Titel:
Gefahrerhöhung für Rückkehrer aufgrund der aktuellen landesweiten Unruhen und Proteste im Iran sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat
Normenketten:
Anerkennungs-RL Art. 4 Abs. 4
VwGO § 86 Abs. 1 Hs. 2
AsylG § 3, § 4, § 25
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Die aktuellen landesweiten Unruhen und Proteste im Iran sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat wirken bei einer Rückkehr gefahrerhöhend jedenfalls, wenn die asylsuchende Person schon zuvor wegen ihres Vorfluchtverhaltens und/oder wegen ihres Verhaltens im Ausland im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden stand und steht. (Rn. 31)
Schlagworte:
Iran, kurdische Volkszugehörigkeit, Anzeige gegen hohe Persönlichkeit des Geheimdienstes, Inhaftierung im Jahr 2018/2019, Folter sowie sexualisierte Gewalt durch Sicherheitskräfte, erzwungenes Geständnis, HIV-Infektion und Aids-Erkrankung infolge der Folter, Vermutung erneuter Verfolgung mangels stichhaltiger gegenteiliger Gründe, insgesamt glaubhaftes Vorbringen im Einzelfall, flüchtlingsrelevante Verfolgungsgründe, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Gefahr, Verfolgungsinteresse des iranischen Staates, exilpolitische Aktivitäten, Reisewarnung des Auswärtigen, Amtes, Gefahrerhöhung durch aktuelle landesweite Proteste und Repressionen im Iran, hohe Persönlichkeit des Geheimdienstes, Reisewarnung des Auswärtigen Amtes, RL 2011/95/EU
Fundstelle:
BeckRS 2022, 35201
Tenor
I. Die Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Juli 2022 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger, iranischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volkszugehörigkeit, reiste am 21. Juni 2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 19. August 2021 einen Asylantrag. Zur Begründung seines Asylantrages gab der Kläger im Wesentlichen an: Er habe bei der Kontrolle eines Gaszählers im Haushalt einer hohen Persönlichkeit des Geheimdiensts Manipulationen festgestellt und den Betreffenden angezeigt. Sieben Monate später sei er bedroht, mitgenommen und inhaftiert worden. Er habe ein Geständnis ablegen müssen und sei dabei gefilmt worden. Er sei während der Inhaftierung vergewaltigt worden, auch mit einer Cola-Flasche. Bei der anschließenden medizinischen Kontrolle habe sich herausgestellt, dass er Aids habe. Wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit sei jedwede medizinische Behandlung verweigert worden.
2
Mit Bescheid vom 12. Juli 2022 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen. Die Abschiebung in den Iran oder einen anderen Staat wurde angedroht. Die Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Soweit der Kläger - ungeachtet etwaiger Zweifel an der Glaubhaftigkeit seines diesbezüglichen Vorbringens - vortrage, allgemein wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit diskriminiert worden zu sein, sei dies bei der Beurteilung, ob ihm Flüchtlingsschutz zu gewähren sei, nicht beachtlich. Nach den vorliegenden Erkenntnissen unterliege im Iran keine Volkgruppe allein aufgrund der Volkszugehörigkeit einer daran anknüpfenden Verfolgung. Anhaltspunkte für politische Aktivitäten ergäben sich nicht. Die Berufung auf die fehlende Behandlungsmöglichkeit seiner HIV-Erkrankung erfüllten auch nicht die Voraussetzungen der Gewährung subsidiären Schutzes. Die humanitären Bedingungen führten auch nicht zur Annahme eines Abschiebungsverbotes. Die Grundversorgung sei gesichert, wozu neben staatlichen Hilfen auch das islamische Spendensystem beitrage. Es existierten wohltätige Organisationen, die eine Grundversorgung bereitstellten. Zudem sei die Versorgung der Familien und ihrer Bedürftigen im Iran im Wesentlichen durch den starken Zusammenhalt der Familienverbände nach wie vor gewährleistet. Der Kläger sei grundsätzlich auch unter Berücksichtigung seiner Erkrankung erwerbsfähig. Die HIV-Erkrankung sei nach eigenem Vortrag des Klägers im Iran grundsätzlich behandelbar. Im Iran stünden zwei verschiedene Arten von Krankenversicherungsschutz zur Verfügung. Im Iran gebe es über 60 Kliniken, die sich auf die Behandlung von HIV/Aids spezialisiert hätten. Die Behandlung in diesen Kliniken sei anonym. Auch die Versorgung mit Medikamenten sei weitgehend gewährleistet. Anhaltspunkte, dass dem Kläger der Zugang zu diesem Behandlungsangebot aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit nicht möglich sein könnte, seien weder ausreichend vorgetragen, worden noch sonst anderweitig ersichtlich. Gegenteiliges folge auch nicht aus der Corona-Pandemie.
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Am 25. Juli 2022 ließ der Kläger Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben.
