichtlich der Ernährungssicherheit in Phase 3 („Crisis“), teilweise Phase 2 („stressed“) und Phase 4 („emergency“) klassifiziert seien. Bezogen auf das Level an Mangelernährung sei fast ganz Hadramawt in Phase 3 („serious“) klassifiziert, der Küstenstreifen weitgehend in Phase 2 („alert“). In al-Mahra herrsche Phase 2 („stressed“) und Phase 3 („crisis“) in Bezug auf Ernährungsunsicherheit; im Bereich Mangelernährung sei ganz al-Mahra in Phase 2 („alert“) eingestuft.
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Diese Klassifizierungen bleiben insbesondere in einem Land, in dem Bürgerkriegszustände und deshalb insgesamt Instabilität herrschen, aus Sicht des Senats grundsätzlich besorgniserregend, auch wenn die Lage in anderen Regionen des Jemen noch bedrohlicher sein mag und auch wenn sich konkrete Kampfhandlungen derzeit auf andere Regionen konzentrieren sollten. Hinzukommt, dass sich nach der dritten und letzten Seite der vom Bundesamt in Bezug genommene Quelle für die dort dargestellten Zeitabschnitte seit Januar 2021 in der zeitlichen Entwicklung sowohl hinsichtlich der Ernährungssicherheit als auch hinsichtlich der Mangelernährung ein Negativtrend für das Staatsgebiet des Jemen abzeichnet. Zudem sind der knappen, ohne weitere Auswertung der konkreten Situation vor Ort erfolgten Bezugnahme auf die Klassifizierungen ebenso wie dem allgemeinen Verweis in der Antragsbegründung auf den „Humanitarian Response Plan, März 2021 (dort Seite 18)“, dem „entnommen werden“ könne, „dass dem hohen Bedarf an humanitärer Unterstützung, insbesondere auf dem Gebiet der Ernährung, in hohem Maße entsprochen“ werde, keine substantiierten Aussagen zu der Frage zu entnehmen, ob für die Zivilbevölkerung im Jemen resp. in den beiden von der Beklagten genannten Regionen im Osten des Landes heute (d.h. im Herbst / Winter 2022) - ein halbes Jahr nach der Datenerhebung für die „Integrated Food Security Phase Classification (IPC)“ sowie 1,5 Jahre nach Abfassung des „Humanitarian Response Plans“ (zumal nach Auslauf der Waffenruhe Anfang Oktober 2022, die bereits bei Abfassung des Antragsschriftsatzes im September 2022 im Raum stand) - eine kriegsbedingt desolate Versorgungslage kompensiert werden kann. Hinzukommt, dass der in der Antragsbegründung erhobene und auf den Humanitarian Response Plan vom März 2021 gestützte Einwand der Beklagten, dass im Jemen dem Bedarf an humanitärer Unterstützung in hohem Maße entsprochen werde, in Widerspruch zu aktuelleren Erkenntnisquellen steht, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst stammen: So thematisiert das Bundesamt in seinen Briefing Notes vom 21. Februar 2022 (S. 6) einen Bericht des UN-Sonderbeauftragten für Jemen vom 15. Februar 2022, wonach seit Ende Januar 2022 knapp zwei Drittel der großen UN-Hilfsprogramme reduziert oder ganz eingestellt worden seien. Hiernach kürzte das Welternährungsprogramm zum Jahreswechsel 2021 / 2022 bereits die Rationen für rd. 8 Mio. der insgesamt 13 Mio. Hilfsempfänger; mögliche weitere Kürzungen oder gar die Einstellung der Hilfen werden angekündigt. Als Grund werden anhaltende Finanzierungslücken angegeben. Nach den Briefing Notes vom 21. März 2022 (S. 5) seien bei einer UN-Geberkonferenz für Jemen am 16. März 2022 lediglich 1,3 Mrd. USD an Hilfen und damit weniger als ein Drittel der benötigten 4,27 Mrd. USD zugesagt worden. Die Finanzhilfen für Jemen seien hiernach bereits in den vergangenen Jahren unzureichend gewesen, die Situation habe sich seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts verschärft. Nach einem Report im Rahmen der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) vom 14. März 2022 - so die Passage in den Briefing Notes weiter - sei ein Anstieg auf von Hungersnot betroffenen Personen für die zweite Jahreshälfte 2022 vorausgesagt. Nach den Briefing Notes des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 4. Juli 2022 (S. 6) habe das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP), nachdem es bereits im Januar 2022 aufgrund unzureichender Finanzierung die Lebensmittelrationen im Jemen reduzieren musste, am 26. Juni 2022 bekannt gegeben, die Lebensmittelrationen in Jemen weiter reduzieren zu müssen. Für rund fünf Millionen Personen würden nun weniger als 50% der empfohlenen täglichen Nahrungsmittelzufuhr bereitgestellt, weitere acht Millionen Menschen erhielten ab sofort nur noch 25% der täglichen empfohlenen Ration; als Grund gab das WFP u.a. die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs sowie fehlende Finanzierung an. Nach den Briefing Notes vom 18. Juli 2022 (S. 6) hat sich die humanitäre Situation im Jemen auch nach dem (zwischenzeitlichen) Waffenstillstand nicht verbessert.
