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VG München, Urteil v. 12.07.2022 – M 32 K 21.32120
Titel:

Asyl Herkunftsland, Nigeria, Verfahren nach der Dublin III-VO (hier Zielstaat, Italien), Keine analoge Anwendbarkeit von Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO auf im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nachgeborene Kinder von Eltern, die zuvor bereits in einem anderen Mitgliedstaat der EU internationalen Schutz erhalten haben, Keine analoge Anwendbarkeit von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU auf einen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag eines Minderjährigen auf internationalen Schutz, wenn nicht der Minderjährige selbst, sondern seine Eltern in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen, Aufhebung Bescheid des BAMF

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a)
Dublin III-VO Art. 20 Abs. 3
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Buchst. a)
Schlagworte:
Asyl Herkunftsland, Nigeria, Verfahren nach der Dublin III-VO (hier Zielstaat, Italien), Keine analoge Anwendbarkeit von Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO auf im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nachgeborene Kinder von Eltern, die zuvor bereits in einem anderen Mitgliedstaat der EU internationalen Schutz erhalten haben, Keine analoge Anwendbarkeit von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU auf einen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag eines Minderjährigen auf internationalen Schutz, wenn nicht der Minderjährige selbst, sondern seine Eltern in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen, Aufhebung Bescheid des BAMF
Fundstelle:
BeckRS 2022, 34346

Tenor

I.Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 6. November 2017 wird aufgehoben.
II.Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Tatbestand

