Titel:
Anhörungsrüge gegen einen Scheinbeschluss
Normenkette:
VwGO § 152a Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
Gegen einen Scheinbeschluss können Rechtsmittel eingelegt werden, um den Anschein eines wirksamen Beschlusses zu beseitigen. Dies schließt auch eine Anhörungsrüge ein. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anhörungsrüge im Berufungszulassungsverfahren, Aufhebung eines Scheinbeschlusses, Verletzung des rechtlichen Gehörs (verneint), keine Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit der Entscheidung, Anhörungsrüge, Scheinbeschluss, rechtliches Gehör
Vorinstanzen:
VGH München, Beschluss vom 02.08.2022 – 8 ZB 21.2339
VG München, Urteil vom 27.07.2021 – M 2 K 20.1210
Fundstelle:
BeckRS 2022, 36233
Tenor
I. Der auf den 28. Juli 2022 datierte „Beschluss“ wird aufgehoben.
II. Die Anhörungsrüge gegen den Beschluss vom 2. August 2022 (Az. 8 ZB 21.2339) wird zurückgewiesen.
III. Der Kläger trägt die Kosten des Anhörungsrügeverfahrens.
Gründe
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Der Kläger begehrte mit seiner Klage von der Beklagten zu 1 die Beseitigung eines verrohrten Grabens, der unterirdisch über sein Grundstück verläuft. Von der Beklagten zu 2 begehrte er klageweise die Beseitigung eines Mischwasserkanals, der über ein Grundstück verläuft, das er inzwischen an einen Dritten veräußert hat.
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Das Verwaltungsgericht München wies beide Klagen mit Urteil vom 27. Juli 2021 ab (Az. M 2 K 20.1210). Der hiergegen gerichtete Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung blieb erfolglos (BayVGH, B.v. 2.8.2022 - 8 ZB 21.2339). Die Geschäftsstelle des Senats übersandte den Beteiligten am 10. August 2022 per elektronischem Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) versehentlich nicht den von den Senatsmitgliedern unterschriebenen Beschluss, dessen Urschrift sich in der Gerichtsakte befindet, sondern die Datei eines auf den 28. Juli 2022 datierten Beschlussentwurfs.
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Mit Schriftsatz vom 22. August 2022 hat der Kläger Anhörungsrüge erhoben mit dem Antrag, das Verfahren Az. 8 ZB 21.2339 fortzuführen und die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 27. Juli 2021 zuzulassen.
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Am 27. September 2022 wurde den Beteiligten der Beschluss vom 2. August 2022 übersandt. Die Beteiligten wurden informiert, dass der am 10. August 2022 übermittelte „Beschluss“, datiert auf den 28. Juli 2022, nicht der Urschrift des Beschlusses vom 2. August 2022 entspricht. Der Kläger wurde um Mitteilung gebeten, ob die Anhörungsrüge gegen diesen Beschlussentwurf aufrechterhalten bleiben soll.
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Mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2022 lehnte der Kläger alle Senatsmitglieder wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Zudem stellte er klar, dass sich die Anhörungsrüge gegen den am 10. August 2022 übermittelten Beschluss vom 28. Juli 2022 und gegen den am 27. September 2022 zugestellten Beschluss vom 2. August 2022 richtet.
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Mit Beschluss vom 2. November 2022 wurde das Ablehnungsgesuch verworfen.
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Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten verwiesen.
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Die zulässigen Anhörungsrügen bleiben in der Sache ohne Erfolg.
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A. Auf die Anhörungsrüge vom 22. August 2022 ist der auf den 28. Juli 2022 datierte „Beschluss“ deklaratorisch aufzuheben. Auch wenn insoweit mangels Urschrift eine „gerichtliche Entscheidung“ im Sinn des § 152a Abs. 1 Satz 1 VwGO überhaupt nicht vorliegt, ist die Anhörungsrüge statthaft. Gegen einen Scheinbeschluss können Rechtsmittel eingelegt werden, um den Anschein eines wirksamen Beschlusses zu beseitigen. Das Gericht kann dann aber nur die Nichtexistenz der den Beteiligten zugegangenen „Entscheidung“ durch eine klarstellende Aufhebung aussprechen (vgl. BVerwG, U.v. 15.12.2021 - 2 C 9.21 - NVwZ-RR 2022, 423 = juris Rn. 24).
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B. Die Anhörungsrüge vom 7. Oktober 2022 gegen den am 27. September 2022 übersandten Beschluss vom 2. August 2022 bleibt ohne Erfolg. Der Kläger hat nicht dargelegt, dass der Senat seinen Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat (vgl. § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 6 VwGO).
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1. Der verfassungsrechtlich verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 91 Abs. 1 BV) verpflichtet das Gericht, seine Entscheidung nur auf Tatsachen oder Beweisergebnisse zu stützen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (vgl. § 108 Abs. 2 VwGO), sowie ein rechtzeitiges und möglicherweise erhebliches Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, soweit es aus verfahrens- oder materiell-rechtlichen Gründen nicht ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben muss oder kann (vgl. BayVerfGH, E.v. 25.8.2016 - Vf. 2-VI-15 - juris Rn. 33 ff.; BVerfG, B.v. 29.10.2015 - 2 BvR 1493/11 - NVwZ 2016, 238 - juris Rn. 45). Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte jedoch nicht, dem Tatsachenvortrag oder der Rechtsansicht eines Verfahrensbeteiligten inhaltlich zu folgen (vgl. BVerwG, B.v. 13.1.2022 - 5 PB 9.21 - juris Rn. 2). Die Anhörungsrüge ist kein Rechtsbehelf zur Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung. Sie gibt dem unterlegenen Verfahrensbeteiligten keinen Anspruch darauf, dass das Gericht seine Entscheidung anhand der Einwände noch einmal überdenkt und, wenn es an ihr festhält, durch eine ergänzende oder vertiefende Begründung rechtfertigt (vgl. BVerwG, B.v. 17.2.2020 - 4 A 6.19 - juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 19.4.2021 - 6 ZB 21.973 - juris Rn. 2; OVG NW, B.v. 4.5.2022 - 4 E 337/22 - juris Rn. 5).