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c) Selbst wenn unterstellt wird, dass die Beklagte trotz der - wie die zwischenzeitliche Beendigung des Waffenstillstandes (Oktober 2022) zeigt - insgesamt unbeständigen Lage in Jordanien mit ihrem Vortrag in der Antragsbegründung und den dort in Bezug genommenen Erkenntnisquellen die Voraussetzungen einer Bedrohung der Gesamtbevölkerung in den beiden östlichen Provinzen Hadramawt und al-Mahra i.S. von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG substantiiert infrage gestellt hat, hat die Beklagte die Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Frage nicht gemäß den Anforderungen des Darlegungsgebots des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG dargelegt.
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Mit ihrer Argumentation in der Antragsbegründung und den hierfür in Bezug genommenen Erkenntnisquellen stellt die Beklagte den vom Verwaltungsgericht angenommenen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt mit willkürlicher Gewalt im Jemen, aufgrund dessen im Sinne einer allgemeinen Gefahr die gesamte Zivilbevölkerung einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit unterliegt, allenfalls für einzelne Teilbereich des Jemen - nämlich für die beiden östlichen Provinzen Hadramawt und al-Mahra - konkret infrage. Nicht substantiiert angegriffen wird von der Beklagten in der Antragsbegründung hingegen die auf verschiedene Quellen gestützte Darstellung im angegriffenen Urteil des Verwaltungsgerichts, wonach im Jemen seit 2014 ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt mit den Voraussetzungen einer Gefahrenlage i.S. von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG für die gesamte Zivilbevölkerung jedenfalls in den Regionen außerhalb der beiden näher thematisierten Provinzen im Osten des Landes herrscht und wonach trotz des im April 2022 in Kraft getretenen Waffenstillstandsabkommens, welches durch zahlreiche Verstöße gegen die Waffenruhe nach Einschätzung des Verwaltungsgerichts ohnehin brüchig war (und das mittlerweile seit Anfang Oktober 2022 wieder außer Kraft getreten ist, vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 10. Oktober 2022, S. 8 und vom 24. Oktober 2022, S. 6), ein Ende des Bürgerkriegs und der jahrelangen Kampfhandlungen im Jemen weiterhin nicht absehbar ist.
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Die Ablehnung eines vom Verwaltungsgericht auf § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG gestützten subsidiären Schutzes hängt dann davon ab, dass entweder diese beiden „weniger gefährlichen“ Provinzen für den Kläger Zielort der Rückkehr / Abschiebung sind [im Folgenden aa) ] oder aber - bei einem Zielort außerhalb dieser beiden Regionen - diese beiden Regionen für den Kläger die Voraussetzungen eines Orts des internen Schutzes gem. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V. mit § 3e AsylG erfüllen [unten bb) ]. Zu Beidem fehlt es aber einem substantiierten Vorbringen der Beklagten, das eine vom angegriffenen Urteil des Verwaltungsgerichts abweichende Entscheidung zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG - nämlich die Ablehnung der diesbezüglichen Voraussetzungen der subsidiären Schutzgewährung - als möglich erscheinen lässt. Das Zulassungsvorbringen der Beklagten wendet sich auch insofern nicht gem. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG hinreichend konkret gegen die der angefochtenen Entscheidung zu Grunde liegende gerichtliche Sachverhaltswürdigung und Rechtsanwendung zu § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V. mit § 3e AsylG und vermag deshalb die Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Frage nicht hinreichend darzulegen.
