Titel:
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Einzelfall – Iran)
Normenketten:
VwVfG § 51
AsylG § 3, § 71 Abs. 1
Anerkennungs-RL Art. 4 Abs. 4
Leitsatz:
Die aktuellen landesweiten Unruhen und Proteste im Iran sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat wirken bei einer Rückkehr gefahrerhöhend jedenfalls, wenn die asylsuchende Person schon zuvor wegen ihres Vorfluchtverhaltens und/oder wegen ihres Verhaltens im Ausland im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden stand und steht. (Rn. 34)
Schlagworte:
Iran, zulässiger Folgeantrag, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Rückkehr in den Iran, Inhaftierung nach Teilnahme an Protesten, Folterung im Iran, Vermutung erneuter Verfolgung mangels stichhaltiger gegenteiliger Gründe, insgesamt glaubhaftes Vorbringen im Einzelfall, frühere Taufe in Deutschland, beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr, weiteres Verfolgungsinteresse des iranischen Staates, Reisewarnung des Auswärtigen, Amtes, Gefahrerhöhung durch aktuelle landesweite Proteste und Repressionen im Iran, Folgeantrag, Flüchtlingseigenschaft, RL 2011/95/EU
Fundstelle:
BeckRS 2022, 35199
Tenor
I. Die Nummern 1 und 3 bis 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Juni 2021 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger, iranischer Staatsangehöriger, hatte bereits im Jahr 2016 einen Asylantrag gestellt, der nach Antragsrücknahme eingestellt worden war. Am 26. Juni 2020 stellte der Kläger einen Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Folgeantrag). Zur Begründung gab er im Wesentlichen an: Er sei in den Iran zurückgekehrt, zwischenzeitlich erneut in die EU eingereist und am 31. Oktober 2019 in sein Herkunftsland zurückgereist. Er habe im November 2019 in seiner Heimat an vier aufeinanderfolgenden Tagen an Demonstrationen wegen der Benzinpreiserhöhung teilgenommen. Er habe nur protestiert. Man habe ihn verhaftet, verhört und misshandelt. Er habe vor der Freilassung etwas unterschreiben müssen. Wegen seiner Taufe während seines ersten Aufenthalts in Deutschland habe es bei der Rückkehr keine Schwierigkeiten gegeben.
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Mit Bescheid vom 29. Juni 2021 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen. Die Abschiebung in den Iran oder in einen anderen Staat wurde angedroht. Die Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Nr. 5). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens seien aufgrund der geänderten Sachlage gegeben. Die Teilnahme an Demonstrationen sei nicht verfolgungsrelevant, weil nicht gefährdungsauslösend. Der Kläger sei nach kurzer Zeit wieder freigelassen worden. Die angedrohte Beobachtung passe ins Bild der Einschüchterungsversuche. Der Kläger habe sich nach der Freilassung noch über einen Monat im Land aufgehalten, teilweise unter seiner Anschrift, teilweise bei seinem Großvater. Aus den vorliegenden Erkenntnissen sowie aus der Gesamtschilderung gebe es keine Hinweise, dass sich bei einer Rückkehr konkrete Verfolgungsmaßnahmen in absehbarer Zeit mit der zur Annahme einer Verfolgungsgefahr erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit abzeichneten. Auch eine Schutzgewährung aufgrund der Konversion des Klägers komme nicht in Betracht. Der Kläger habe keine identitäts- und persönlichkeitsprägende Glaubensüberzeugung dargelegt, die bei einer Rückkehr in den Iran eine schutzrelevante Verfolgung oder einen schwerwiegenden Eingriff in die Religionsfreiheit nach sich ziehen würden. Der Kläger habe selbst angegeben, diesbezüglich keine Gefährdung zu befürchten.
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Am 9. Juli 2021 ließ der Kläger Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und beantragen,
I. Der Bescheid der Beklagten vom 29. Juni 2021, Geschäftszeichen …, wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen,
hilfsweise dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG,
hilfsweise den subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen,
hilfsweise festzustellen, dass die nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
4
Mit Schriftsatz vom 20. September 2021 ließ der Kläger zur Klagebegründung neben den Verweis auf sein bisheriges Vorbringen im Wesentlichen ausführen: Der Kläger sei bei seiner Rückkehr in den Iran am 27. Oktober 2015 bei der Ankunft am Flughafen befragt worden, weshalb er ausgereist und wieder zurückgekommen sei. Er sei zwar wieder entlassen worden. Dies zeige aber dass der iranische Staat ihn im Blick gehabt und eine Akte über ihn angelegt habe. Aufgrund von Massenprotesten und Demonstrationen gegen den Staat im Jahre 2019 habe er sein Heimatland erneut verlassen müssen.
