Titel:
rechtmäßige Ausweisung
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 3
ARB 1/80 Art. 7
Leitsatz:
Ein Anspruch nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 setzt grundsätzlich voraus, dass sich die Familienzusammenführung, die der Grund für die Einreise des Betroffenen in den fraglichen Mitgliedstaat war, während des gesamten vorgesehenen Zeitraums von drei Jahren im tatsächlichen Zusammenleben bzw. Zusammenwohnen des Betroffenen mit dem Arbeitnehmer in häuslicher Gemeinschaft manifestiert. Die lediglich einen Zeitraum von 14 Tagen umfassende Strafhaft stellt keine unschädliche kurzfristige Unterbrechung des erforderlichen tatsächlichen Zusammenlebens dar; sie kann daher nicht auf den erforderlichen dreijährigen ununterbrochenen ordnungsgemäßen Wohnsitz bei den Eltern angerechnet werden kann. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf Zulassung der Berufung, ernstliche Zweifel, Ausweisung, assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht, dreijährige tatsächliche Lebensgemeinschaft mit den stammberechtigten Eltern (hier: verneint), nicht anrechenbare Strafhaft, erhöhte Ausweisungsvoraussetzungen, Straftaten gegen das Schutzgut der sexuellen Selbstbestimmung, Gefahrenprognose, Verhältnismäßigkeit der Ausweisung, Türkei, Strafhaft
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 15.06.2022 – M 12 K 21.6285
Fundstelle:
BeckRS 2022, 36271
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
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Mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 9. November 2021 in der Gestalt der Änderung vom 15. Juni 2022 weiter. Mit diesem Bescheid wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, sein Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt, ein unter der Bedingung der Straffreiheit auf zuletzt fünf Jahre, andernfalls sieben Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen und ihm bei nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei angedroht.
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Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 - 2 BvR 657/19 - juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
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1. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der rechtliche Maßstab der angefochtenen Ausweisung § 53 Abs. 1 AufenthG und nicht § 53 Abs. 3 AufenthG ist, weil dem Kläger ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht insbesondere auch nach Art. 7 ARB 1/80 nicht zusteht.
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Das Verwaltungsgericht hat diesbezüglich festgestellt, dass der Kläger, der nach seiner Einreise ins Bundesgebiet am 29. Dezember 2007 zunächst bis 11. Januar 2008 eine Restjugendstrafe verbüßt hat und erst danach zu seinen Eltern gezogen ist, keinen mindestens dreijährigen ununterbrochenen ordnungsgemäßen Wohnsitz bei seinen Eltern gehabt habe, weil diese bereits am 1. September 2010 (Vater) bzw. seit dem 1. Januar 2011 (Mutter) in den Ruhestand getreten und damit nicht mehr dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik angehörende türkische Arbeitnehmer im Sinne des Art. 7 ARB 1/80 seien. Unmaßgeblich sei, ob der Kläger bereits im Zeitpunkt seiner Einreise den Wohnsitz bei den Eltern habe nehmen wollen; es komme vielmehr auf eine tatsächliche Lebensgemeinschaft im Sinne dieser Vorschrift an.