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aa) Das Verwaltungsgericht konnte in Konsequenz seiner Überzeugung, dass im gesamten Jemen die Zivilbevölkerung einer Bedrohung i.S. von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG unterfällt, offenlassen, auf welche Herkunftsregion des Klägers als Zielort abzustellen ist. Nimmt man aber - wie die Beklagte - bestimmte Regionen des Jemen von einer Gefahrenlage für die Gesamtbevölkerung i.S. von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus, kommt es - zunächst - darauf an, ob der Zielort der Rückführung des Klägers in genau einem solchen „weniger gefährlichen“ Gebiet im Jemen liegt. Zielort (Herkunftsregion) ist für den im Gouvernement Raima geborenen und dort auch zuletzt wohnhaften Kläger die Region Raima, welche vom Bundesamt indes nicht namentlich als „weniger gefährliches“ Gebiet genannt wird.
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bb) Damit bleibt letztlich die Frage im Raum, ob die Beklagte in der Antragsbegründung zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit der von ihr aufgeworfenen Frage („ob im gesamten Jemen im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG von einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit von Zivilpersonen infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts auszugehen ist“) gemäß den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür aufgezeigt hat, dass für den Kläger entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts (vgl. UA S. 14 f.) eine interne Fluchtalternative i.S. von § 4 Abs. 3 i.V. mit § 3e AsylG besteht. Dies ist zu verneinen. Aus der Antragsbegründung folgt nicht hinreichend substantiiert die Möglichkeit, dass die beiden genannten Provinzen Hadramawt und al-Mahra als Orte des internen Schutzes gem. § 4 Abs. 3, § 3e AsylG für den Kläger bereitstehen.
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Einer Zuerkennung subsidiären Schutzes steht es nach § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG entgegen, wenn der Kläger auf bestimmte Regionen seines Herkunftslandes als Orte des internen Schutzes verwiesen werden kann. Das ist der Fall, wenn der Kläger in bestimmten Landesteilen keine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG), wenn er sicher und legal in diese Landesteile reisen kann und er dort aufgenommen wird sowie wenn von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in einer der genannten Städte niederzulassen (Zumutbarkeit der Niederlassung) (vgl. BVerwG, U.v. 18.2.2021 - 1 C 4.20 - BVerwGE 171, 300 = juris Rn. 10 ff., U.v. 24.6.2021 - 1 C 27.20 - juris Rn. 13 ff.; hierzu auch Dörig, NVwZ 2021, 830 ff.).
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Zur sicheren Erreichbarkeit der Provinzen Hadramawt und al-Mahra begrenzt sich die Antragsbegründung auf den Verweis auf die seit Mitte Mai 2022 erfolgte Wiederaufnahme des Luftverkehrs am Flughafen Sanaa und die deshalb wieder bestehende Möglichkeit der Nutzung einer Flugverbindung von Sanaa nach Saiyn. Nicht näher eruiert wird aber die Frage der prognostischen Beständigkeit dieser Flugverbindung und deren Sicherheit. Hierzu hätte aber angesichts der insgesamt instabil bleibenden Lage im Jemen Anlass bestanden, nach dem die Wiedereröffnung des Hauptstadtflughafen laut den Briefing Notes des Bundesamts vom 16. Mai 2022 (S.6) und vom 23. Mai 2022 (S. 6) Folge der seit 2. April 2022 in Kraft getretenen Waffenstillstandsvereinbarung war und schon im Zeitpunkt der Abfassung des Antrags auf Zulassung der Berufung (2. September 2022) die Brüchigkeit der Waffenstillstandsvereinbarung bekannt war und das Auslaufen des Waffenstillstands Anfang Oktober 2022 im Raum stand. Die Prognose der sicheren Erreichbarkeit der Provinzen Hadramawt und al-Mahra über den Luftweg erscheint mithin nach Maßgabe der Ausführungen der Beklagten im Zulassungsverfahren als fraglich. Alternativverkehrsmittel für einen sicheren Transfer (hierzu im Einzelnen BVerwG, U.v. 18.2.2021 a.a.O. Rn. 17 ff.) vom Zielort des Klägers (Raima, s.o.) zu den beiden Provinzen Hadramawt und al-Mahra sind in der Zulassungsbegründung nicht ansatzweise thematisiert worden.