4
Der Kläger ließ mit Schriftsatz von 24. Oktober 2022 unter Beifügung verschiedener Unterlagen zur Klagebegründung im Wesentlichen ausführen: Der Kläger befinde sich seit Oktober 2020 aufgrund der chronischen HIV Infektion in der ambulanten Behandlung des Universitätsklinikums W… Anhand der Unterlagen lasse sich entnehmen, dass die von ihm geltend gemachte HIV-Infektion eine besonders schwerwiegende Erkrankung darstelle, die einer engmaschigen Therapie und medizinischen Versorgung bedürfe. Der allgemeine Wissensstand über AIDS sei im Iran immer noch sehr schlecht. Die Krankheit gelte in der Gesellschaft nach wie vor als Schande. Dies dränge HIV-Infizierte zur Verheimlichung und erschwere die Erkennung und Behandlung der Krankheit. Weiterhin sei aufgrund der derzeit aktuell vorherrschenden Lage im Iran nicht klar, ob eine Therapie künftig überhaupt noch möglich sei. Die zuletzt verfügbaren Länderberichte seien überholt. Auch wenn eine theoretische Behandelbarkeit verfügbar sei, könne allein dadurch noch keine Angabe zur tatsächlichen Erreichbarkeit der medizinischen Behandlung gemacht werden. Eine dauerhafte und stetige ärztliche Versorgung werde nur für sehr Wenige erreicht. Die Erkrankung sowie das bereits zuvor Erlebte belasteten den Kläger zudem derart, dass er im Iran keine Lebensperspektive sehe und auch aktuell in einer schlechten psychischen Verfassung sei. Hierzu werde auf die beigefügte Stellungnahme der HIV/Aids-Beratung Unterfranken verwiesen. Es liege der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung vor. Der Kläger habe sich um ein ärztliches Gutachten bemüht. Da es dem Kläger aus finanziellen Mitteln sowie aufgrund des derzeitigen Mangels an Behandlungsplätzen leider nicht möglich sei, ein qualifiziertes ärztliches Attest beizubringen, werde angeregt/beantragt, über das Gericht ein solches Gutachten in Auftrag zu geben und die behandelnde Ärztin, Infektiologin, als Zeugin zu laden. Das iranische Regime reagiere mit brutaler Gewalt auf die aktuellen Proteste. Seit Beginn der Aufstände seien bereits hunderte Menschen ermordet sowie tausende Protestierende verschleppt und inhaftiert worden. Das Auswärtige Amt führe aus, das selbst Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme hätten ein- und ausreisen können, bei einem erneuten Aufenthalt willkürlich aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden könnten. Die Rechtsprechung sei mitunter eindeutig politisch motiviert. Aufgrund in Iran weit ausgelegter Begriffe wie z.B. „nationale Sicherheit“, „Spionage“, „Terrorismus“ oder sogenannte „Korruption auf Erden“ könnten z.B. bloße Äußerungen, das Teilen, Kommentieren oder Liken von Beiträgen in sozialen Medien, aber auch persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher oder Notizen, die in Deutschland vom Grundrecht der freien Meinungsäußerung gedeckt seien, sowie private Kontakte für eine Strafverfolgung ausreichten. Auch für eine aus Europa zurückkehrende Person sei eine akut erhöhte Gefahr anzunehmen, der Spionage verdächtigt zu werden.
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Der Kläger ließ mit Schriftsatz von 27. Oktober 2022 unter Beifügung verschiedener Screenshots zur Klagebegründung im Wesentlichen weiter vorbringen: Das Profil des Klägers auf dem Portal Instagram zeige, dass er sich politisch mit den Aufständen im Iran solidarisiere und auch bereits an Demos in Deutschland teilgenommen habe. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger wegen seiner Aktivitäten bei einer Rückkehr in den Iran zur Zielscheibe iranischer Sicherheitskräfte werden würde. Zumindest sei nicht auszuschließen, dass aufgrund der offenen Äußerungen in sozialen Netzwerken, iranische Sicherheitskräfte den Kläger schnell als Kritiker ausfindig machen könnten.
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Mit Schriftsatz vom 3. November 2022 ließ der Kläger noch ein ärztliches Attest seiner Infektiologin beim Universitätsklinikum W… vom 2. November 2022 zu seiner chronischen HIV-Infektion und seiner ambulanten Behandlung sowie zu den Folgen bei einer Unterbrechung bzw. einem Abbruch der Medikation vorlegen.
7
Der Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 27. Juli 2022,
8
Die Kammer übertrug den Rechtsstreit mit Beschluss vom 26. Juli 2022 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
9
Mit Beschluss vom 16. September 2022 lehnte das Gericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Prozessbevollmächtigten ab.
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In der mündlichen Verhandlung am 7. November 2022 beantragte die Klägerbevollmächtigte,
die Beklagte unter Aufhebung der Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Juli 2022 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise dem Kläger den subsidiären Schutz zuzuerkennen;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Das Gericht hörte den Kläger informatorisch an.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
14
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Juli 2022 ist in seinen Nrn. 1 und 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG). Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie zuletzt beantragt, insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
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Unter Berücksichtigung der aktuellen abschiebungsrelevanten Lage im Iran hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
16
Gemäß §§ 3 ff. AsylG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Bedrohung liegt dann vor, wenn anknüpfend an Verfolgungsgründe (vgl. dazu Art. 10 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 - so genannte Anerkennungsrichtlinie oder Qualifikationsrichtlinie bzw. § 3b AsylG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (§ 3a AsylG).