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Soweit der Kläger dagegen eingewendet, er sei mit der Erlaubnis der Beklagten, bei seinen Eltern zu wohnen, in das Bundesgebiet eingereist, sein Vater habe ihn am Flughafen abgeholt und seine Sachen nach Haftantritt in die elterliche Wohnung gefahren, es sei zwischen den Parteien immer unzweifelhaft gewesen, dass er bei seinen Eltern wohnen werde, weshalb infolge eines dreijährigen ununterbrochenen ordnungsgemäßen Wohnsitzes bei den Eltern auch ein Recht nach Art. 7 ARB 1/80 entstanden sei, greift dies nicht durch. Dabei kann dahinstehen, ob die vom Kläger beantragte und ihm durch die Beklagte schließlich auch erteilte Aufenthaltserlaubnis nach § 37 AufenthG (Recht auf Wiederkehr) dem Erfordernis einer Nachzugsgenehmigung im Sinne von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genügt, was von Beklagtenseite verneint wird (zu dieser Frage vgl. zuletzt BayVGH, U.v. 10.6.2022 - 10 B 22.244 - juris Rn. 34 m.w.N.). Denn das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf abgestellt, dass ein Anspruch nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 grundsätzlich voraussetzt, dass sich die Familienzusammenführung, die der Grund für die Einreise des Betroffenen in den fraglichen Mitgliedstaat war, während des gesamten im ersten Spiegelstrich dieses Artikels vorgesehenen Zeitraums von drei Jahren im tatsächlichen Zusammenleben bzw. Zusammenwohnen des Betroffenen mit dem Arbeitnehmer in häuslicher Gemeinschaft manifestiert (vgl. EuGH, U.v. 17.4.1997 - C-351/95, Kadiman - juris Rn. 40 ff.). Rechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Auffassung des Erstgerichts, dass der Zeitraum der Strafhaft des Klägers (Vollstreckung der Reststrafe unmittelbar nach Einreise), auch wenn er letztlich lediglich einen Zeitraum von 14 Tagen umfasst hat, keine unschädliche kurzfristige Unterbrechung des erforderlichen tatsächlichen Zusammenlebens bedeutet und demgemäß nicht auf den erforderlichen dreijährigen ununterbrochenen ordnungsgemäßen Wohnsitz bei den Eltern angerechnet werden kann. Denn das tatsächliche Zusammenleben mit den Eltern hat beim Kläger eben erst im Anschluss an die Verbüßung der Reststrafe begonnen.
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2. Das Verwaltungsgericht hat im Übrigen unabhängig davon in selbständig tragender Weise zu Recht festgestellt, dass sich die angefochtene Ausweisung auch unter Berücksichtigung des erhöhten Ausweisungsschutzes nach § 53 Abs. 3 AufenthG als rechtmäßig erweist, weil das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.
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Die Rüge, die Ausweisung hätte nicht allein auf § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG gestützt, sondern die unionsrechtlichen Maßstäbe des § 6 FreizügG/EU herangezogen werden müssen, verkennt den der rechtlichen Beurteilung der hier angefochtenen Ausweisung zu Grunde zu legenden Maßstab (vgl. zuletzt BVerwG, U.v. 16.2.2022 - 1 C 6.21 - juris Rn. 25; BayVGH, B.v. 18.3.2022 - 10 CS 21.1570 - juris Rn. 13 jeweils m.w.N.; vgl. insb. auch EuGH, U.v. 8.12.2011 - C-371/08, Ziebell - Rn. 86, wonach die für Unionsbürger geltende Regelung des Ausweisungsschutzes nicht entsprechend auf türkische Staatsangehörige angewandt werden kann).