1
Der Kläger ist ein am 19. März 2013 in Paris (Frankreich) nachgeborener Sohn nigerianischer Eltern. Diese stellten für ihn am 24. Juni 2016 in Deutschland Asylantrag.
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In ihrer Erstbefragung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 24. Juni 2016 trug die Mutter des Klägers vor, sie habe Nigeria ca. im Februar 2009 verlassen und sei über Niger nach Libyen gereist, wo sie zwei Jahre gelebt habe. Dann sei sie nach Italien gereist, wo sie ebenfalls zwei Jahre gelebt habe. Im Jahr 2011 habe sie in Italien internationalen Schutz zugesprochen erhalten. Dann sei sie für drei Monate nach Frankreich gereist, dann wieder zurück für zwei Jahre nach Italien. Dann sei sie am 10. August 2015 nach Deutschland eingereist. In seiner Erstbefragung vor dem Bundesamt am 1. Juli 2016 trug der Vater des Klägers vor, dass er mit seiner schwangeren Frau von Italien nach Frankreich gegangen sei, damit seine Frau dort ihr Kind bekommen könne; in Italien sei es dazu für sie zu schwer gewesen. Aber in Frankreich sei es auch nicht gut gewesen, so dass man beschlossen habe, wieder nach Italien zurückzukehren. Auf dem Weg dorthin sei der Zug an der Schweizer Grenze kontrolliert worden. Sie seien von den Schweizer Beamten beanstandet worden, und hätten sich in der Schweiz für anderthalb Monate aufgehalten; dort hätten sie auch Asylantrag gestellt. Nach einem Aktenvermerk des Bundesamts vom 20. September 2016 (siehe Bundesamtsakte) hat die Mutter des Klägers in Italien subsidiären Schutzstatus zugesprochen erhalten, beim Ehemann liege lediglich eine italienische Aufenthaltsgestattung aus humanitären Gründen vor. Die Zuständigkeit für die Bearbeitung seines in Deutschland gestellten Asylantrags sei nach den Regelungen der Dublin III-VO inzwischen auf Deutschland übergegangen.
3
Am 21. November 2015 wurde in München der Sohn R. P. alias Rubies Bethel der Eltern des Klägers geboren. Für diesen stellten die Eltern ebenfalls Asylantrag. In der Anhörung vor dem Bundesamt am 24. Oktober 2017 wurde die Mutter des Klägers zu den Asylgründen ihrer Söhne befragt; darauf wird verwiesen.
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Mit Bescheid vom 6. November 2017 lehnte das Bundesamt die Asylanträge des Klägers und des weiteren Sohnes R. P. bzw. Rubies Bethel als unzulässig ab und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Italiens. Der Kläger und sein Bruder wurden aufgefordert, Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen; im Falle der Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Sollte die Ausreisfrist nicht eingehalten werden, würden der Kläger und sein Bruder unter Begleitung ihrer Eltern primär nach Italien abgeschoben. Eine Abschiebung nach Nigeria wurde dabei ausgeschlossen. In der Begründung des Bescheides wird ausgeführt, dass die Unzulässigkeitsentscheidung auf der Rechtsgrundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG und des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG beruhe. Die Rechtsgrundlage sei gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO anwendbar. Nach dieser Vorschrift sei für Kinder, die in einem Mitgliedstaat der EU geboren werden, die Frage der Zuständigkeit für die Bearbeitung ihrer Asylanträge untrennbar mit der Situation ihrer Familienangehörigen, also hier ihrer Eltern, verbunden. Die Mitgliedstaaten würden zwar die Dublin III-VO auf Ausländer, die in einem Mitgliedstaat bereits internationalen Schutz erhalten hätten, nicht mehr anwenden. Nach Auffassung einer Reihe von Verwaltungsgerichten sei aber für den Asylantrag von Kindern gleichwohl der Mitgliedstaat zuständig, der für das Asylverfahren der Eltern zuständig war und diesen internationalen Schutz zuerkannt habe. Dies entspreche auch dem im Erwägungsgrund 15 der Dublin III-VO verankerten Grundsatz der Familieneinheit. Die Abschiebungsandrohung wurde auf § 34a Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 38 Abs. 1 AsylG gestützt.
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Gegen diesen Bescheid erhob der Bevollmächtigte des Klägers und seines Bruders mit Fax vom 20. November 2017 Klage zum Verwaltungsgericht München (22. Kammer, Az. M 22 K 17.53459. Die 22. Kammer erachtete am 28.9.2021 das Verfahren als kein Dublin-Verfahren, für das die 22. Kammer zuständig wäre, sondern als Drittstaatenfall Herkunftsland Nigeria und gab das Verfahren an die dafür zuständige 32. Kammer ab; das Verfahren erhielt das Az. M 32 K 21.32120). Die Klage wurde nicht begründet.
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Mit Schriftsatz vom 17. März 2021, welcher im Schriftsatz vom 19. März 2021 und vom 23. März 2021 erläutert wurde, hob das Bundesamt den streitgegenständlichen Bescheid im Hinblick auf den in München geborenen Bruder Rubies Pascal bzw. Rubies Bethel des Klägers auf; in Ansehung des Klägers wurde der Bescheid aufrechterhalten. Zur Begründung verwies das Bundesamt auf die zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 23.6.2020 - BVerwG 1 C 37.19 - juris). Dieses Urteil betreffe aber nur in Deutschland, nicht in einem anderen Mitgliedstaat der EU nachgeborene Kinder, weswegen der Bescheid in Ansehung des in Frankreich geborenen Klägers aufrechterhalten bleiben müsse.
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Mit Beschluss vom 4. Januar 2022 trennte das Gericht vom Verfahren die den Bruder des Klägers betreffende Klage unter dem Az. M 32 K 22.30036 ab und stellte das abgetrennte Verfahren auf der Basis übereinstimmender Hauptsacheerledigungserklärungen der Parteien ein.
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Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte, insbesondere auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 12. Juli 2022, verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat Erfolg.
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Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Zu Unrecht lehnt der Bescheid den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und verwehrt ihm damit sein Recht auf sachliche Prüfung und Entscheidung seines Asylantrags.
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1. Die Unzulässigkeitsentscheidung im Bescheid kann sich nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG als Rechtsgrundlage stützen.
13
Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig - und ist demgemäß der Asylantrag als unzulässig abzulehnen -, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
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Die Voraussetzungen der Norm liegen nicht vor. Denn für den in Deutschland gestellten Asylantrag des Klägers ist nach den Regelungen der Dublin III-VO Deutschland und kein anderer Mitgliedstaat der EU zuständig. Das ergibt sich aus Folgendem.