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Insbesondere fehlt es in der Antragsbegründung zudem an einer hinreichenden Auseinandersetzung mit der Frage der Zumutbarkeit der Niederlassung in Hadramawt bzw. al-Mahra. Zumutbar ist die Niederlassung dann, wenn bei umfassender wertender Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen persönlichen Verhältnisse am Ort des internen Schutzes auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit andere Gefahren oder Nachteile drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer für den internationalen Schutz relevanten Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, und auch sonst keine unerträgliche Härte droht. In den Blick zu nehmen sind die jeweils schutzsuchende Person und ihre konkreten Möglichkeiten, am Ort des internen Schutzes (über-) leben zu können. Hierbei sind auch und gerade die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen, die der Ausländer am Ort der Niederlassung zu gewärtigen hat. Erforderliche, aber auch hinreichende Voraussetzung für die Niederlassung ist, dass das wirtschaftliche Existenzminimum auf einem Niveau gewährleistet ist, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt; darüberhinausgehende Anforderungen sind nicht notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit der Niederlassung. Die Darlegungs- und materielle Beweislast für die Sicherung des Existenzminimums - also für den Umstand, dass der Schutzsuchende seine Existenzgrundlage wird sichern können und deswegen nicht der realen, nicht durch ihm zumutbare Bemühungen zur eigenen Existenzsicherung abwendbaren Gefahr nicht mit Art. 3 EMRK vereinbarer Lebensbedingungen ausgesetzt sein wird - liegt dabei bei der Beklagten. Dabei muss die wirtschaftliche Existenz auf dem durch Art. 3 EMRK geforderten Niveau auch in der ersten Phase des Aufenthalts am Ort des internen Schutzes prognostisch gesichert sein; eine auch nur zeitweilige Unterschreitung dieses Niveaus muss selbst in einer Phase allfälliger anfänglicher Schwierigkeiten ausgeschlossen sein. Ist die wirtschaftliche Existenz am Ort des internen Schutzes nicht hinreichend gesichert, kommt es für die dann anzunehmende Unzumutbarkeit der Niederlassung nicht darauf an, ob auch dies im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG auf einen verfolgungsmächtigen Akteur (§ 3c AsylG) zurückzuführen ist (hierzu im Einzelnen BVerwG, U.v. 18.2.2021 a.a.O. Rn. 27 ff., 46 f.).
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Insofern ist bereits oben ausgeführt worden, dass der im Internet abrufbare Klassifizierung der Ernährungssituation nach der „Integrated Food Security Phase Classification“ (IPC) als Momentaufnahme in dem durch Bürgerkrieg und deshalb Instabilität geprägten Jemen keine substantiierte Aussagekraft zukommt, um die humanitäre Situation in den beiden vom Bundesamt thematisierten östlichen Provinzen am Maßstab von Art. 3 EMRK annähernd sicher beurteilen zu können. Zudem enthält die knappe, ohne weitere Auswertung der konkreten Situation vor Ort erfolgte Bezugnahme auf die Klassifizierungen ebenso wie der allgemeine Verweis in der Antragsbegründung auf den „Humanitarian Response Plan, März 2021“ keine substantiierten Aussagen zu der Frage, ob der Kläger, der insofern als Binnenflüchtling typischerweise einer besonders vulnerablen Gruppe angehört, auch in der ersten Phase seines Aufenthalts in den beiden Ostprovinzen des Jemen seine elementarsten menschlichen Bedürfnisse befriedigen bzw. seinen existenziellen Lebensunterhalt - in Bezug auf Ernährung, Unterkunft, Hygiene und medizinischer Versorgung - sichern kann (zu diesen Elementen des gem. Art. 3 EMRK gewährleisteten Mindeststandards vgl. vgl. BVerwG, U.v. 18.2.2021 a.a.O. Rn. 65 m.w.N.). Im Übrigen gilt auch insofern, dass in der Antragsbegründung des Beklagten eine substantiierte Auseinandersetzung mit aktuellen bundesamteigenen Erkenntnisquellen, die auf eine verschärfte und insgesamt bedenkliche Versorgungslage im ganzen Jemen hindeuten (vgl. die bereits oben zitierten Briefing Notes seit Anfang 2022) seitens der Beklagten im Zulassungsverfahren nicht erfolgt ist und auch deshalb dem Substantiierungsgebot des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG in Bezug auf den geltend gemachten Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht Genüge getan wurde.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).