Inhalt

OLG München, Beschluss v. 28.07.2022 – 3 W 822/22
Titel:

Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf ein Kapitalanleger-Musterverfahren

Normenkette:
KapMuG § 8 Abs. 1
Schlagworte:
Kapitalanleger-Musterverfahren, Aussetzung, Beschwerde
Vorinstanz:
LG München I, Beschluss vom 02.06.2022 – 27 O 6642/21
Fundstellen:
AG 2023, 45
BeckRS 2022, 36078
LSK 2022, 36078

Tenor

1. Die sofortige Beschwerde des Beklagten zu 1) gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 02.06.2022, Az. 27 O 6642/21, wird zurückgewiesen.
2. Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3017,41 € festgesetzt.
3. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
1
Mit am 15.10.2021 erhobener Klage begehrt der Kläger Schadensersatz aufgrund des Erwerbes von Aktien der W.AG. Die erhobene Klage wendet sich dabei gegen die Beklagten zu 1) und 2) als ehemalige Vorstandsmitglieder der W. AG, welche nach den Behauptungen des Klägers ein finanzielles Eigeninteresse an etwaigen Bilanz- und Marktmanipulationen gehabt haben sollen.
2
Der Beklagte zu 1) trat der Klage entgegen und führte, soweit für das Beschwerdeverfahren relevant, aus, dass eine Kausalität etwaiger Handlungen des Beklagten zu 1) zu dem Kauf der Aktien durch den Kläger nicht einmal vorgetragen sei, die Kaufentscheidung des Klägers wurzelt vielmehr in seiner Risikobereitschaft und Spekulation. Auf eine etwaige Vermutung könne sich die Klagepartei ebenfalls nicht berufen.
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Das Landgericht München I setzte nach vorheriger Anhörung mit Beschluss vom 02.06.2022 das Verfahren gegen den Beklagten zu 1) im Hinblick auf das Kapitalanleger-Musterverfahren vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht, Az.: 101 KAP 1/22, aus. Dieser Beschluss wurde dem Beschwerdeführer am 07.06.2022 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 17.06.2022, eingegangen am selben Tag, legt der Beklagte zu 1) gegen diesen Beschluss Beschwerde ein und führt aus, dass die Voraussetzungen einer Aussetzung nach § 8 Abs. 1 KapMuG nicht gegeben seien, vielmehr sei die erhobene Klage bereits aus anderen Gründen entscheidungsreif. Der Kläger könne sich auf eine etwaige Vermutung nicht berufen, da der Aktienkurs nach einer Veröffentlichung eines Berichts der KPMG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft am 27.04.2020 erheblich gefallen war und der Kläger erst nach diesem Zeitpunkt die streitgegenständliche Anlage getätigt hat.
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Das Landgericht München I half dieser Beschwerde mit Beschluss vom 23.06.2022 nicht ab und legte das Verfahren dem OLG München zur Entscheidung vor.
II.
5
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg, das Landgericht München I hat das Verfahren zu Recht ausgesetzt.
6
1. Die Voraussetzungen einer Aussetzung nach § 8 Abs. 1 S. 1 KapMuG sind im Hinblick auf den Beklagten zu 1) gegeben, auf die zutreffenden Ausführungen des Erstgerichtes sowie eine Vielzahl von Aussetzungsbeschlüssen des OLG München, vgl. z.B. Beschluss vom 18.05.2022, Az.: 3 U 8736/21, wird vollumfänglich Bezug genommen. Am 16.03.2022 wurde im elektronischen Bundesanzeiger der Vorlagebeschluss des Landgerichts München I - 3. Zivilkammer - vom 14.03.2022, Gz. 3 OH 2767/22 KapMuG, veröffentlicht. In diesem ist im Rubrum auch der hiesige Beklagte zu 1) enthalten.
7
Die in dem Vorlagebeschluss unter A.I. als Feststellungsziele zur angeblichen Tathandlung der W. AG angeführten angeblichen Unrichtigkeiten der Geschäftsberichte der W. AG entsprechen - wenn auch mit z.T. anderen Formulierungen - in der Sache weitestgehend denjenigen, die auch die hiesige Klagepartei unter Vorlage des KPMG-Berichts und des W.b.-Berichts mit zahlreichen Beweisangeboten (u.a. Zeugen und Sachverständigengutachten) geltend macht.
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Auch die Feststellungsziele zum Vorsatz des hiesigen Beklagten zu 1) unter A.I. Nr. 6 bis 7 des Vorlagebeschlusses entsprechen weitestgehend dem hiesigen beweisbewehrten Klagevorbringen. Gleiches gilt für die im Rahmen des Anspruchs nach § 823 Abs. 2 BGB iVm § 400 AktG und § 826 BGB zu klärenden Fragen der Schutzgesetzeigenschaft (A II 4 a)), der Kenntnis des Beklagten zu 1) hiervon und dessen rechtswidrige und schuldhafte Handlung (A II 4 b) und A II 6), respektive der Sittenwidrigkeit seines Handelns gemäß § 826 BGB (A II 9).
9