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Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25/10 - BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 - BVerwGE 136, 377) liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 - 9 C 21/92 - BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 - 9 C 118/90 - BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 - 9 C 59/91 - Buchholz 402.25, § 7 AsylVfG Nr. 1).
18
Nach Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU ist hierbei die Tatsache, dass ein Betroffener bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Betreffenden vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betreffende erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr Begünstigten eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bedroht werden. Dadurch wird derjenige, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 - BVerwGE 136, 377 - juris Rn. 23).
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Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 106.84 - BVerwGE 71, 180).
20
Nach Überzeugung des Gerichts besteht für den Kläger aufgrund seines Vorfluchtschicksals und seiner persönlichen Situation sowie seiner exilpolitischen Aktivitäten eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran, weil aus der Sicht des iranischen Staates die Aktivitäten des Klägers als regimefeindlich angesehen wurden und auch noch werden und der Kläger selbst als Regimegegner gilt und der iranische Staat bezogen auf den Kläger schon in der Vergangenheit sein Verfolgungsinteresse bekundet hat. Ins Gewicht fällt, dass der Kläger schon vor seiner Ausreise verfolgt wurde, sodass gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU die Vermutung dafürspricht, dass dem Kläger bei einer Rückkehr erneut Verfolgung droht, ohne dass stichhaltige Gründe dagegensprechen.
21
Dem Kläger ist es gelungen, die für seine Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der glaubhaften Angaben des Klägers ist das Gericht davon überzeugt, dass eine begründete Gefahr politischer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestand bzw. besteht. Das Gericht ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung, insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger, davon überzeugt, dass das Vorbringen des Klägers sowohl zu den Umständen und den Folgen seiner beiden Inhaftierungen im Iran und seinen deswegen erlittenen staatlichen Repressionen im Iran glaubhaft ist. Gerade in Bezug auf den Kläger spricht nicht nur der Inhalt seiner Angaben, einschließlich der Erwähnung nebensächlicher Details, in der mündlichen Verhandlung, sondern vor allem auch die dabei gebrauchte Wortwahl sowie die gezeigte Mimik und Gestik, auch verbunden mit einem Einblick in seine Gefühlslage und Gedankenwelt für die Glaubhaftigkeit seiner Angaben. Gerade diese Elemente bei der Aussage (Körpersprache, Gestik, Mimik usw.) sprechen gewichtig für die Ehrlichkeit des Klägers und für den wahren Inhalt seiner Angaben.
22
Nach der vorliegenden Erkenntnislage und der darauf fußenden Rechtsprechung ist beim Kläger wegen der von ihm vorgebrachten - vermeintlich bzw. tatsächlich - regimefeindlichen und religionskritischen Aktivitäten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut mit einer Verfolgung aus politischen bzw. religiösen Gründen bei einer Rückkehr in den Iran zu rechnen.
23
Denn nach der Rechtsprechung ist allgemein mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn ein Kläger mit seinen oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass er zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafter Regimegegner, welcher auf die Verhältnisse im Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihm ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht (vgl. VG Würzburg, U.v. 3.6.2022 - W 8 K 22.30034 - juris Rn. 24 ff.; U.v. 31.1.2022 - W 8 K 21.31264 - juris Rn. 66 ff.; VG Würzburg, U.v. 16.10.2017 - W 8 K 17.31567 - juris Rn. 23 und 35; U.v. 15.2.2017 - W 6 K 16.32201 - juris Rn. 31 und 42; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung).
24
Im Lagebericht 16. Februar 2022 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 23.12.2021) ist ausgeführt, dass Teile der iranischen Bevölkerung aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, politischer, künstlerischer oder intellektueller Betätigung oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung starken Repressionen ausgesetzt sind. Jede Person, die öffentlich Kritik an Missständen übt oder sich für die Menschenrechte organisiert, setzt sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus (S. 4). Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder islamische Grundsätze in Frage stellen. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niederschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv. Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit. Die Mitgliedschaft in verbotenen politischen Gruppierungen hat oftmals staatliche Zwangsmaßnahmen und Sanktionen zur Folge (S. 7). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante separatistische Gruppierungen (vor allem die kurdisch-marxistischen Komalah-Partei sowie die DPIK usw.) (S. 9). Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußerten, sind von Repressionen bedroht, nicht nur, wenn sie in den Iran zurückkehren (S. 15). Willkürliche Festnahmen, Haft und unverhältnismäßige Strafen sind in politischen Fällen üblich (S. 18). Allein der Umstand, dass eine Person in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus. Ausgenommen davon sind Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert werden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht. Bisher ist kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert worden sind. Der neue iranische Justiz-Chef hat Exil-Iraner und Iranerinnen explizit ermutigt, nach Iran zurückzukehren, und ihnen eine Rückkehr ohne Inhaftierung in Aussicht gestellt, sofern dies mit der iranischen Justiz koordiniert wird (S. 21).