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Mit Schriftsatz vom 10. Januar 2022 ließ der Kläger unter anderem weiter vorbringen: Der Kläger habe sich von einem Urologen untersuchen lassen, um eventuell noch vorhandene frühere Verletzungen feststellen zu können. Hierbei sei mitgeteilt worden, dass dahingehend nichts mehr festzustellen sei.
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Mit Schriftsätzen vom 31. Mai 2022 und 15. Juli 2022 ließ der Kläger weiter mitteilen, dass es ihm nicht gelungen sei, weitere Unterlagen aus dem Iran zu erhalten, und auch nicht möglich gewesen sei, weitere Beweismittel beizubringen.
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Die Kammer übertrug den Rechtsstreit mit Beschluss vom 12. Juli 2021 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
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Mit Beschluss vom 23. August 2021 lehnte das Gericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten ab.
9
In der mündlichen Verhandlung am 4. Oktober 2021 wiederholte der Klägerbevollmächtigte den bereits schriftlich gestellten Antrag aus dem Klageschriftsatz vom 9. Juli 2021.
10
Der Beklagtenvertreter beantragte,
11
Das Gericht hörte den Kläger informatorisch an.
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Mit Beschluss vom 19. Oktober 2021 trennte das Gericht infolge der entsprechenden Klagerücknahme des Klägers (siehe Schriftsatz vom 15.10.2021) das Klagebegehren, die Beklagte unter Aufhebung der Nr. 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Juni 2021 zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigen anzuerkennen, ab und führte diesen Klageteil unter den Aktenzeichen W 8 K 21.31051 fort. Das Gericht stellte den abgetrennten Klageteil auf Kosten des Klägers ein.
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In der weiteren mündlichen Verhandlung am 7. November 2022 hörte das Gericht den Kläger ergänzend informatorisch an.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Verfahrens W 8 K 21.31051) und die beigezogenen Behördenakten (einschließlich der Akten des Erstverfahrens) sowie die Ausländerakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Juni 2021 ist in seinen Nrn. 1 und 3 bis 5 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG). Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie zuletzt beantragt, insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
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Im Ergebnis war ein weiteres Asylverfahren durchzuführen (vgl. § 71 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 51 VwVfG). Die Beklagte hat dies - in der Sache und im Ergebnis - zutreffend bejaht. Auf die betreffenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid vom 29. Juni 2021, Seite 3/4, wird insoweit Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
18
Unter Berücksichtigung der aktuellen abschiebungsrelevanten Lage im Iran hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
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Gemäß §§ 3 ff. AsylG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Bedrohung liegt dann vor, wenn anknüpfend an Verfolgungsgründe (vgl. dazu Art. 10 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 - so genannte Anerkennungsrichtlinie oder Qualifikationsrichtlinie bzw. § 3b AsylG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (§ 3a AsylG).
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Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25/10 - BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 - BVerwGE 136, 377) liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 - 9 C 21/92 - BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 - 9 C 118/90 - BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 - 9 C 59/91 - Buchholz 402.25, § 7 AsylVfG Nr. 1).
21
Nach Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU ist hierbei die Tatsache, dass ein Betroffener bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Betreffenden vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betreffende erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr Begünstigten eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bedroht werden. Dadurch wird derjenige, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 - BVerwGE 136, 377 - juris Rn. 23).
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Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 106.84 - BVerwGE 71, 180).
23
Nach Überzeugung des Gerichts besteht für den Kläger aufgrund seiner Aktivitäten und seiner persönlichen Situation, insbesondere angesichts der erlittenen politisch motivierten Vorverfolgung, sowie unter Berücksichtigung der aktuellen allgemeinen Lage im Iran eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran, weil die (früheren) Aktivitäten des Klägers als regimefeindlich aus der Sicht des iranischen Staates angesehen wurden und der Kläger bis heute als Regimegegner angesehen wird und der iranische Staat, bezogen auf den Kläger, schon in der Vergangenheit sein Verfolgungsinteresse bekundet hat. Ins Gewicht fällt, dass der Kläger schon vor seiner Ausreise verfolgt wurde, sodass gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU die Vermutung dafürspricht, dass dem Kläger bei einer Rückkehr erneut Verfolgung droht, ohne dass stichhaltige Gründe dagegensprechen.