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Auch der Einwand, die erhöhten Ausweisungsvoraussetzungen nach § 53 Abs. 3 AufenthG lägen beim Kläger, der nur leichte bzw. mittelschwere Delikte begangen habe, dessen Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden sei und der unter dem Eindruck der Bewährungsstrafe seit drei Jahren keine Straftat mehr begangen habe, nicht vor, weil eine gegenwärtige Gefahr im Sinne dieser Bestimmung nicht bestehe, verfängt nicht. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht in rechtlich nicht zu beanstandender Weise bejaht, dass das persönliche Verhalten des Klägers eine gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 53 Abs. 3 AufenthG darstellt. Es hat zu Recht festgestellt, dass das von den Straftaten des Klägers betroffene Schutzgut der sexuellen Selbstbestimmung nach der Wertordnung des Grundgesetzes einen sehr hohen Rang einnimmt und ein Grundinteresse der Gesellschaft betrifft (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 13.10.2017 - 10 ZB 17.1469 - juris Rn. 11). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10/12 - juris Rn. 16 m.w.N.). Gemessen daran ist auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens von einer hohen Wahrscheinlichkeit auszugehen, dass der Kläger erneut gegen das Schutzgut der sexuellen Selbstbestimmung und körperlichen Integrität gerichtete Straftaten begehen wird. Das Verwaltungsgericht hat bei seiner Prognose zu Recht berücksichtigt, dass der Kläger mehrfach (strafrechtliche Verurteilungen am 12.5.2014, 23.9.2019 und zuletzt 17.2.2021) gezeigt hat, dass er das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Integrität Dritter nicht respektiert; die letzte Tat habe er sogar unter noch offener Bewährung begangen. Das Verwaltungsgericht durfte bei der Gefahrenprognose auch berücksichtigen, dass der Kläger wegen wiederholter gravierender Straftaten im Zeitraum 1998 bis 2002 bereits bestandskräftig ausgewiesen (vgl. dazu auch BVerwG, U.v. 16.2.2022 - 1 C 6.21 - juris Rn. 31) und wegen der erneuten Straftaten nach seiner Wiedereinreise in das Bundesgebiet im November 2014 ausländerrechtlich verwarnt worden war. Schließlich hat das Verwaltungsgericht in rechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass sich an dieser Prognose auch unter Berücksichtigung der bei der letzten Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe erfolgten Strafaussetzung zur Bewährung nichts ändere, weil der Aussetzungsentscheidung zum einen lediglich Indizwirkung zukomme, der Kläger sich zum anderen aber bis zuletzt hinsichtlich seiner Straffälligkeit uneinsichtig und nicht nachhaltig veränderungsbereit gezeigt habe; zudem habe die in der Bewährungsentscheidung erwähnte psychotherapeutische Behandlung beim Kläger bisher nicht stattgefunden. Nach alledem fällt nicht entscheidend ins Gewicht, dass der Kläger seit Anfang 2020 offensichtlich keine weiteren Straftaten begangen hat.
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3. Die Begründung des Zulassungsantrags vermag schließlich auch nicht die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zur Verhältnismäßigkeit der angefochtenen Ausweisungsverfügung ernstlich in Zweifel zu ziehen. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht das öffentliche Interesse an der Ausweisung des Klägers gegen seine Bleibeinteressen gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG unter Berücksichtigung der nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigenden Kriterien (EGMR, U.v. 18.10.2006 - Nr. 46410/99, Üner - Rn. 57 ff.) rechtsfehlerfrei abgewogen und zutreffend festgestellt, dass das Ausweisungsinteresse überwiegt. Entgegen der Auffassung des Klägers hat das Verwaltungsgericht den Umstand, dass er im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen ist und bis auf den Zeitraum 2004 bis 2007 immer in Deutschland gelebt hat, berücksichtigt, demgegenüber aber auch zu Recht festgestellt, dass sich der Kläger bisher weder beruflich noch sozial hinreichend in Deutschland integriert hat und ihm eine Rückkehr in die Türkei zumutbar ist. Auch die unsubstantiierte Behauptung, durch die Geburt des gemeinsamen Kindes mit seiner Lebensgefährtin am ... 2022, das deutscher Staatsangehöriger sei, sei ein neuer Umstand eingetreten, der das Bleibeinteresse des Klägers entscheidend erhöhe, wird das Abwägungsergebnis nicht ernstlich in Zweifel gezogen. Weder ist der vom Verwaltungsgericht bereits beanstandete fehlende Nachweis einer leiblichen bzw. rechtlichen Vaterschaft des Klägers erbracht noch dargelegt worden, dass hier eine durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG geschützte Vater-Kind-Beziehung tatsächlich besteht.
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4. Aus den oben dargelegten Gründen ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit einer Sperrfrist von zuletzt fünf (unter der Bedingung der Straffreiheit) bzw. sieben Jahren unter Berücksichtigung des Zwecks der Ausweisungsverfügung einerseits und der schützenswerten Belange des Klägers andererseits frei von Ermessensfehlern ergangen ist.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 39 Abs. 1 und § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).