25
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 23.5.2022 m.w.N.) führt aus, dass die Mitgliedschaft in verbotenen politischen Gruppierungen zu staatlichen Zwangsmaßnahmen und Sanktionen führen kann. Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder die die islamischen Grundsätze in Frage stellt. Dies ist besonders ausgeprägt bei Gruppierungen, die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten. Als rechtliche Grundlage dienen dazu weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden. Gegen Personen, die ihre Meinungen oder Nachrichten online publizieren (Blogger), wird massiv vorgegangen. Der elektronische Medien- oder Internet-Verkehr steht unter staatlicher Kontrolle. Millionen Internetseiten und viele Plattformen sind gesperrt. Regimefeindliche oder islamfeindliche Äußerungen werden auch geahndet, wenn sie in den elektronischen Kommunikationsmedien, etwa auch in sozialen Netzwerken getätigt werden. Jede Person, die sich regimekritisch im Internet äußert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen „Cyber-Krieg“ gegen das Land führen zu wollen (S. 35).
26
Nach ACCORD ist es des Weiteren den iranischen Behörden gelungen, die meisten oppositionellen Organisationen zu unterwandern. Den iranischen Behörden ist bewusst, dass iranische Auslandsstudenten und -studentinnen - in der Hoffnung, ein Asyl- oder Bleiberecht zu erhalten - sich Oppositionsgruppen anschließen oder zum Christentum konvertieren würden. Die Überwachung von Exil-Iranern ist bereits zur Zeit des Schahs Praxis gewesen. Sehr häufig kommt es vor, dass sich Exil-Iraner und Iranerinnen gegenseitig verraten und Personen auf diese Art in den Fokus iranischer Überwachsungstätigkeiten geraten würden (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Iran: Überwachung von Aktivitäten im Ausland, Exilpolitische Aktivitäten, Konversion vom 5.7.2019).
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Erschwerend und gefahrerhöhend kommt die aktuelle politische Lage im Iran hinzu, die von langandauernden, landesweiten gewaltsamen Protesten und Unruhen sowie drastischen Repressionsmaßnahmen des iranischen Staates geprägt ist. Ein Ende ist nicht abzusehen; vielmehr ist mit einer weiteren Verschärfung zu rechnen.
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Laut Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen belaufen sich die Anzahl der Todesopfer, bei denen seit Ende September 2022 andauernden Protesten, auf mehr als 300 Personen in 22 Provinzen, darunter ca. 40 Minderjährige. Tausende Demonstrierende sind nach diesen Erkenntnissen bisher verhaftet worden. Mehr als 2.000 Personen sind laut Medienberichten angeklagt. Die Parlamentsabgeordneten haben an die Justiz appelliert, schwere Strafen für Inhaftierte zu verhängen. Es kommt wiederholt zum Schusswaffeneinsatz mit tödlichen Folgen. Darüber hinaus sind die sozialen Medien sowie die Internet-Bedingungen landesweit eingeschränkt (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 7.11.2022 und 31.10.2022).
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Aktuellen Medienberichten in Deutschland ist zu entnehmen, dass seit Beginn der landesweiten Proteste, schon allein nach offiziellen Angaben, mehr als tausend Personen angeklagt worden sind. Fast 15.000 Menschen sind festgenommen worden, denen schwere Strafen drohen, um einen abschreckenden Effekt zu erzielen. Bei den seit Mitte September anhaltenden Protesten sind mindestens 318 Menschen getötet worden, darunter 49 Minderjährige und 38 Einsatzkräfte. Mit scharfer Munition wird direkt in Menschenmengen geschossen, teilweise auch mit kleinen Metallgeschossen, die wie Schrot zersplittern. Ärzte, die Verletzte behandeln wollen, werden daran gehindert und sind selbst von Repressalien bedroht. Selbst wer nicht direkt an den Demonstrationen teilnimmt, sondern sich selbst nur solidarisch erklärt oder die Gewalt des Staates verurteilt, gerät ins Visier des Regimes. Mehr als 14.000 Personen sind festgenommene worden; nicht alle davon sind selbst auf der Straße gewesen. Verhaftete werden im Staatsfernsehen öffentlich vorgeführt und vorverurteilt. Verschiedene Vorwürfe, wie etwa Krieg gegen Gott oder Korruption auf Erden, werden erhoben, auf denen in der islamischen Republik Iran die Todesstrafe steht. Die iranische Justiz wirft den Demonstranten subversive Aktivitäten vor, wie Angriffe auf die Sicherheitskräfte oder öffentliche Gebäude (vgl. Zeit-Online, Bereits mindestens tausend iranische Demonstranten angeklagt, vom 8.11.2022, tagesschau.de., Droht Protestteilnehmern die Todesstrafe? vom 7.11.2022; NZZ, Irans Regime droht seinen Gegnern mit der Todesstrafe vom 3.11.2022; FAZ, 1.000 Demonstranten im Teheran angeklagt vom 1.11.2022).