24
Dem Kläger ist es gelungen, die für seine Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der glaubhaften Angaben des Klägers ist das Gericht davon überzeugt, dass eine begründete Gefahr politischer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestand bzw. besteht. Das Gericht ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung, insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger, davon überzeugt, dass das Vorbringen des Klägers zu seiner Vorverfolgung und der dabei erlittenen staatlichen Repressionen im Iran glaubhaft ist. Gerade in Bezug auf den Kläger spricht nicht nur der Inhalt seiner Angaben, einschließlich der Erwähnung nebensächlicher Details, in der mündlichen Verhandlung, sondern vor allem auch die dabei gebrauchte Wortwahl sowie die gezeigte Mimik und Gestik, auch verbunden mit einem Einblick in seine Gefühlslage und Gedankenwelt für die Glaubhaftigkeit seiner Angaben. Gerade diese Elemente bei der Aussage (Körpersprache, Gestik, Mimik usw.) sprechen gewichtig für die Ehrlichkeit des Klägers und für den wahren Inhalt seiner Angaben.
25
Nach der vorliegenden Erkenntnislage und der darauf fußenden Rechtsprechung ist beim Kläger wegen der von ihm vorgebrachten - vermeintlich bzw. tatsächlich - regimefeindlichen und islamkritischen Aktivitäten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut mit einer Verfolgung aus politischen bzw. religiösen Gründen bei einer Rückkehr in den Iran zu rechnen.
26
Denn nach der Rechtsprechung ist allgemein mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn ein Kläger mit seinen oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass er zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafter Regimegegner, welcher auf die Verhältnisse im Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihm ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht (vgl. VG Würzburg, U.v. 3.6.2022 - W 8 K 22.30034 - juris Rn. 24 ff.; U.v. 31.1.2022 - W 8 K 21.31264 - juris Rn. 66 ff.; VG Würzburg, U.v. 16.10.2017 - W 8 K 17.31567 - juris Rn. 23 und 35; U.v. 15.2.2017 - W 6 K 16.32201 - juris Rn. 31 und 42; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung).
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Im Lagebericht 16. Februar 2022 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 23.12.2021) ist ausgeführt, dass Teile der iranischen Bevölkerung aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, politischer, künstlerischer oder intellektueller Betätigung oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung starken Repressionen ausgesetzt sind. Jede Person, die öffentlich Kritik an Missständen übt oder sich für die Menschenrechte organisiert, setzt sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus (S. 4). Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder islamische Grundsätze in Frage stellen. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niederschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv. Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit. Die Mitgliedschaft in verbotenen politischen Gruppierungen hat oftmals staatliche Zwangsmaßnahmen und Sanktionen zur Folge (S. 7). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante separatistische Gruppierungen (vor allem die kurdisch-marxistischen Komalah-Partei sowie die DPIK usw.) (S. 9). Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußerten, sind von Repressionen bedroht, nicht nur, wenn sie in den Iran zurückkehren (S. 15). Willkürliche Festnahmen, Haft und unverhältnismäßige Strafen sind in politischen Fällen üblich (S. 18). Allein der Umstand, dass eine Person in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus. Ausgenommen davon sind Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert werden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht. Bisher ist kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert worden sind. Der neue iranische Justiz-Chef hat Exil-Iraner und Iranerinnen explizit ermutigt, nach Iran zurückzukehren, und ihnen eine Rückkehr ohne Inhaftierung in Aussicht gestellt, sofern dies mit der iranischen Justiz koordiniert wird (S. 21).