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2. Mit seiner Anhörungsrüge bezweifelt der Kläger, dass der Senat sein Vorbringen ernsthaft in Erwägung gezogen hat. Die Entscheidung äußere gleich zu Beginn Zweifel, dass der Prozessbevollmächtigte etwaige Vorschläge des Klägers bei Abfassung seiner Schriftsätze nicht gesichtet, geprüft und rechtlich durchdrungen habe (vgl. BA Rn. 12). Dies lege den Verdacht nahe, dass das Gericht den Inhalt seines Vorbringens nicht unvoreingenommen geprüft habe, sondern innerlich befangen gewesen sei, auch wenn der Beschluss formal auf Argumente des Klägers eingegangen sei.
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Da dem Kläger auf den gerichtlichen Hinweis vom 21. Juli 2022 keine angemessene Erwiderungsfrist von 14 Tagen eingeräumt worden sei, sei sein Schriftsatz vom 1. August 2022 unberücksichtigt geblieben. Der Kläger sei davon überzeugt, dass der angebliche Beschluss vom 2. August 2022 rückdatiert worden sei, um den Beschluss vom 28. Juli 2022 „abzuschwächen“ und damit die Anhörungsrüge zu entkräften.
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Der Senat habe die Beklagte zu 2 bevorzugt, indem er mit Schreiben vom 2. Mai 2022 angeregt habe, nachträglich eine Grundbucheintragung vorzunehmen. Dies verstoße gegen das Neutralitätsgebot und gegen die Aufklärungspflicht.
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Dieser Vortrag des Klägers lässt nicht erkennen, dass der Senat seinen Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hätte.
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a) Auf die vom Senat geäußerten Zweifel, ob der Zulassungsantrag den Darlegungsanforderungen aus § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO genügt (vgl. BA Rn. 11 f.), kann der Kläger keine Verletzung des rechtlichen Gehörs stützen. Der Senat hat seine Entscheidung nicht tragend darauf gestützt (vgl. BA Rn. 11 und Rn. 13 ff.). Weshalb der Senat bei der Würdigung des klägerischen Zulassungsvorbringens „innerlich befangen“ gewesen sein sollte, erschließt sich ihm nicht.
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b) Der Senat hat insbesondere auch den Schriftsatz des Klägers vom 1. August 2022 zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen. Der Beschluss vom 2. August 2022 verhält sich zu den Zweifeln des Klägers an der Unparteilichkeit des Gerichts im Zusammenhang mit dem gerichtlichen Hinweis an die Beklagte zu 2 (Schreiben vom 2.5.2022, vgl. BA Rn. 40). Hinweise sind hiernach Aufgabe des Richters, auch wenn sie die Prozesschancen eines Beteiligten verringern können (vgl. BVerwG, B.v. 10.10.2017 - 9 A 16.16 - NVwZ 2018, 181 = juris Rn. 6). Auch die übrigen Ausführungen des Klägers im Schriftsatz vom 1. August 2022, die sein früheres Vorbringen wiederholten und vertieften, hat der Senat zur Kenntnis genommen und erwogen.
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c) Die Vermutung des Klägers, der Senatsbeschluss vom 2. August 2022 sei rückdatiert worden, um den Beschluss vom 28. Juli 2022 „abzuschwächen“ und damit die Anhörungsrüge zu entkräften, ist durch die in der Gerichtsakte dokumentierten Verfügungen und Erledigungsvermerke zu widerlegen (vgl. dort S. 166). Abgesehen davon hätte die Anhörungsrüge auch dann keine Aussicht auf Erfolg, wenn der Senat den Zulassungsantrag vor Eingang des Schriftsatzes der Klägerseite vom 1. August 2022 abgelehnt hätte. Der Kläger hatte bis dahin ausreichend Gelegenheit, sich zu der Übertragung der Dienstbarkeit zu äußern, nachdem die Beklagte zu 2 mit Schriftsatz vom 13. Juni 2022 hierzu vorgetragen hatte. Im Übrigen konnte der Kläger von einer baldigen Entscheidung des Senats nicht überrascht sein; im Schreiben vom 21. Juli 2022 wurde eine zeitnahe Entscheidung über den Zulassungsantrag angekündigt.
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d) Soweit der Kläger mit der Anhörungsrüge seine Auffassung, die von derjenigen des Senats abweicht, ausführlich wiederholt und ergänzt, sind weitere Ausführungen nicht geboten. Die Anhörungsrüge stellt keinen Rechtsbehelf zur Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit einer Entscheidung dar und dient auch nicht dazu, das Gericht zur Erläuterung oder Ergänzung derselben zu veranlassen (vgl. oben Rn. 11).
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C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil nach Nr. 5400 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz eine streitwertunabhängige Festgebühr anfällt.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152a Abs. 4 Satz 3 VwGO).