30
Nach dem Auswärtigen Amt droht selbst deutschen Staatsangehörigen bzw. Doppelstaatlern die konkrete Gefahr, willkürlich festgenommen, verhört und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. In jüngster Zeit kam es zu einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen auch ausländischer Staatsangehöriger. Seit dem 18. September 2022 kommt es nach dem Tod einer jungen Iranerin nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei in der Hauptstadt Teheran sowie in vielen weiteren Landesteilen zu Protesten und Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Polizei und Sicherheitskräfte gehen gewaltsam gegen Demonstrierende vor, es gibt Tote und Verletzte. Im räumlichen Umfeld von Demonstrationen kommt es zu willkürlichen Verhaftungen auch unbeteiligter ausländischer Staatsangehöriger. Es sind weitgehende Einschränkungen der Kommunikationsdienste zu beobachten (insbesondere mobiles Internet, Instagram, WhatsApp, VBNs) und weiter zu erwarten. Selbst Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt willkürlich aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden. Strafrechtliche Vorschriften sind häufig so vage formuliert, dass eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen erfasst werden kann, ohne dass dies dem Betroffenen vorher deutlich sein muss. Die Rechtsprechung ist mitunter eindeutig politisch motiviert. Aufgrund im Iran weit ausgelegter Begriffe, wie zum Beispiel „nationale Sicherheit“, „Spionage“, „Terrorismus“ oder so genannter „Korruption auf Erden“ können zum Beispiel bloße Äußerungen, das Teilen, Kommentieren oder Liken von Beiträgen in sozialen Medien, aber auch persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher oder Notizen für eine Strafverfolgung ausreichen. Es kommt oft ohne nachvollziehbare Gründe zu Verhören und/oder Verhaftungen. Auch Familienangehörige von Inhaftierten werden regelmäßig unter Druck gesetzt. Auch in Deutschland getätigte Meinungsäußerungen und Handlungen können im Iran als regierungskritisch wahrgenommen werden und deshalb zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. Gleiches gilt für regierungskritische Äußerungen im Internet bzw. das bloße Teilen oder Liken eines fremden Beitrags. Vor Reisen nach Iran wird gewarnt. Personen, die sich beabsichtigt oder zufällig am Umfeld von Demonstrationen aufhalten, droht die Festnahme und Verurteilung (Auswärtiges Amt Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, Reisewarnung, Stand: 7.11.2022, unverändert gültig seit 3.11.2022).
31
Nach dieser Erkenntnislage wirken dir aktuellen landesweiten Unruhen und Proteste im Iran sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat bei einer Rückkehr gefahrerhöhend jedenfalls, wenn die asylsuchende Person schon zuvor wegen ihres Vorfluchtverhaltens und/oder wegen ihres Verhaltens im Ausland im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden stand und steht.
32
Ausgehend von der gegebenen Bedrohungs- und Gefährdungslage muss der Kläger nach den Umständen seines Einzelfalles, die er glaubhaft dargelegt hat, bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politisch motivierter Verfolgung rechnen.
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Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft die Geschehnisse geschildert, die zu seiner Verhaftung und Inhaftierung sowie die erlittene Folter geführt haben. Der Kläger hat glaubhaft die Geschehnisse im Jahr 2018 und 2019 dargelegt. Der Kläger schilderte im Einzelnen und detailliert nicht nur die erlittenen staatlichen Repressionen, insbesondere auch die Folter, sondern er verwies dabei zusätzlich auf verschiedene Gesichtspunkte, die ihm der iranische Staat vorgeworfen habe und vorwerfe, insbesondere, dass er den Beruf ausgewählt habe, um oppositionelle Parteien, wie die Demokratische Kurdische Partei Irans, zu unterstützen, dass er die Regierung und politische Personen beleidigt und beschimpft habe und auch die schiitische Religion.
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Der Kläger schilderte schon ausführlich und eindrucksvoll, auch mit Details, wie er aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit bei einer Person, die beim Sicherheitsdienst, und zwar beim Informationsministerium (Ettelaat), ohne dass er dies zu diesem Zeitpunkt gewusst habe, den Gaszähler kontrolliert und Missbräuche festgestellt habe. Daraufhin habe der Betreffende zur Strafe einen Geldbetrag zahlen müssen. Die betreffende Person habe sich sin der Folgezeit an ihm gerächt.
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Der Kläger beschrieb weiter bildhaft und detailliert, wie er sieben Monate später in ein Haus gelotst worden sei, um einen Gaszähler zu überprüfen. Dort seien ihm drei Personen begegnet, die sich als Bedienstete der Staatssicherheit ausgewiesen hätten. Sie seien bewaffnet gewesen und hätten ihm eine Pistole an den Kopf gehalten. Er habe einen Stoff über den Kopf gezogen bekommen und in ein Auto gekommen. Er sei in eine staatliche Einrichtung gebracht worden. Auch insofern schilderte der Kläger Details, wie etwa, dass er an den Geräuschen der Türen gehört habe, dass es eine staatliche Einrichtung sei, und dies auch aus dem Umstand geschlossen habe, dass die Personen respektvoll miteinander umgegangen seien.
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Der Kläger beschrieb weiter anschaulich die Verhörsituation und die Räumlichkeiten. Er sei in ein Zimmer gebracht und auf einen Stuhl gesetzt worden. Man habe ihm die Bedeckung vom Kopf abgenommen. Ihm gegenüber habe die Person gesessen, die er vor sieben Monaten wegen der Manipulation des Gaszählers angezeigt habe. Dieser Mann habe gesagt, er wolle sich an ihm rächen. Eine Kamera sei aufgestellt worden. Man habe ihm bedeutet, dass er die Pflicht habe, alles mitzumachen. Er habe sagen sollen, dass er die Regierung beleidigt und beschimpft habe sowie dass er den Beruf ausgewählt habe, um oppositionelle Parteien zu unterstützen. Er habe dies, wie aufgegeben, gemacht. Das Ganze sei mit der Kamera gefilmt worden. Der Kläger betonte, dass er nicht einer bestimmten oppositionellen Partei angehöre. Aber man habe ihm während der Folter eingeredet, er solle dies sagen, damit diese ein Druckmittel gegen ihn hätten. Er habe einen Text nachsprechen sollen und diesen habe er auch nachgesprochen. Dies sei gefilmt worden, obwohl es nicht stimme, dass er für die verbotene demokratische kurdische Partei arbeite. Außerdem sei er gleichermaßen angehalten worden, sich entsprechend negativ über irgendwelche Politiker, wie etwa Chamenei, und über die schiitische Religion zu äußern.
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Weiterhin schilderte der Kläger detailliert die erlittenen Folterungen und gab dazu auch eindrucksvoll Einblick in seine psychische Situation und seine Gefühlslage. Dabei ist für das Gericht augenscheinlich, dass sich die erlittenen Folterungen bis heute auf den Kläger auswirken. Der Kläger erklärte, er sei in einen anderen Raum gekommen, den er Folterkammer nannte. In dem anderen Raum seien offenkundig schon zuvor Menschen gefoltert worden. Es seien Foltergeräte zu sehen gewesen, wie Zangen oder Bügeleisen, die für Menschen geeignet seien. Plastisch beschrieb der Kläger weiter, dass an den Wänden verschiedene Farben bzw. Töne von Blut zu sehen gewesen seien, also frisches Blut und altes Blut. Der Kläger veranschaulichte weiter die Verhörsituation im Folterraum. Im Folterraum habe der Mann, der ihn angezeigt habe, ihm gegenübergestanden. Weiter seien zwei weitere Personen anwesend gewesen. Hinzu seien noch zwei weitere Personen erschienen, die aber aufgrund ihrer Kopfbedeckung so vermummt gewesen seien, dass nur noch die Augen zu sehen gewesen seien.
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Der Kläger betonte wiederholt, dass er zwei Spritzen erhalten habe, eine mit roter Flüssigkeit und eine mit gelber Flüssigkeit. Eine habe er in den linken, eine in den rechten Arm gespritzt bekommen. Er sei daraufhin depressiv, kaputt und matt geworden. Die eine Spritze mit der roten Flüssigkeit habe ausgesehen wie Blut. Er könne aber nicht sagen, ob er mit einer dieser Spritzen, absichtlich mit dem HIV-Virus infiziert worden sei oder aufgrund der bei der Folter erlittenen sexuellen Übergriffe. Die neu hinzu gekommenen vermummten Personen hätten versucht, ihn gewaltsam zu entkleiden. Sie hätten ihm seine Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Er habe sich dagegen wehren wollen. Daraufhin habe eine dieser Personen ihn von hinten an den Haaren gefasst und habe sein Gesicht mit aller Gewalt einmal auf den Tisch geschlagen. Man könne die Narben immer noch sehen, obwohl es schon vier Jahre her sei. Die Ober- und Unterlippe sei aufgeplatzt und verletzt gewesen. Er habe den Eindruck gehabt, dass die Zähne verletzt gewesen seien, aber sie seien nicht ausgefallen. Die Personen hätten weiter versucht, ihn sexuell zu belästigen (sexualisierte Gewalt auszuüben), und dies auch getan. Er habe das Bild noch heute vor Augen. Er sei fünf Tage in diesem Raum geblieben. Dies sei nicht nur die Folterkammer, sondern auch das Gefängnis für ihn gewesen. Er habe in diesem Raum übernachtet. Die Befragung habe so zwei Stunden gedauert gehabt. Sie hätten ihn weiter gespritzt. Irgendwann mal sei er bewusstlos zusammengebrochen. Was sie genau gemacht hätten, könne er nicht sagen. Er sei im Krankenhaus wieder aufgewacht und da habe er festgestellt, dass es fünf Tage später gewesen sei, als der Tag, an dem er mitgenommen worden sei. Daher vermute er, dass er weiter gespritzt worden sei. Er sei erst im Krankenhaus wieder richtig zu sich gekommen.
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Der Kläger rang während der mündlichen Verhandlung wiederholt nach Worten und hatte Tränen in den Augen. Insbesondere war er offenkundig emotional sehr mitgenommen, als er schilderte, dass die andere Person, die ihn angezeigt habe, zu ihm mit Bezug auf eine ihm vorgehaltene Flasche gesagt habe: entweder verschwinde er in der Flasche oder die Flasche verschwinde in ihm. Nachher habe er erfahren, dass die Flasche, die ihm während der Folter in den After geschoben worden sei, im Krankenhaus chirurgisch aus ihm entfernt worden sei. Er habe noch drei Monate später beim Hinsetzen Probleme gehabt.
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An die Auffindesituation nach der Folterung auf der Straße könne er sich nicht erinnern. Er habe dies über Krankenhausangestellte im Nachhinein erfahren. Demnach sei die Ambulanz gerufen worden, weil er nackt neben der Straße gelegen habe. Es habe dabei der Eindruck entstehen sollen, dass seine Verletzungen nicht vom Staat herrührten, sondern etwa daher, dass es so habe aussehen sollen, dass er „sexuelle Untaten“ begangen habe und ihm ein betrogener Ehemann so hergerichtet habe. Im Krankenhaus sei festgestellt worden, dass sein Körper blutig gewesen sei. Durch die Schmerzen habe er auch vermutet, dass die anderen Personen ihm sexuell misshandelt hätten.
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Nachdem er die Spritzen bekommen gehabt habe, hätten sie angefangen sexuell in seinen Körper einzudringen. Danach sei er bewusstlos geworden. Er könne aber nicht sagen, ob er durch den Kontakt bei den sexuellen Übergriffen oder durch die Spritze mit HIV infiziert worden sei. Die HIV-Infektion sei bei der Arbeit anlässlich der üblichen Blutuntersuchung festgestellt worden. Die während der Folter zwangsweise erlittenen Sexualkontakte seien von der Art gewesen, dass er auch davon die HIV-Infektion habe bekommen können.
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Auf Widersprüchlichkeiten seiner Aussage angesprochen, etwa zum Zeitpunkt der Drohung mit der Flasche und auch der erlittenen Folter, wie er die Flasche in den After gesteckt bekommen habe, erklärt der Kläger, er habe erst später mitbekommen, dass das mit der Flasche überhaupt gemacht worden sei. Wenn sie es ihm im Krankenhaus nicht gesagt hätten, dass es überhaupt passiert sei, hätte er es nicht gewusst.
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Insofern ist dem Kläger zugute zu halten, dass bei dramatischen und traumatisierenden Ereignissen, wie den von ihm geschilderten, die Erinnerung bewusst oder unbewusst auch Verdrängungseffekten unterliegen und insofern getrübt sein kann. Hinzu kommt, dass die mit den Spritzen verabreichten Mittel das Bewusstsein des Klägers beeinträchtigt haben und ebenfalls das Erinnerungsvermögen beeinflusst haben können. Der Kläger hat eindrucksvoll geschildert, durch die Spritzen depressiv, kaputt und matt geworden sei.
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Jedenfalls hat das Gericht keine Zweifel an den geschilderten erlittenen Folterungen und dem abgepressten Geständnis des Klägers zumal der Spruch mit der Flasche eine bekannte Foltermethode, sowohl psychischer als auch körperlicher Art, verbunden mit sexualisierter Demütigung, ist.
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Für die Glaubhaftigkeit des klägerischen Vorbringens sprechen die weiteren Darlegungen seines Gefühlslebens. Der Kläger erklärte, er könne sich an den ganzen Folterungen erinnern. Es gehe nicht weg. Er könne sich an Geräusche und Farben usw. erinnern. Es gehe nicht aus seinem Kopf weg. Er habe Angstzustände und Albträume. Er könne nicht im Dunkeln schlafen. Das Licht müsse immer an bleiben.
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Ein weiteres Indiz für die Tatsachenbasiertheit der geschilderten Ereignisse und dem Vorliegen eines wirklich Erlebten sind die attestierten gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowohl aufgrund der HIV-Infektion des Klägers als auch aufgrund seiner psychischen Erkrankung. Der Kläger erklärte, er versuche den Foltererinnerungen zu entgehen. Er suche Hilfe bei seiner Umwelt. Er spreche mit einem Mann bei der AIDS-Beratung in Würzburg; dieser wolle einen Psychiater für ihn finden. Der Kläger beschrieb weiter, wie aufgrund seiner HIV-Infektion auch die Kontakte zu den Mitmenschen litten. Er nehme Medikamente gegen AIDS, aber auch Medikamente zum Beruhigen und Einschlafen.
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Gefahrerhöhend für den Kläger sind seine exilpolitischen Aktivitäten, die auch im Zusammenhang mit den aktuellen Vorkommnissen im Iran mit den dortigen Protesten und Unruhen und dem scharfen Vorgehen der Sicherheitskräfte stehen. Nicht zuletzt die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes verdeutlicht, dass nicht bloß exponierten Oppositionellen bei einer Rückkehr Verfolgung droht, sondern dass gerade aus dem Ausland kommende Iraner damit rechnen müssen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt werden. Dies gilt erst recht für Personen, die schon vor der Ausreise im Fokus des iranischen Staates standen bzw. die sich während ihres Auslandsaufenthaltes regimekritisch öffentlich geäußert haben, wie der Kläger bei den von ihm genannten Demonstrationen sowie in den sozialen Medien. Hinzu kommt der Umstand, dass der Kläger Kurde sunnitischen Glaubens ist, auch wenn er einräumte nicht Mitglied der oppositionellen kurdischen Partei zu sein.
48
Nach alledem bestehen nach Überzeugung des Gerichts keine Zweifel, dass der Kläger aus politischen Gründen bereits im Iran in den Fokus der iranischen Behörden geraten ist und ernsthafte Repressalien erlitten hat, weil er aus Sicht der iranischen Behörden als Regimegegner eingestuft wurde und wird.
49
Insoweit ist anzumerken, dass - wie auch den oben zitierten Auskünften und Erkenntnissen zur Verfolgung von tatsächlichen oder vermeintlichen Regimegegnern zu entnehmen ist - nicht darauf abzustellen, dass der Betreffende tatsächlich bei einer oppositionellen Institution beteiligt war oder sich selbst als Regimegegner einstuft, sondern vielmehr darauf, was die iranischen Sicherheitskräfte annehmen und ob bei diesen aus ihrer Sicht ein mögliches Verfolgungsinteresse wegen des Hineinwirkens des Betreffenden in den Iran besteht. Letzteres ist beim Kläger aufgrund seiner glaubhaften Angaben zu bejahen. Der Vorwurf der iranischen Sicherheitskräfte bezog sich darauf, dass sich der Kläger bei einem aus iranischer Sicht oppositionell betätigt und regimefeindlich geäußert hat. Der Kläger muss damit rechnen, dass ihm bei seiner Rückkehr die Filmaufnahme seines vollen Geständnisses, wonach er sich auch iran- und religionskritisch geäußert hat, zu seinen Lasten entgegengehalten werden. Zudem belegt seine zweite Inhaftierung wegen des Vorwurfs, einen anständigen Staatsdiener in Verruf zu bringen, dass der Kläger seitens des iranischen Staates nicht als Opfer, sondern als Täter angesehen wird, den es zu bestrafen gilt, wie ihm bei Weiderholung auch angedroht wurde.
50
Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder religiöse Grundsätze in Frage stellen (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 23.12.2021, vom 16. Februar 2022, S. 7). Solche Aktivitäten wurden und werden dem Kläger gerade vorgeworfen. Insbesondere auch aufgrund der aktuellen Lage im Iran, die plastisch auch in der zitierten aktuellen Reisewarnung des Auswärtigen Amtes deutlich wird, droht dem Kläger sowohl aufgrund der Vorkommnisse im Iran als auch aufgrund seines aktuellen Aufenthalts in Deutschland der Vorwurf, ein Regimegegner zu sein und unter westlichem Einfluss zu stehen, zumal er sich mit den aktuellen Protesten im Iran solidarisiert und diesbezüglich sowohl bei Demonstrationen als auch im Internet exilpolitisch engagiert hat. Letztere Umstände wirken gefahrerhöhend und begründen zusätzlich die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus politischen Gründen bei einer erneuten Rückkehr in den Iran.
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Schon allein das Vorfluchtschicksal ist unter Berücksichtigung der aktuellen politischen Situation im Iran ausreichend für die Annahme einer mit beachtlichen Wahrscheinlichkeit drohenden politischen Verfolgung. Hinzu kommen die exilpolitischen regimefeindlichen Aktivitäten des Klägers.
52
Bei einer eventuellen Rückkehr in den Iran müsste der Kläger unter Gesamtwürdigung aller Umstände erneut mit Verfolgungsmaßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechnen. Das Gericht hat keinen Zweifel, dass es schon in der Vergangenheit im Iran zu Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger gekommen ist und dass seitens des iranischen Staates weiterhin ein Verfolgungsinteresse gegen den Kläger besteht. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran seitens staatlicher Stellen weiter eine regimefeindliche politische Gesinnung unterstellt bzw. vorgeworfen würde, verbunden mit der Befürchtung, der Kläger werde sich weiter regimekritisch verhalten sowie als Sunnite negativ über die schiitische Religion äußern, und dass sich entsprechende staatliche Verfolgungsmaßnahmen hieran anknüpfen würden.
53
Nach alledem ist dem Kläger unter Aufhebung der ihn betreffenden Antragsablehnung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Infolgedessen besteht kein Anlass für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Nrn. 3 und 4 des Bescheides des Bundesamtes ebenfalls aufzuheben waren (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG „oder“ und § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Über die hilfsweise gestellten Anträge, insbesondere zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG), war nicht zu entscheiden.
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Des Weiteren sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und die Ausreiseaufforderung samt Ausreisefristbestimmung (Nr. 5 des Bundesamtsbescheids) rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren - wenn auch noch nicht rechtskräftig - festgestellt.
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Schließlich war auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheids) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für diese Entscheidung entfallen sind (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.