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Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 23.5.2022 m.w.N.) führt aus, dass die Mitgliedschaft in verbotenen politischen Gruppierungen zu staatlichen Zwangsmaßnahmen und Sanktionen führen kann. Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder die die islamischen Grundsätze in Frage stellt. Dies ist besonders ausgeprägt bei Gruppierungen, die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten. Als rechtliche Grundlage dienen dazu weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden. Gegen Personen, die ihre Meinungen oder Nachrichten online publizieren (Blogger), wird massiv vorgegangen. Der elektronische Medien- oder Internet-Verkehr steht unter staatlicher Kontrolle. Millionen Internetseiten und viele Plattformen sind gesperrt. Regimefeindliche oder islamfeindliche Äußerungen werden auch geahndet, wenn sie in den elektronischen Kommunikationsmedien, etwa auch in sozialen Netzwerken getätigt werden. Jede Person, die sich regimekritisch im Internet äußert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen „Cyber-Krieg“ gegen das Land führen zu wollen (S. 35).
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Nach ACCORD ist es des Weiteren den iranischen Behörden gelungen, die meisten oppositionellen Organisationen zu unterwandern. Den iranischen Behörden ist bewusst, dass iranische Auslandsstudenten und -studentinnen - in der Hoffnung, ein Asyl- oder Bleiberecht zu erhalten - sich Oppositionsgruppen anschließen oder zum Christentum konvertieren würden. Die Überwachung von Exil-Iranern ist bereits zur Zeit des Schahs Praxis gewesen. Sehr häufig kommt es vor, dass sich Exil-Iraner und Iranerinnen gegenseitig verraten und Personen auf diese Art in den Fokus iranischer Überwachsungstätigkeiten geraten würden (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Iran: Überwachung von Aktivitäten im Ausland, Exilpolitische Aktivitäten, Konversion vom 5.7.2019).
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Erschwerend und gefahrerhöhend kommt die aktuelle politische Lage im Iran hinzu, die von langandauernden, landesweiten gewaltsamen Protesten und Unruhen sowie drastischen Repressionsmaßnahmen des iranischen Staates geprägt ist. Ein Ende ist nicht abzusehen; vielmehr ist mit einer weiteren Verschärfung zu rechnen.
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Laut Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen belaufen sich die Anzahl der Todesopfer, bei denen seit Ende September 2022 andauernden Protesten, auf mehr als 300 Personen in 22 Provinzen, darunter ca. 40 Minderjährige. Tausende Demonstrierende sind nach diesen Erkenntnissen bisher verhaftet worden. Mehr als 2.000 Personen sind laut Medienberichten angeklagt. Die Parlamentsabgeordneten haben an die Justiz appelliert, schwere Strafen für Inhaftierte zu verhängen. Es kommt wiederholt zum Schusswaffeneinsatz mit tödlichen Folgen. Darüber hinaus sind die sozialen Medien sowie die Internet-Bedingungen landesweit eingeschränkt (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 7.11.2022 und 31.10.2022).
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Aktuellen Medienberichten in Deutschland ist zu entnehmen, dass seit Beginn der landesweiten Proteste, schon allein nach offiziellen Angaben, mehr als tausend Personen angeklagt worden sind. Fast 15.000 Menschen sind festgenommen worden, denen schwere Strafen drohen, um einen abschreckenden Effekt zu erzielen. Bei den seit Mitte September anhaltenden Protesten sind mindestens 318 Menschen getötet worden, darunter 49 Minderjährige und 38 Einsatzkräfte. Mit scharfer Munition wird direkt in Menschenmengen geschossen, teilweise auch mit kleinen Metallgeschossen, die wie Schrot zersplittern. Ärzte, die Verletzte behandeln wollen, werden daran gehindert und sind selbst von Repressalien bedroht. Selbst wer nicht direkt an den Demonstrationen teilnimmt, sondern sich selbst nur solidarisch erklärt oder die Gewalt des Staates verurteilt, gerät ins Visier des Regimes. Mehr als 14.000 Personen sind festgenommene worden; nicht alle davon sind selbst auf der Straße gewesen. Verhaftete werden im Staatsfernsehen öffentlich vorgeführt und vorverurteilt. Verschiedene Vorwürfe, wie etwa Krieg gegen Gott oder Korruption auf Erden, werden erhoben, auf denen in der islamischen Republik Iran die Todesstrafe steht. Die iranische Justiz wirft den Demonstranten subversive Aktivitäten vor, wie Angriffe auf die Sicherheitskräfte oder öffentliche Gebäude (vgl. Zeit-Online, Bereits mindestens tausend iranische Demonstranten angeklagt, vom 8.11.2022, tagesschau.de., Droht Protestteilnehmern die Todesstrafe? vom 7.11.2022; NZZ, Irans Regime droht seinen Gegnern mit der Todesstrafe vom 3.11.2022; FAZ, 1.000 Demonstranten im Teheran angeklagt vom 1.11.2022).
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Nach dem Auswärtigen Amt droht selbst deutschen Staatsangehörigen bzw. Doppelstaatlern die konkrete Gefahr, willkürlich festgenommen, verhört und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. In jüngster Zeit kam es zu einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen auch ausländischer Staatsangehöriger. Seit dem 18. September 2022 kommt es nach dem Tod einer jungen Iranerin nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei in der Hauptstadt Teheran sowie in vielen weiteren Landesteilen zu Protesten und Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Polizei und Sicherheitskräfte gehen gewaltsam gegen Demonstrierende vor, es gibt Tote und Verletzte. Im räumlichen Umfeld von Demonstrationen kommt es zu willkürlichen Verhaftungen auch unbeteiligter ausländischer Staatsangehöriger. Es sind weitgehende Einschränkungen der Kommunikationsdienste zu beobachten (insbesondere mobiles Internet, Instagram, WhatsApp, VBNs) und weiter zu erwarten. Selbst Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt willkürlich aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden. Strafrechtliche Vorschriften sind häufig so vage formuliert, dass eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen erfasst werden kann, ohne dass dies dem Betroffenen vorher deutlich sein muss. Die Rechtsprechung ist mitunter eindeutig politisch motiviert. Aufgrund im Iran weit ausgelegter Begriffe, wie zum Beispiel „nationale Sicherheit“, „Spionage“, „Terrorismus“ oder so genannter „Korruption auf Erden“ können zum Beispiel bloße Äußerungen, das Teilen, Kommentieren oder Liken von Beiträgen in sozialen Medien, aber auch persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher oder Notizen für eine Strafverfolgung ausreichen. Es kommt oft ohne nachvollziehbare Gründe zu Verhören und/oder Verhaftungen. Auch Familienangehörige von Inhaftierten werden regelmäßig unter Druck gesetzt. Auch in Deutschland getätigte Meinungsäußerungen und Handlungen können im Iran als regierungskritisch wahrgenommen werden und deshalb zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. Gleiches gilt für regierungskritische Äußerungen im Internet bzw. das bloße Teilen oder Liken eines fremden Beitrags. Vor Reisen nach Iran wird gewarnt. Personen, die sich beabsichtigt oder zufällig am Umfeld von Demonstrationen aufhalten, droht die Festnahme und Verurteilung (Auswärtiges Amt Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, Reisewarnung, Stand: 7.11.2022, unverändert gültig seit 3.11.2022).
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Nach dieser Erkenntnislage wirken dir aktuellen landesweiten Unruhen und Proteste im Iran sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat bei einer Rückkehr gefahrerhöhend jedenfalls, wenn die asylsuchende Person schon zuvor wegen ihres Vorfluchtverhaltens und/oder wegen ihres Verhaltens im Ausland im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden stand und steht.
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Ausgehend von der gegebenen Bedrohungs- und Gefährdungslage muss der Kläger nach den Umständen seines Einzelfalles, die er glaubhaft dargelegt hat, bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politisch motivierter Verfolgung rechnen.
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Der Kläger hat in den beiden Terminen zur mündlichen Verhandlung am 4. Oktober 2021 und am 7. November 2022 glaubhaft die Geschehnisse geschildert, die zu seiner Verhaftung und Inhaftierung sowie die erlittene Folter geführt haben. Der Kläger schilderte im Einzelnen und detailliert, dass er sechs Tage im Gefängnis gewesen sei. Es sei eher wie ein Haus gewesen. Seine Augen seien verbunden gewesen. Er habe auch einmal einen langen Korridor sehen können. Es sei wie ein normales Haus gewesen.
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Der Kläger beschrieb des Weiteren detailliert und bildhaft die Einzelzelle, in der er eingesperrt gewesen sei. Er sei in einem Zimmer gewesen mit 3 m auf 4 m mit einer hohen Decke und einem kleinen Fenster. Es sei ein kleines Fenster ziemlich hoch oben gewesen. Er habe es nicht erreichen können. Die Zelle sei gefliest gewesen. Ab und zu habe man ihm einen Eimer Wasser gereicht. Mit dem habe er sich gereinigt. Den Eimer habe er auch für den Toilettengang benutzt. Er habe quasi sein Geschäft in den Eimer verrichtet, damit die Wärter die Notdurft hätten abholen können. Ansonsten sei keine Toilette vorhanden gewesen. Die Wärter seien in Zivil gekleidet gewesen. Das Gesicht sei verdeckt gewesen. Es habe ein Licht gegeben, das manchmal ausgeschaltet gewesen sei. Einen Schalter in der Zelle selbst habe es nicht gegeben. Durch das Fenster sei Licht eingefallen. In der Zelle sei kein Bett gewesen, sondern ein Stück Teppich, auf dem er geschlafen habe. Er sei an den Händen gefesselt gewesen, wobei man ihm beim Essen die Fesseln abgenommen habe. Es sei ein Stück Brot gewesen, das sie einfach dagelassen hätten, dann seien sie wieder weg. In der Zelle habe es aber keine Fesseln gegeben, sondern nur, wenn er zum Verhör abgeholt worden sei, seien seine Hände gefesselt worden. Bei der Rückkehr seien die Fesseln wieder abgenommen worden.
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Der Kläger beschrieb weiter konkret die Räumlichkeiten im Verhörzimmer. Er habe im Verhörzimmer auf eine Glasscheibe geschaut. Jemand habe neben ihm gestanden und jemand habe vor ihm, hinter einem Tisch, gesessen. Die Scheibe, auf die er geschaut habe, sei wie ein Spiegel gewesen. Wie ein Büro habe der Raum nicht ausgesehen, aber ein Tisch sei dort gewesen.
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Der Kläger schilderte ebenfalls detailliert und anschaulich die Verhörsituation. Seine Aussagen seien aufgezeichnet worden. Man habe ihm gesagt, dass alle Angaben aufgezeichnet würden. Man habe ihn nach der Demonstration befragt. Man habe ihm einige Namen genannt und gefragt, ob ihn diese Personen bekannt seien. Diese seien ihm aber nicht bekannt gewesen. Er habe die Teilnehmer der Demonstrationen nicht gekannt. Aber sie hätten ihn unter Druck gesetzt. Er habe unterschreiben müssen. Er habe unterschreiben müssen, dass er Sachbeschädigungen begangen und an Demonstrationen teilgenommen habe. Weiter habe er bestätigen müssen, dass ihm völlig unbekannte Personen dabei gewesen seien. Das Vorgesagte habe er selbst schreiben und mit einem Fingerabdruck bestätigen müssen. Dies sei ihm alles diktiert worden.
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Der Kläger schilderte weiter detailliert und emotional stark erregt, wie von den im Gerichtssaal Anwesenden zu bemerken war, auch mit Tränen in den Augen, seine Folter. Er sei öfters schikaniert worden. Einmal sei er abgeholt worden. Man habe ihn an Händen und Füßen gefesselt. Man habe ihm einen Gegenstand in den After geschoben. Er habe danach geblutet und habe einige Tage nicht auf die Toilette gehen können. Es sei öfters passiert, zwei bis drei Mal am Tag. Außerdem habe er Ohrfeigen bekommen, teilweise so stark, dass er einmal aus dem Ohr geblutet habe. Er habe die Leute nicht sehen können. Einer habe zum anderen gesagt, man solle ihn aufziehen (wie eine Uhr), das habe bedeutet, er solle durch körperliche Gewaltanwendung zum Reden gezwungen werden. Bei der Folter sei er in einem dritten Raum gewesen. Er sei entkleidet worden. Die Hände und Füße seien gebunden gewesen. Gelegentlich sei er an einer Stange befestigt gewesen und gelegentlich habe er sich hinlegen müssen. Er sei entkleidet worden, als man ihm etwas in den After geschoben habe.
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Er habe am Ohr eine Narbe, die genäht worden sei. Er habe seine Verletzung am Hinterteil selbst behandelt. Er habe sich in Deutschland auch dafür Medikamente besorgt, auch Zäpfchen. Aktuell sei er deswegen nicht behandlungsbedürftig, wie ein Arzt bestätigt habe. Er habe aber im Iran stark geblutet. Die Verletzung habe durch die Hose durchgeblutet. Später sei auch Blut im Stuhl gewesen. Mittlerweile blute es nicht mehr, aber er habe ein starkes Brennen nach dem Stuhlgang.
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Er habe nicht sehen können, was ihm in den After gesteckt worden sei. Er habe nur gemerkt, dass die Schmerzen beim Einführen nicht so groß gewesen seien wie beim Herausholen. Er sei wegen seiner Verletzung in Deutschland nicht in ärztliche Behandlung gegangen, weil er nicht darüber habe reden wollen. Aber heute - in der mündlichen Verhandlung - sei er dazu gezwungen gewesen, etwas zu sagen. Er sei mehr als zwei Mal gefoltert worden, aber genau könne er es nicht sagen, er sei manchmal einmal am Tag gefoltert worden und manchmal zweimal am Tag. Er sei aber nicht jedes Mal mit diesem Gegenstand im After gefoltert worden. Sie hätten bei der Folter auch andere Methoden gehabt, die keine Spuren hinterlassen hätten. Es gebe auch andere Foltermethoden als körperliche Gewalt.
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Der Kläger beschrieb weiter eindrucksvoll seine psychische Situation und seine Gefühlslage. Die ganze Situation belaste ihn bis heute. Er habe deswegen psychische Probleme. Er könne schlecht schlafen und habe Albträume. Er habe nur sein Leben retten wollen. Er habe Schreie der anderen gehört, die offensichtlich auch gefoltert worden seien. Auch er habe geschrien. Während seiner Inhaftierung habe er sehr viele Geräusche und Schreie hören können. Er könne aber nicht sagen, woher sie gekommen seien und ob es verschiedene Personen gewesen seien.
44
Der Kläger gab weiter an, dass er Depressionen habe, auch wenn er aktuell nicht in ärztlicher Behandlung sei. Er könne zwar seiner Arbeit nachgehen, aber auch die aktuelle Lage mache ihn depressiv.
45
Auf Widersprüchlichkeiten in seinen Aussagen zu einzelnen Details im Zusammenhang mit der Folter angesprochen, erklärte der Kläger wiederholt, er habe damals bei seiner Bundesamtsanhörung unter Strom gestanden. Er sei bei der Anhörung beim Bundesamt im Stress gewesen. Er habe sowohl beim Bundesamt als auch beim Gericht alles so gesagt, wie es wirklich gewesen sei. Es könne aber sein, dass er bei der Bundesamtsanhörung aufgrund der Stresssituation nicht alles richtig rübergebracht habe. Wenn der Begriff Folter genannt werde, dann komme bei ihm die Erinnerung. Es komme hoch und er habe Stress. Es könne deshalb sein, dass er etwas Anderes geantwortet habe. Unter der Erinnerung leide er immer noch. Dies quäle ihn immer noch. Es gehe nicht weg.
46
Insofern ist dem Kläger zugute zu halten, dass bei dramatischen und traumatisierenden Ereignissen, wie den von ihm geschilderten, die Erinnerung bewusst oder unbewusst auch Verdrängungseffekten unterliegen und insofern getrübt sein kann.
47
Der Kläger beschrieb weiter, dass er überrascht gewesen sei, dass die Freilassung gekommen sei. Bei der Freilassung habe er ein Dokument unterschreiben müssen, dass er an Demonstrationen teilgenommen habe, dass er Banken und andere Sachen beschädigt habe und dass er aus dem Ausland zurückgekommen sei, um Demonstrationen anzuführen. Er sei auch nach anderen Teilnehmern befragt worden und habe entsprechende Erklärungen unterschreiben müssen. Man habe ihm gesagt er stünde unter Beobachtung und könne jederzeit wieder festgenommen werden.
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Während seiner Inhaftierung seien zivilgekleidete Personen zu seinen Eltern gekommen und hätten eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Unterlagen hätten sie nicht vorgezeigt nur ein Ausweis. Man habe Drohungen bei seinen Eltern ausgesprochen.
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Die Sicherheitskräfte hätten auch nach seiner Flucht seine Eltern unter Druck gesetzt, um ihn zur Rückkehr zu veranlassen. Zurzeit sei es aufgrund der Unruhen im Iran und der eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten schwer, mit seiner Familie Kontakt aufzunehmen, weil der iranische Staat Internet und Telefon blockiere. Vor einem Jahr habe er bei seinen Eltern in Erfahrung bringen wollen, ob er noch verfolgt werde. Vor einem Jahr hätten seine Eltern ausdrücklich gesagt, dass die Lage für ihn nicht gut sei und er weiterverfolgt würde. Der Sicherheitsdienst habe nach ihm gefragt. Danach hätten seine Eltern entsprechende Informationen nur indirekt angedeutet. Auch mit seiner Schwester würde er sich nicht über Einzelheiten unterhalten. Sowohl die Schwester als auch die Mutter hätten ihm gesagt, dass sie unter Beobachtung stünden und dass er bei einer Rückkehr getötet würde. Sie kämen deshalb darauf, weil viele Teilnehmer an der damaligen Demonstration seit dieser Zeit unauffindbar verschwunden seien.
50
Nach alledem bestehen nach Überzeugung des Gerichts keine Zweifel, dass der Kläger aus politischen Gründen bereits im Iran in den Fokus der iranischen Behörden geraten ist und ernsthafte Repressalien erlitten hat, weil er aus Sicht der iranischen Behörden als Regimegegner eingestuft wurde und wird.
51
Insoweit ist anzumerken, dass - wie auch den oben zitierten Auskünften und Erkenntnissen zur Verfolgung von tatsächlichen oder vermeintlichen Regimegegnern zu entnehmen ist - nicht darauf abzustellen, dass der Betreffende tatsächlich bei einer oppositionellen Institution beteiligt war oder sich selbst als Regimegegner einstuft, sondern vielmehr darauf, was die iranischen Sicherheitskräfte annehmen und ob bei diesen aus ihrer Sicht ein mögliches Verfolgungsinteresse wegen des Hineinwirkens des Betreffenden in den Iran besteht. Letzteres ist beim Kläger aufgrund seiner glaubhaften Angaben zu bejahen. Der Vorwurf der iranischen Sicherheitskräfte bezog sich darauf, dass der Kläger im November 2019 an Demonstrationen teilgenommen hat sowie dass er an Sachbeschädigungen beteiligt gewesen sei. Außerdem habe man ihm vorgeworfen, dass er bereits zwei Mal in Deutschland und Frankreich gewesen sei.
52
Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff das politische System empfunden werden oder islamische Grundsätze in Frage stellen (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 23.12.2021, vom 16. Februar 2022, S. 7). Solche Aktivitäten wurden und werden dem Kläger gerade vorgeworfen. Insbesondere auch aufgrund der aktuellen Lage im Iran, die plastisch auch in der zitierten aktuellen Reisewarnung des Auswärtigen Amtes deutlich wird, droht dem Kläger sowohl aufgrund der Vorkommnisse im Iran als auch aufgrund seiner früheren Auslandsaufenthalte und des aktuellen Aufenthalts in Deutschland der Vorwurf, ein Regimegegner zu sein und unter westlichem Einfluss zu stehen. Letztere Umstände wirken gefahrerhöhend und begründen zusätzlich die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus politischen Gründen bei einer erneuten Rückkehr in den Iran.
53
Bei einer eventuellen Rückkehr in den Iran müsste der Kläger unter Gesamtwürdigung aller Umstände erneut mit Verfolgungsmaßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechnen. Das Gericht hat keinen Zweifel, dass es schon in der Vergangenheit im Iran zu Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger gekommen ist und dass seitens des iranischen Staates weiterhin ein Verfolgungsinteresse gegen den Kläger besteht. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran seitens staatlicher Stellen weiter eine regimefeindliche politische Gesinnung unterstellt bzw. vorgeworfen würde, verbunden mit der Befürchtung, der Kläger werde sich weiter regime- und islamkritisch verhalten, und dass sich entsprechende staatliche Verfolgungsmaßnahmen hieran anknüpfen würden.
54
Nach alledem ist dem Kläger unter Aufhebung der ihn betreffenden Antragsablehnung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Infolgedessen besteht kein Anlass für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Nrn. 3 und 4 des Bescheides des Bundesamtes ebenfalls aufzuheben waren (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG „oder“ und § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Über die hilfsweise gestellten Anträge, insbesondere zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG), war nicht zu entscheiden.
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Des Weiteren sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und die Ausreiseaufforderung samt Ausreisefristbestimmung (Nr. 5 des Bundesamtsbescheids) rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren - wenn auch noch nicht rechtskräftig - festgestellt.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.