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Nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO wird ein Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt, von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Lässt sich anhand der Kriterien der Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde - hier nach Aktenlage Deutschland -, für dessen Prüfung zuständig, Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO.
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Wie den umfangreichen Ausführungen des OVG Schleswig in seinem Urteil vom 7. November 2019 (1 LB 5/19, juris Rn. 22-33; siehe dazu BVerwG, U.v. 23.6.2020 - 1 C 37.19 - juris) in einem gleichgelagerten Fall zu entnehmen ist, folgt eine Zuständigkeit Italiens nicht aus den Kriterien nach Art. 8, 9,10 und 11 des Kapitels III der Dublin III-VO, auch nicht aus den Tatbeständen nach Art. 16 und 17 des Kapitels IV der Dublin III-VO.
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Die Zuständigkeit Italiens ergibt sich auch nicht aus Art. 20 Abs. 3 des Kapitels VI der Dublin III-VO, und zwar weder in direkter, noch in erweiterter noch in analoger Anwendung (OVG Schleswig a.a.O., juris Rn. 33-66). Das BVerwG a.a.O. hat auf der Grundlage einer Fallgestaltung, bei der das nachgeborene Kind in Deutschland geboren wurde, zur Frage der analogen Anwendung des § 20 Abs. 3 Dublin III-VO im amtlichen Leitsatz 1 und 2 seiner Entscheidung folgendes ausgeführt:
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Leitsatz: 1:
19
„Art. 20 Abs. 3 Satz 1 und 2 Dublin III-VO, wonach die Situation von Kindern eines Asylantragstellers, die nach dessen Ankunft im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, untrennbar mit der Situation dieses Elternteils auf internationalen Schutz zuständig ist, kann auf den Asylantrag eines im Bundesgebiet nachgeborenen Kindes, dessen Eltern zuvor bereits in einem anderen Mitgliedstaat der EU internationalen Schutz erhalten haben, jedenfalls nicht in der Weise analog angewendet werden, dass es in dieser Fallkonstellation auch nicht der Einleitung eines eigenen Zuständigkeitsverfahrens für das Kind gemäß Art. 20 Abs. 3 Satz 2 letzter Halbsatz Dublin III-VO bedarf“
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Leitsatz: 2:
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„Der Mitgliedstaat, in dem ein nachgeborenes Kind seinen Asylantrag gestellt hat, ist deshalb jedenfalls dann für dessen Prüfung zuständig, wenn er den Mitgliedstaat, der den Eltern internationalen Schutz gewährt hat, nicht binnen der in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO genannten Fristen um die Aufnahme des Kindes ersucht hat (vgl. Art. 21 Abs. 3 Dublin III-VO)“
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Nach dieser Rechtsprechung des BVerwG a.a.O. wäre für den Antrag des Klägers, falls dieser nicht in Frankreich, sondern in Deutschland geboren wäre, Deutschland und nicht Italien der nach der Dublin III-VO zuständige Mitgliedstaat der EU, da nach Aktenlage die Fristen für ein Aufnahmegesuch längst abgelaufen wären. Die Ausführungen des BVerwG a.a.O. hängen aber, wie sich aus einer Analyse des Urteils ergibt, nicht von der Geburt eines Antragstellers gerade in Deutschland ab, sondern lassen sich zwanglos auf ein in irgendeinem anderen Mitgliedstaat der EU nachgeborenes Kind übertragen (so auch VG Stuttgart, U.v. 29.1.2021 - A 7 K 11804/18 - juris: „in einem anderen Mitgliedstaat oder erst in Deutschland geborene Kinder“; siehe auch EuGH, U.v. 1.8.2022 - C-720/20 - juris). Das erkennende Gericht bejaht deshalb die Nichtanwendbarkeit von § 20 Abs. 3 Dublin III-VO auch für die vorliegende Fallgestaltung eines nicht in Deutschland, sondern in einem anderen Mitgliedstaat der EU nachgeborenen Kindes und damit die Nichteinschlägigkeit von § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG.
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2. Die Unzulässigkeitsentscheidung im Bescheid kann sich auch nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als Rechtsgrundlage stützen.
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Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig - und ist demgemäß der Asylantrag als unzulässig abzulehnen -, wenn ein anderer Mitgliedstaat der EU dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat.
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Die Voraussetzungen der Norm liegen nicht vor.
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Eine direkte Anwendung der Norm scheitert, weil „dem Ausländer“, also hier dem Kläger, unstreitig kein internationaler Schutz in Italien oder in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland gewährt worden ist. Entsprechend dem genannten Urteil des BVerwG a.a.O. kann die Regelung nicht deshalb auf den Kläger analog angewandt werden, weil seine Eltern Begünstigte internationalen Schutzes sind (BVerwG a.a.O., juris Rn. 22). Das BVerwG verweist dabei auf mehrere Urteile des Europäischen Gerichtshofs, in denen der EuGH mehrfach betont, dass Art. 33 Abs. 2 der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013 - die Vorschrift wurde durch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in das nationale Recht umgesetzt - die Situationen, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können, abschließend aufzähle. Das bedeute, dass eine analoge Anwendung der Umsetzungsnorm der Asylverfahrensrichtlinie widersprechen würde. Der EuGH hat nunmehr in seinem bereits genannten Urteil vom 1. August 2022 entschieden, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der Asylverfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er auf einen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag eines Minderjährigen auf internationalen Schutz nicht analog anwendbar ist, wenn nicht der Minderjährige selbst, sondern seine Eltern in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen (EuGH a.a.O. juris Rn. 56).
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3. Da sich die Unzulässigkeitsentscheidung im Bescheid als rechtswidrig erweist, war diese, aber auch die weiteren Folgeentscheidungen im Bescheid, also der Bescheid zur Gänze, aufzuheben (siehe BVerwG a.a.O., juris Rn. 23, und VG Stuttgart a.a.O., juris Rn. 17). Die Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung hat zur Folge, dass das Bundesamt - auch ohne Ausspruch einer Verpflichtung hierzu - das Asylverfahren des Klägers fortzuführen und eine Sachentscheidung zu treffen hat (VG Stuttgart a.a.O., Rn. 17 mwH).
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4. Als Unterlegene hat die Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen, § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.