2. Soweit sich der Beklagte zu 1) insbesondere gegen die Vermutung einer Kausalität aufgrund des Zeitpunktes des Kaufs durch die Klagepartei wendet, ist dazu Folgendes auszuführen: Der Senat geht davon aus, dass jedenfalls beim Kauf von Aktien grundsätzlich ein sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung ergebender Erfahrungssatz dafür spricht, dass die Anleger die Aktien in Kenntnis der verschwiegenen Machenschaften nicht gekauft hätten (OLG München, Urteil vom 11.11.2021 - 8 U 5670/21, BeckRS 2021, 34699). Soweit die Beschwerde auf die Rechtsprechung des BGH in Sachen „C.road“ (BGH NZG 2007, 708) abstellt, vermag dies nicht zu überzeugen. In diesem Verfahren ging es nicht darum, ob das Unternehmen bei zutreffender Berichterstattung zusammengebrochen wäre, sondern nur darum, ob sich ein Anleger gerade aufgrund der unrichtigen Berichterstattung beteiligt hat. Das kann so sein, muss es aber nicht, deshalb ist in diesen Fällen für eine Kausalitätsvermutung zumindest eine „Anlagestimmung“ erforderlich. Hier dagegen stellt sich diese Frage so nicht, weil die W.card AG bei früherer Testatsverweigerung zur Überzeugung des Senats auch früher Insolvenz angemeldet hätte und sich dann ein durchschnittlicher Anleger nicht mehr beteiligt hätte (vgl. OLG München, Hinweis vom 09.12.2021, 8 U 6063/21, BeckRS 2021, 43191).
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Eine andere Bewertung ergibt sich auch nicht daraus, dass nach dem Vortrag des Beklagten zu 1) am 27.04.2020 ein Bericht der KPMG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft veröffentlicht wurde und infolgedessen der Kurs der streitgegenständlichen Aktie fiel. Es ist gerade Bestandteil des Handels mit Aktien dar, dass sich die Kurse infolge von Nachrichten und Mitteilungen über oder von dem Unternehmen nach oben oder unten verändern. Daraus folgt jedoch keine Aufhebung der Vermutung, da gerichtsbekanntermaßen von Seiten der W.card AG zu diesem Zeitpunkt stets von behebbaren Problemen gesprochen wurde, der angesprochene Bericht ergab, dass sich für alle vier Prüfbereichen - die Geschäftsbereiche Dritt-Partnergeschäft (TPA) und Merchant Cash Advance (MCA) / Digital Lending sowie bei den Geschäftstätigkeiten in Indien und Singapur - keine substanziellen Feststellungen ergeben, die für die Jahresabschlüsse im Untersuchungszeitraum 2016, 2017 und 2018 zu Korrekturbedarf geführt hätten. Eine Offenlegung der Geschäftstätigkeit der W. AG, wie sie zu einem späteren Zeitpunkt erfolgte, lag im Mai 2020 daher noch nicht vor, entsprechend konnte es jedoch auch keine Kenntnis des Klägers geben, welche zu einer Nichtanwendung der oben dargelegten Vermutung führen würde.
11
Soweit der Beklagte zu 1) in der Beschwerde vorträgt, die Klagepartei habe noch nach Insolvenzantragstellung noch Wertpapiere der W. AG gekauft (Beschwerde Ziffer 6), ist dies nicht zutreffend. Die streitgegenständlichen Aktienkäufe erfolgten am 18.05.2020 und damit zeitlich deutlich vor dem Insolvenzantrag der W. AG.
12
Die Aussetzung durch das LG München I erfolgte daher zu Recht, die Beschwerde war zurückzuweisen.
III.
13
1. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Nach aktueller Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ergeht im Aussetzungsverfahren keine Kostenentscheidung. Die Ausgangsentscheidung des Landgerichts über die Aussetzung des Verfahrens darf als Teil der Hauptsache keine Kostenentscheidung enthalten. Das durch diese Aussetzungsentscheidung ausgelöste Beschwerdeverfahren und das anschließende Rechtsbeschwerdeverfahren stellen daher nur einen Bestandteil des Hauptverfahrens dar. Die Kosten des Beschwerde- und des Rechtsbeschwerdeverfahrens, die durch eine Aussetzungsentscheidung ausgelöst werden, bilden einen Teil der Kosten des Rechtsstreits, die unabhängig vom Ausgang des Beschwerde- und Rechtsbeschwerdeverfahrens die nach §§ 91 ff. ZPO in der Sache unterliegende Partei zu tragen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 09.03.2021 - II ZB 16/20, NJW-RR 2021, 638 Rn. 23).
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2. Gleichwohl ist ein Beschwerdewert festzusetzen. Dieser richtet sich nach dem Interesse an einer Aussetzung. Dieses ist hier gemäß § 3 ZPO - ausgehend von den Angaben in der Klageschrift - auf 1/5 der Hauptsache zu schätzen (vgl. Thomas/Putzo, ZPO, 41. Aufl. 2020, § 3 Rn. 24 m.w.N.).
15
3. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof war gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 1 ZPO nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts.